Die Helmut Newton Stiftung feiert ihr 20-jähriges Bestehen mit der Ausstellung „Berlin Berlin“. Direktor und leitender Kurator Dr. Matthias Harder spricht im FORUM-Interview über die besondere Beziehung des berühmten Fotografen zu dessen Heimatstadt.
Herr Harder, warum beschloss Helmut Newton, Teile seines Archivs nach Berlin zu bringen – in seine Heimatstadt, die er aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1938 verlassen musste?
Es gab auch andere Anfragen, sein Archiv zu übernehmen, aus Paris und New York. Aber er entschied sich für seine Heimatstadt, wo ihm 2003 eine große, repräsentative Immobilie überlassen wurde, in der er Teile seines Archivs unterbrachte. Sie liegt im Westen der Stadt, unmittelbar am Bahnhof Zoo, von wo er im Dezember 1938 einen Zug bestiegen hatte, der ihn in Sicherheit vor dem nationalsozialistischen Terror brachte. Entscheidend war vielleicht auch, dass Heinz Berggruen, mit dem er befreundet war, kurz zuvor ebenfalls in seine Heimatstadt Berlin zurückkehrte und dem hier ein eigenes Museum für seine herausragende Kunstsammlung eingerichtet wurde.
Die Anfangszeit der Stiftung wurde von Helmut Newtons Unfalltod kurz zuvor überschattet. Welche Rolle spielte seine Frau June (alias Alice Springs) damals und in den Folgejahren?
June wurde nach Helmuts plötzlichem Tod in Los Angeles im Januar 2004 Präsidentin unserer Stiftung und bestimmte in den ersten Jahren das Ausstellungsprogramm inhaltlich, das ich dann hier vor Ort umsetzte. Nach und nach übergab sie mir die Verantwortung für das Haus und die Kuration der Ausstellungen. Sie lebte die ganze Zeit in Monte Carlo und kam stets zu unseren Vernissagen nach Berlin, ansonsten telefonierten wir mehrmals in der Woche.
Was erzählt „The Living Room“, der in der ersten Etage zu finden ist, über das Paar?
Er erzählt viel über die Ästhetik und den Zeitgeschmack der beiden; es ist eine wilde Mischung aus high und low, aus Kitsch und großer Kunst. Sie haben sich in ihrer Wohnung in Monte Carlo umgeben mit Kunstwerken von Wesselmann, Warhol, Christo und Lichtenstein, und gleichzeitig finden sich dort kleine Gartenzwerg-Hocker oder eine Godzilla-Plastikfigur. All dies wurde nach Junes Tod im April 2021 nach Berlin überführt und ist nun Bestandteil des „Living Rooms“.
Persönliche Gegenstände – von Notizbüchern und Reisepässen über Anzüge und Fotoapparate bis zum „Newtonmobil“ genannten Jeep und dem komplett eingerichteten Büro von Helmut Newton – gibt es auch in großer Zahl im Erdgeschoss in der Dauerausstellung „Helmut Newton’s Private Property“ zu sehen. Welches dieser Objekte berührt Sie am meisten?
Es gibt viele Dinge in dieser Dauerausstellung, die uns über Newtons Leben und Werk informieren, aber auch berühren, für mich persönlich am meisten die press clipping books, die Helmut und June seit den 1970er-Jahren systematisch zusammengestellt haben. Darin finden sich Zeitungsausschnitte von Ausstellungsrezensionen, Einladungskarten, Polaroids, handschriftliche Notizen oder Briefe und Telegramme von befreundeten Fotografen und Fotografinnen. Beim Blättern in diesen großformatigen Büchern kommt man den Newtons recht nahe.
Und welche der Aufnahmen der aktuellen Ausstellung „Berlin, Berlin“ ist Ihr persönlicher Favorit?
Im Teil der Newton-Bilder sind es die beiden frühen Modebilder für das „Constanze“-Magazin, aufgenommen in der Bar des „Hilton“-Hotels 1962, die ein völlig neues Bild der „Berlinerin“ zeichneten. Es waren selbstbewusste und mysteriöse junge Frauen in einem luxuriösen Umfeld: Für diese Zeit und den deutschen Zeitschriftenmarkt in dieser Zeit sehr ungewöhnliche, porträthafte Modebilder.
