Gustav Heinemann leistete als engagierter Christ nicht nur dem NS-Regime Widerstand, sondern machte als Radikaldemokrat auch eine große politische Karriere. Nach vier Parteimitgliedschaften machte ihn die fünfte zum ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten. Dieser Tage würde er Geburtstag feiern.
Schon als Gymnasiast hatte Gustav Heinemann seinen Entschluss vollmundig bekundet, die juristische Laufbahn einschlagen zu wollen – „weil ich dann auch etwas ausfechten kann“. Rechtsanwalt und Notar wurde Heinemann tatsächlich. Doch in den Kampf zog es ihn später auf gänzlich anderen Feldern, mit denen er zunächst überhaupt nichts am Hut hatte: Kirche und Politik. Seine Verherrlichung des Ersten Weltkriegs war sicherlich jugendlicher Unreife geschuldet und kann kaum als politisches Bekenntnis des späteren überzeugten Pazifisten gedeutet werden. Schon vor der NS-Machtergreifung hatte er den Schritt vom Religionsskeptiker zum überzeugten evangelischen Christen vollzogen. Nach der Gründung der Bekennenden Kirche 1934 wurde Heinemann infolge der von den Nazis betriebenen Gleichschaltung der Glaubensgemeinschaften zu einem der führenden Köpfe der evangelischen Oppositionsbewegung.
Über vier Parteien bis hin zur SPD
Heinemanns politischer Aufstieg nahm erst mit Ende des Zweites Weltkrieges so richtig Fahrt auf. Zunächst allerdings ohne eigenes Betreiben, weil sich die Alliierten für den Neuanfang fieberhaft auf die Suche nach geeigneten Persönlichkeiten ohne nationalsozialistische Vorbelastungen begeben hatten. Heinemann wurde daher von der britischen Besatzungsmacht zum stellvertretenden Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Essen ernannt. Dort zählte er denn auch 1945 zu den Gründungsmitgliedern der CDU – ohne Ambitionen über den lokalen Bereich hinaus erkennen zu lassen. Wohl auch, weil er sich weiterhin vor allem seiner Essener Kirchengemeinde verpflichtet fühlte. „Aber ich denke nicht daran, etwas anderes anzufassen, als was mit Gemeinde und Kirche zusammenhängt“, hatte er noch am 18. April 1945 in einer Notiz festgehalten. Und doch sollte seine Biografie geradezu exemplarisch für das oft mühevolle Ringen um die Ausbildung eines demokratischen Staatswesens in der frühen Nachkriegszeit nach den dunklen NS-Jahren werden.
Weil sich Gustav Heinemann zeitlebens als nüchterner Pflichtmensch verstand, ließ er sich bald schon zu überregionalen Aufgaben als CDU-Abgeordneter im Düsseldorfer Landtag und zur kurzzeitigen Führung des NRW-Justizministeriums überreden. Im September 1949 schließlich trat er dem ersten Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer als Bundesminister des Inneren bei, nachdem er noch eine Kandidatur für den ersten Bundestag mit Verweis auf seine Aufgaben in Essen und Düsseldorf abgelehnt hatte.
In dieser Funktion offenbarte er erstmals in aller Deutlichkeit seine Gesinnung als Radikaldemokrat, dem jegliche Form von Untertanengeist, Nationalismus oder Militarismus fremd war. Er präsentierte sich als unabhängiger Freigeist, der Entscheidungen, die mit seinem Gewissen nicht vereinbar waren, nicht mittragen wollte. Folgerichtig warf er schon nach gut einem Jahr im Oktober 1950 als erster Minister der Bundesgeschichte das Handtuch, da er von der durch Adenauer in Geheimverhandlungen mit den Alliierten eingeleiteten Wiederbewaffnung der Bundesrepublik erfahren hatte, was seiner Meinung nach die Wiedervereinigung Deutschlands erheblich erschweren würde.
Dass ihn sein weiterer politischer Weg 1957 schließlich zur SPD führen würde, dürfte er selbst lange kaum für möglich gehalten haben. Mit den klassenkämpferischen Vorstellungen der Sozialdemokraten konnte der von freisinnig-liberalen Werten geprägte Heinemann nie etwas anfangen. Diesbezüglich hatte er sich bei seinen früheren Parteien fraglos viel besser aufgehoben gefühlt: der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei während seiner Studienjahre, dem protestantisch-konservativen Christlich-Sozialen Volksdienst zwischen 1930 und 1933, der CDU zwischen 1945 und 1952 sowie der von ihm selbst gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) zwischen 1952 und 1957.
Doch die Neuorientierung der SPD, die schließlich im Godesberger Programm 1959 die Wandlung zur Volkspartei vollzog – samt Bekenntnis zur Marktwirtschaft und einer neuen, für Heinemann besonders wichtigen religiösen Toleranz – spülten seine Bedenken hinweg. Auch wenn ihm zeitlebens die unter SPD-Mitgliedern übliche Anrede „Genosse“ niemals über die Lippen kam und er für viele Mitkämpfer auch wegen seiner häufig strikte Parteigrenzen überschreitenden Meinungsäußerungen ein Fremder blieb.
