Präsident Emmanuel Macron muss einen radikalen Kurswechsel vornehmen
Am Sonntagabend ging ein Stoßseufzer der Erleichterung durch die meisten Fernsehsender in Europa: „Das Horror-Szenario einer französischen Regierung unter Führung des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) wurde abgewendet“, war der Tenor. Die Linksallianz Le Nouveau Front Populaire (neue Volksfront) aus Linkspopulisten, Sozialisten, Kommunisten und Grünen schaffte es in der zweiten Runde der Parlamentswahl auf Platz eins. Das Parteienbündnis Ensemble (Zusammen) von Präsident Emmanuel Macron landete immerhin noch vor dem RN auf Rang zwei. Die republikanische Brandmauer gegen Rechtsaußen hat gehalten.
Doch diese Interpretation ist kurzsichtig. Die französische Hauptstadtzeitung Le Parisien brachte es auf den Punkt: „Et maintenant, on fait quoi? – „Und was machen wir jetzt?“, lautete die Schlagzeile. Darunter ist ein konsternierter Macron zu sehen, der sich mit dem linken Zeigefinger an die Stirn tippt.
Das Wahlergebnis zieht eine Reihe von Problemen nach sich. Keiner der drei großen Parteienblöcke hat eine absolute Mehrheit. Selbst der Wahlsieger auf dem Papier, die Allianz Le Nouveau Front Populaire, ist tief zerstritten.
Die linkspopulistische La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) ist zwar die größte Gruppierung unter diesem Dach. Doch das radikale Programm ihres umstrittenen Führers Jean-Luc Mélenchon ist nicht kompatibel mit dem der anderen Partner. Eine Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kräften der Sozialisten ist ebenso wenig denkbar wie mit Macrons Ensemble.
Hinzu kommt, dass das Wahlresultat nicht dem Wettstreit um die besten Ideen entspringt. Es ist rein taktischer Natur. In Frankreich gilt das Mehrheitswahlrecht. In der Stichwahl gewinnt der Parlamentskandidat, der in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen hat. Die Stimmen der Verlierer fallen unter den Tisch.
Da die Linksallianz Le Nouveau Front Populaire und Macrons Ensemble jeweils ihre Kandidaten zurückgezogen haben, wenn der Anwärter des anderen Lagers bessere Chancen hatte, hatten die Bewerber des RN oft das Nachsehen. Man muss beiden Parteien vorwerfen, dass sie vor allem durch die Verhinderung des RN zusammengeschweißt wurden, aber kein positives politisches Konzept vorgelegt haben.
Die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit wird zudem erschwert, weil es in Frankreich keine Tradition von Parteienkoalitionen gibt. Die politische Auseinandersetzung ist eher durch Konfrontation geprägt. Das macht die Ernennung eines Premierministers mit der Aussicht auf eine halbwegs stabile Regierung so schwierig.
Der Präsident hat laut französischer Verfassung weitgehende Vollmachten, vor allem in der Außen- und Verteidigungspolitik. Doch für seine Vorhaben braucht er einen Haushalt, der vom Parlament gebilligt wird. Frankreich könnte für die nächsten Jahre unregierbar werden. Das würde den Unmut im Land erhöhen und dem RN weitere Wähler zutreiben.
Macron trägt durchaus Mitschuld am Aufstieg der Rechtspopulisten. Er hat den Vertrauensvorschuss bei seiner Wahl zum Staatschef 2017 nicht genutzt. Zu oft trat er als der kühle Arithmetiker der Macht auf – zuletzt, als er am Abend der Europawahl die Nationalversammlung auflöste und das Wirrwarr anrichtete. Es war eine Mischung aus Arroganz, Egozentrik und Hybris.
Will der Präsident verhindern, dass sein Land die nächsten Jahre vollends in Chaos stürzt, muss er seinen Kurs radikal ändern. Das beginnt mit dem Politikstil. Macron sollte die Attitüde der Abgehobenheit ablegen und den Dialog mit dem Volk suchen. Zweitens geht es jetzt um eine Politik der sozialen Balance. Der Verlust der Kaufkraft ist das größte Ärgernis der Franzosen. Hier für Ausgleich zu sorgen ist die stärkste Waffe gegen den Rechtspopulismus. Und drittens muss sich Macron ins Zeug legen, eine de-facto-Koalition aus verschiedenen Parteien zu bilden, die von einem gemeinsamen Projekt getragen wird.
Es ist eine Quadratur des Kreises. Gelingt sie Macron, was einem Wunder gleichkäme, kann er Frankreich bis zum Ende seiner Amtszeit 2027 durch die innen- und außenpolitischen Turbulenzen steuern. Scheitert er, wird der RN noch mehr an Zustimmung gewinnen. Bei der Präsidentschaftswahl in knapp drei Jahren hieße es dann: Marine Le Pen ante portas. Es wäre eine Erschütterung für Frankreich – und Europa.