In der Ausstellung sind Fotografien aus allen Schaffensepochen von Helmut Newton zu sehen. Wie wurde er vom Modefotografen zum Meister der künstlerisch-konzeptuellen Fotografie?
Modefotograf wurde Newton bereits in Australien ab 1945, als er sein erstes Studio eröffnete, zu seinem eigentlichen, unverwechselbaren Stil gelangte er in Paris ab 1961. Erst in den späten 1970er-Jahren kamen die Genres Akt und Porträt hinzu – und im hohen Alter begann er schließlich zu experimentieren, machte Collagen und Aufnahmen mit extremen Blickwinkeln. Als Künstler hat er sich selbst nie bezeichnet – aber natürlich kann man sein fotografisches Werk inzwischen auch künstlerisch nennen.
Ab den 1960er-Jahren kam er regelmäßig nach Berlin, um für Modemagazine zu fotografieren. Wie hat sich sein Blick auf seine Heimatstadt im Laufe der Zeit geändert?
Erstmals kam er 1959 zurück und fotografierte deutsche Mode unter anderem am Brandenburger Tor, das damals noch ohne Mauer dastand; es folgten weitere Aufträge für die „Constanze“, die „Vogue“ und das „Adam Magazine“. Die erneute Rückkehr ließ auf sich warten, 1977 war es dann soweit; er fotografierte in jenem Jahr ohne Auftrag, die Bilder veröffentlichte er teilweise erst viele Jahre später – zwei Jahre später entstand die großartige Bildserie für die deutsche Ausgabe der Vogue, die gerade wieder auf den Markt kam: 14 Seiten, aufgenommen an den Orten seiner Kindheit. Die Berliner Mauer geriet in der Folge immer wieder in seinen Fokus, ihn interessierten auch die sich ständig wandelnden Schriftzüge auf der Westseite der Mauer. Weitere Magazin-Aufträge führen ihn in den späten 1980er- und 90er-Jahren wieder nach Berlin, bis er hier im Jahr 2000 mit einer großen Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie geehrt wurde – und drei Jahre später seine eigene Stiftung gründete. So schloss sich ein Lebenskreis.
Newtons Sicht auf Berlin wird in der aktuellen Ausstellung durch etwa 100 Aufnahmen dargestellt, die in einem weiteren Teil in Kontext zu Bildern von bekannten Fotografinnen und Fotografen gesetzt werden. Was bewirkt diese Gegenüberstellung?
Wenn ich solche Gruppenausstellungen konzipiere, beabsichtige ich, Newtons Werk neu zu kontextualisieren. Das habe ich schon mit der Hollywood-Ausstellung vor zwei Jahren so gemacht; die Besucher und Besucherinnen können nachvollziehen, inwiefern Newtons Bilder autonom sind oder in einer fotografisch-künstlerischen Tradition stehen. Die aktuelle Ausstellung gleicht einem Porträt von Berlin, die unterschiedlichsten Facetten dieser sich ständig wandelnden Stadt werden anhand der Berliner Kollegen und Kolleginnen exemplarisch aufgezeigt. Ich habe das Werk von Yva, also Newtons Lehrmeisterin an den Beginn des zweiten, mehr oder weniger chronologischen Ausstellungsparcours gestellt, und bereits hier wird uns klar, wie sehr er sich von ihr hat inspirieren lassen. Er setzte Yvas Werk, dem jeweiligen Zeitgeist angepasst, kongenial fort.
Sie beschäftigen sich seit über 20 Jahren intensiv mit Newtons Werk. Konnten Sie das Geheimnis seines Erfolges, der bis heute anhält, ergründen?
Helmut Newtons Werk ist völlig zeitlos, obwohl es bei seiner Entstehung über die Jahrzehnte stets sehr zeitgenössisch war. Sein Werk ist radikal und provokant, enigmatisch und ambivalent, es könnte immer auch etwas anderes bedeuten, als das, was wir auf den ersten Blick zu erkennen glauben. Es begeistert und verstört bis heute viele Menschen, das sehen wir an den Verkaufszahlen seiner Publikationen und den vielen Besuchern unserer Ausstellungen, die nach der ersten Präsentation in Berlin häufig auch an anderen Orten zu sehen sind.