Als Bundespräsident sehr volksnah
Trotzdem zog er dank eines sicheren Listenplatzes auf der niedersächsischen SPD-Landesliste 1957 erstmals in den Bundestag ein, wo er sich fortan als brillanter Redner erwies, besonders im Rahmen von Gewissensentscheidungen wie der von Adenauer und Franz Josef Strauß geplanten atomaren Aufrüstung der Bundeswehr. Bereits 1958 wurde er in den Parteivorstand berufen. Als Bundesjustizminister in der Großen Koalition unter CDU-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger setzte der gelernte Jurist zwischen 1966 und 1969 tiefgreifende Reformen des Zivil- und Strafrechts im liberalen Geiste durch, unter anderem die Aufhebung der Verjährung von Mord, die rechtliche Gleichstellung von unehelichen und ehelichen Kindern oder die Streichung von Ehebruch und männlicher Homosexualität als Straftatbestand. Auch für die Studentenrevolte der 68er-Bewegung zeigte er Verständnis.
Als SPD-Chef Willy Brandt ihm die Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten vorschlug, fühlte sich Heinemann wieder einmal in die Pflicht genommen. Am 5. März 1969 kam es daher zu einem epischen Wahlkrimi, bei dem erst nach acht Stunden und drei Urnengängen der knappe Sieg Heinemanns über den CDU-Konkurrenten Gerhard Schröder mit 512 zu 506 Stimmen feststand. Letztlich sicherte Heinemann die Unterstützung durch die Mehrzahl der FDP-Delegierten den Sieg. Es selbst sprach denn auch gleich von einem „Stück Machtwechsel“, der sich nach der Bundestagswahl vom September 1969 mit der Bildung der sozialliberalen Koalition offiziell vollzog. Bei seiner präsidialen Antrittsrede setzte sich Heinemann an die Spitze der von ihm als absolut notwendig erachteten gesellschaftlichen Veränderungen: „Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel.“ Bei seiner Amtsführung verzichtete er auf höfische Etikette und gab sich volksnah, was ihm den Ehrentitel „Bürgerpräsident“ und eine große öffentliche Zustimmung einbrachte. Eine ihm angetragene zweite Amtszeit lehnte er mit Hinweis auf sein fortgeschrittenes Alter ab.
Geboren wurde Gustav Walter Heinemann am 23. Juli 1899 im westfälischen Schwelm. Bereits ein Jahr später zog seine wirtschaftlich wohlsituierte Familie in die Ruhrmetropole Essen um, in der sein Vater als Prokurist und Leiter der Krupp’schen Betriebskrankenkasse tätig war. Nach Ablegung des Notabiturs 1917 und Freistellung vom Frontdienst im Ersten Weltkrieg wegen einer Herzklappenentzündung absolvierte er gleich zwei Studien mit Promotionsabschluss – Jura und Staatswissenschaften. Im Jahr 1926 heiratete er die Theologiestudentin Hilda Ordemann, die ihn gemeinsam mit dem Essener Pfarrer Friedrich Wilhelm Grae-ber zum evangelischen Glauben führte, und trat als Rechtsanwalt in die Essener Anwaltssozietät Niemeyer ein.
Von 1929 bis 1949 war er zusätzlich als Prokurist und Justiziar für die Rheinischen Stahlwerke in Essen tätig. Damit nicht genug, hatte er zwischen 1933 und 1939 auch noch einen Lehrauftrag für Berg- und Wirtschaftsrecht an der Universität Köln übernommen. Überraschenderweise legte er 1938, resigniert wegen der Fortdauer der Nazi-Diktatur, seine Ämter in der Bekennenden Kirche nieder und kümmerte sich stattdessen um die Beschaffung von Lebensmitteln für untergetauchte jüdische Mitbürger.
Nach Kriegsende war Heinemann neben seiner Funktion als gewählter Essener Oberbürgermeister zwischen 1946 und 1949 wieder in der evangelischen Kirche an vorderster Linie aktiv, beispielsweise als Präses der gesamtdeutschen Synode der EKD zwischen 1949 und 1955. 1951 gründete er mit seinem Kollegen Diether Posser eine Essener Rechtskanzlei, die sich vor allem für Kriegsdienstverweigerer einsetzte, aber in Person von Heinemann auch Deutschlands renommiertestes Magazin 1961 in der „Spiegel-Affäre“ vertrat. Im gleichen Jahr rief Heinemann, der nach seinem Austritt aus der CDU von dieser als Persona non grata behandelt wurde, einen überparteilichen Arbeitskreis namens „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“ ins Leben, aus der Ende 1952 die „Gesamtdeutsche Volkspartei“ hervorging, die jedoch – obwohl Mitglieder wie Johannes Rau oder Erhard Eppler später zu Prominenz aufstiegen – bei der Bundestagswahl 1953 nur 1,2 Prozent der Stimmen gewinnen konnte und 1957, als Vorbedingung für Heinemanns Eintritt in die SPD, aufgelöst wurde.
Nach seinem Abschied vom Bundespräsidentenamt verschlechterte sich Heinemanns Gesundheitszustand zunehmend, er litt immer stärker an Durchblutungsstörungen. Nach Einweisung in ein Essener Klinikum verstarb Gustav Heinemann dort am 7. Juli 1976 im Alter von 77 Jahren.