Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius will mehr Menschen für die Bundeswehr gewinnen. Per Fragebogen sollen Dienstfähigkeit und Bereitschaft ermittelt werden. Gleichzeitig hat die Diskussion um eine allgemeine Dienstpflicht wieder Fahrt aufgenommen.
Das Stimmungsbild ist schon ziemlich eindeutig. Eine Mehrheit der Deutschen spricht sich für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus. Unterschiedliche Umfragen bringen seit geraumer Zeit ein relativ konstantes Meinungsbild zutage: Mehr als die Hälfte ist dafür, ein gutes Drittel dagegen. Mehrheitlich dagegen sind übrigens jüngere Menschen, also die, die dann direkt betroffen wären. Eine ganz große Einigkeit besteht in der Frage, dass bei einer Wiedereinführung Gleichberechtigung herrschen müsste. Dreiviertel der Befragten sagen, wenn schon Dienst, dann gleichermaßen für Männer und Frauen.
Kein Zurück zur alten Wehrpflicht
Die Frage nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht ist allerdings hypothetisch. Das alte System wie vor 2011 wieder aufleben zu lassen, steht zumindest derzeit nicht zur Debatte. Seit einigen Jahren wird allerdings immer mal wieder über eine allgemeine Dienstpflicht diskutiert.
Beim aktuellen Vorschlag von Verteidigungsminister Pistorius geht es zunächst einmal darum, neue Grundlagen bei der Erfassung zu schaffen und in einem ersten Schritt 5.000 zusätzliche Menschen für die Truppe zu rekrutieren. Der Minister selbst spricht von einem „neuen Modell“, das mit der altbekannten Wehrpflicht nicht wirklich viel zu tun hat.
Vor jetzt genau 13 Jahren, im Juli 2011, wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Unter dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) wurde 55 Jahre nach ihrer Gründung die Bundeswehr de facto zur Berufsarmee.
Seither sind immer wieder Diskussionen aufgeflackert, ob die Aussetzung eine gute Idee gewesen ist und eine Wiederaufnahme – aus unterschiedlichen Gründen – sinnvoll sein könnte. Der rechtliche Rahmen dafür besteht nach wie vor und ist im Artikel 12a des Grundgesetzes beschrieben. Dieser Artikel müsste eigentlich nur an einer Stelle auf die aktuelle Zeit angepasst werden. Derzeit ist im ersten Satz nur die Rede von Männern. „Hier sollte man Gleichberechtigung herstellen“, forderte auch Deutschlands ranghöchster Soldat, Generalinspekteur Carsten Breuer.
Was Verteidigungsminister Pistorius jetzt vorgelegt hat, ist zunächst einmal nur ein erster Schritt als Vorbereitung, nämlich eine Wehrerfassung. Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht – und des damaligen Zivildienstes – war nämlich auch die Erfassung eingestellt worden. In früheren Zeiten waren alle jungen Männer zur Musterung eingeladen worden. Nun sollen zunächst einmal alle jungen Männer und Frauen einen Fragebogen erhalten, den Männer ab 18 beantworten müssen, für Frauen ist dies freiwillig. Danach will die Bundeswehr die Besten und Motiviertesten zur Musterung einladen, weshalb auch von einem „Auswahlwehrdienst“ gesprochen wird. Der Grundwehrdienst soll dann zwischen sechs und 21 Monate dauern. Dabei soll es einige Anreize geben, etwa, in dieser Zeit den Führerschein machen zu können. Der Minister betont selbst, dass dieses Modell keine Rückkehr zum allgemeinen Grundwehrdienst wie vor 2011 sein wird.
Für Pistorius ist die Vorlage ein weiterer Baustein auf dem Weg, dessen Ziel er mit dem Schlagwort „Kriegstüchtigkeit“ beschrieben hat. Eine Wortwahl, die viele aufgeschreckt und irritiert hat, was aber auch der Zweck sein sollte, um den Ernst der veränderten Herausforderungen deutlich zu machen. Es ist allerdings eine vergleichsweise späte Reaktion.
Der Reservistenverband beispielsweise hatte bereits 2015 Überlegungen dazu angestellt – also ein Jahr nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und der Invasion „grüner Männchen“ in ostukrainischen Separatistengebieten.
So recht ging es aber mit solchen Vorschlägen nicht voran. Vermutlich auch deshalb, weil sich lange kaum jemand vorstellen wollte, dass ein imperiales Russland unter dem Autokraten Putin mit einer Vollinvasion in die Ukraine einmarschieren würde.
