Großbritannien fällt ein vernichtendes Urteil über 14 Jahre Tories: Fünf Premierminister konnten das Ruder nach dem Brexit nicht herumreißen. Und Rechtspopulist Nigel Farage feiert ein triumphales Comeback.
Erdrutsche bewegen sich in der Regel hangabwärts. Von einem Erdrutsch-Sieg von Labour zu sprechen wäre also sicherlich falsch angesichts eines Stimmengewinns von nur 1,6 Prozent im Vergleich zur vorherigen Wahl. Von einem Erdrutsch-Verlust von 19 Prozent für die Tories zu sprechen, ist daher adäquater.
Rishi Sunak, erster indischstämmiger Premier Großbritanniens, tritt mit dem historisch schlechtesten Ergebnis für die Konservativen ab. Er hat nach vierzehn Jahren Tory-Macht im britischen Unterhaus keine Kehrtwende geschafft. Das eklatante Missmanagement der Konservativen nach dem Brexit, nach David Cameron und Theresa May, nach Brexiteer Boris Johnson, der Anderthalb-Monats-Premierministerin Liz Truss, hinterlässt ein zutiefst gespaltenes Land – vor allem zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinnern und Verlierern des Austritts aus der EU. Heiz- und Strompreise sind exorbitant, die britischen Tafeln haben hohen Zulauf, das öffentliche Gesundheitssystem NHS ist trotz zahlreicher Versprechen der Tories, nach dem Brexit werde es besser, noch immer unterfinanziert. Die britische „Guardian“-Autorin Martha Gill schrieb, wäre Großbritannien ein Mensch, würde er auf der Couch liegen, während sich draußen die Probleme auftürmen. Die kleinen Stellschrauben, an denen die Regierungen seit dem Brexit drehten, änderten nichts an der Tatsache, dass sich Großbritanniens Stellung im Welthandelsgefüge grundsätzlich verändert hatte, und zwar zum schlechten. Das Land navigierte in den vergangenen 14 Jahren mehr oder weniger planlos durch eine schwere wirtschaftliche Krise, ohne dass die Tories etwas ändern konnten. Oder wollten. Stattdessen bekämpften sie sich in Migrationsfragen, Hardliner sprachen sogar, wenn auch nur im Scherz, von einer Mauer quer durch den Ärmelkanal. Und dies, obwohl das Land auf die Dienstleistungen und Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen war, dies zeigten leere Lastwagen und Supermarktregale.
Gespalten zwischen Arm und Reich
Rishi Sunak konnte das Ruder nicht herumreißen. Obwohl bemüht, hat der junge und agile Multimillionär nie die Zone des Brexit-Fallouts verlassen können. Einst Minister im Kabinett Johnson brachte er diesen zu Fall. Er war kaum vorbelastet, ohne Skandal trat er mit neuen Ideen an. Doch Wohnen, Arbeiten, Essen, Gesundheit und Heizen – die Befriedigung dieser grundlegenden Bedürfnisse, die sich die britische Unter- und Mittelklasse nicht mehr ohne Weiteres leisten konnte, bekam Sunak nicht in den Griff, weil ihm die Realität dazwischenfunkte. Die Inflation war und ist weiterhin hoch, das Gesundheitssystem mangels Geld weiterhin auf Kante genäht, die hohen Stromkosten zwingen manchen Briten zur Wahl zwischen Essen oder Heizen, Flüchtlinge kommen weiterhin über den Kanal. Seine Frau, eine Milliardärstochter, vermied es lange, Steuern in Großbritannien zu zahlen, Sunak selbst beendete ein vielversprechendes und populäres Schienenprojekt, er musste die Steuern massiv erhöhen, um die Staatsfinanzen zu stabilisieren. Er tritt nun ab, glanzlos wie seine Vorgänger.
Entscheidend aber ist, dass die Anti-Migrationspolitik der Konservativen – mal wieder – nur dem Lager ganz rechtsaußen genutzt hat. Nigel Farage, „Mr. Brexit“ persönlich und nach eigenem Bekunden ein guter Freund von Donald Trump, hörte das Totenglöcklein der Tories und stellte sich erfolgreich zur Wahl, um die ungeliebte konservative Konkurrenz endlich persönlich zu beerdigen. Einen Teil der verlorenen 19 Prozent Wählerstimmen würden die Konservativen sicher unter denjenigen für Farages rechtspopulistischer „Reform UK“-Partei finden.
Richten soll es nun Keir Starmer, der bislang etwas farblos und stoisch wirkende Erbe des Linkspopulisten Jeremy Corbyn. Dass er Labour in Großbritannien wieder zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor gewandelt hat, ist jedoch nicht allein sein Verdienst, sondern auch der Schwäche der Tories geschuldet. Ob er nun die notwendigen großen Schrauben drehen kann, um Großbritannien vom Schatten des Brexits zu befreien, und zwar in einer sozial verträglichen Art und Weise, wird er erst beweisen müssen.