Die berühmte „Zeitenwende“ zwingt zum Umdenken. Und dass sich Europa und damit auch Deutschland vor dem Hintergrund der Entwicklungen in den USA neu aufstellen muss, braucht nicht ein weiteres Mal betont zu werden.
Die Wehrbeauftragte Eva Högl verwendet, wie viele andere, statt dem polarisierenden „kriegstüchtig“ lieber das Wort „verteidigungsbereit“, aber auch sie ist in der Sache unmissverständlich klar, wenn sie kürzlich in einem „Stern“-Interview erklärte: „Wir müssen unseren Frieden und unsere Freiheit auch militärisch verteidigen. Das gebietet das Prinzip der Abschreckung. Ein Land, welches auf einen Angriff mit einer hervorragend ausgebildeten und ausgestatteten Armee antworten kann, schreckt auch potenzielle Aggressoren ab. Diese Wahrheit sollten wir nicht mit Sprachkritik verwässern.“
Sie äußert dabei große Sympathie für das sogenannte schwedische Modell: „Freiwilligkeit ist wichtig, aber es braucht perspektivisch auch eine Verpflichtung. Allen muss deutlich werden: Jeder und jede in unserer Gesellschaft muss einen Beitrag leisten. Das schwedische Modell ist da vorbildhaft. Alle sind wehrpflichtig, aber es wird nicht ein ganzer Jahrgang eingezogen. Sondern nur ein Teil aus dem Pool jener, die sich freiwillig für den Wehrdienst melden.“
Womit die Diskussion wieder bei „Pflicht“ und „allgemein“ angekommen ist. Högl verweist darauf, dass junge Menschen zwar, wie dargestellt, mehrheitlich gegen eine Wehrpflicht sind, sich aber ebenso mehrheitlich ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr vorstellen können.
Bei einer Umfrage für den NDR wurde zu Beginn des Jahres auch gefragt, warum Menschen die Wehrpflicht befürworten. Die meisten meinten, dass die Verteidigungsbereitschaft erhöht werden müsste. Diese naheliegende Begründung landete mit 53 Prozent aber nur auf Platz zwei. Mit klarem Abstand davor (61 Prozent) wurde als Begründung der „Erfahrungsgewinn für junge Menschen in Bezug auf Verantwortung, Teamfähigkeit und Disziplin“ genannt. Offensichtlich sehen also fast zwei Drittel der Befragten mehr Defizite in unserer Gesellschaft als nur die allseits bekannten bei der Bundeswehr.
„Es braucht eine Verpflichtung“
Das hat auch die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, aufgegriffen. Es sei „nachvollziehbar und überfällig“, dass Bundesminister Pistorius Vorschläge entwickelt, wie angesichts einer völlig veränderten Sicherheitslage die personelle Ausstattung der Bundeswehr nachhaltig gesichert werden kann. „Dabei kann allerdings nicht die ‚Kriegstüchtigkeit‘ Deutschlands im Fokus stehen.“ Überlegungen zur Wiedereinführung von verpflichtenden Elementen bei der Rekrutierung von Wehrdienstleistenden dürften nicht alleinstehen. „Wir brauchen ein integriertes Konzept von Gesellschaftsdiensten in einer Kultur selbstverständlicher Freiwilligkeit.“ Welskop-Deffaa fordert „einen Rechtsanspruch auf einen freiwilligen Gesellschaftsdienst als Beitrag für eine resiliente demokratische Gesellschaft“.
In eine ähnliche Richtung denkt Albrecht Broemme. Der langjährige Präsident des Technischen Hilfswerks und Chef des Think-Tanks Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit kann sich die schrittweise Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht vorstellen. „Der Staat ist für viele Leute weit weg und durch so einen verpflichtenden Dienst würde dieses Entrücken wieder ein Stück zurückgeführt werden auf ein besseres Verhältnis, und das halte ich politisch für einen wichtigen Aspekt.“
Die Wehrbeauftragte Högl hatte im Februar die Idee zu einem „Bürgerrat“ zu einem allgemeinen Dienst geäußert. Bei der Union stieß das jedoch auf Ablehnung. Und Verteidigungsminister Pistorius wird für die Truppe nicht auf lange Beratungen warten können und wollen.
Bürgerräte können und sollen auch politische Entscheidungen nicht ersetzen. Aber wenn es schon um einen allgemeinen Dienst und eine Pflicht geht, scheint ein Bürgerrat durchaus mehr als nur eine Überlegung wert zu sein.