Der Knoten ist geplatzt: Erstmals in der Geschichte durchbricht ein deutscher Sprinter die magische Zehn-Sekunden-Schallmauer. Owen Ansah gibt das noch mehr Motivation – genau wie die rassistischen Kommentare.
Owen Ansah hielt sein Versprechen. Seinem Vater wollte er zu dessen Geburtstag ein besonderes Geschenk überreichen. „Und er hat gesagt, ich wünsche mir Gold“, erzählte der Leichtathlet. Ansah gewann dann bei den deutschen Meisterschaften Ende Juni in Braunschweig im 100-Meter-Sprint auch die Goldmedaille. Die übergab er freudestrahlend seinem Vater, der einst selbst Leichtathlet war und aus Ghana nach Deutschland gekommen war, „ohne irgendwas zu haben“, wie Ansah junior berichtete: „Mein Vorbild ist mein Papa.“ Die Goldmedaille konnte der 23-Jährige gut entbehren, denn er hatte bei diesem für den deutschen Sport so geschichtsträchtigen Rennen etwas viel Größeres erreicht: In einer Siegerzeit von 9,99 Sekunden war der gebürtige Hamburger als erster Deutscher überhaupt unter der magischen Zehn-Sekunden-Marke geblieben. „Ich habe mich sehr gut gefühlt, aber angekommen ist es noch nicht“, sagte der Deutsche Meister hinterher noch leicht ungläubig, aber voller Euphorie: „Wenn ich die Zeit schwarz auf weiß auf der Urkunde sehe, glaube ich es erst. Aber ich bin mega happy.“
„Darauf habe ich mein ganzes Leben hintrainiert“
Doch es wurde Gewissheit. Es war kein Stoppfehler, auch die Windbedingungen waren regulär. Neun Hunderstelsekunden schneller als bei seiner bisherigen persönlichen Bestzeit aus dem Jahr 2022 – das ist gemessen auf die Distanz fast ein Quantensprung. Und Deutschland hat plötzlich einen „Supersprinter“, wie selbst die ARD den Shootingstar nannte. Inmitten der Fußball-Europameisterschaft sorgte der Mann von der Leichtathletik-Abteilung des Hamburger SV für große Schlagzeilen. Zeitungen und TV-Sender rissen sich um Interviews mit ihm. Und Ansah schien die ungewohnte Aufmerksamkeit sehr zu genießen. „Darauf habe ich mein ganzes Leben hintrainiert“, sagte er und kündigte weitere Großtaten an: „Jetzt habe ich es geschafft, und ich möchte auf jeden Fall, dass es noch schneller wird.“
Das wird er auch müssen, wenn er nicht nur national für Furore sorgen möchte. „Mit 9,99 reißt man international nichts“, weiß sein Trainer Sebastian Bayer: „Aber ich glaube auch, dass 9,99 noch nicht das Ende ist. Ich hoffe, dass es ein bisschen so ein kleiner Trend ist.“ Im weltweiten Vergleich betrachtet liegt Ansah mit seinem deutschen Rekord nur auf Platz 24. Vor ihm waren bereits 198 Menschen unter zehn Sekunden geblieben, die in der Szene als Schwelle dafür gilt, wer zu den Weltklasseläufern zählt und wer nicht. Und zum schnellsten Menschen der Geschichte, dem Jamaikaner Usain Bolt, fehlt Ansah noch ein ganzes Stück. Der war bei der WM 2009 in Berlin die Prestigestrecke in 9,58 Sekunden gelaufen – ein Fabelweltrekord, der bis heute und vielleicht auch für immer unerreicht bleibt. „Nein, ich denke nicht, dass der Weltrekord bedroht ist“, sagte Bolt mit Blick auf die Olympischen Spiele in Paris, bei der seine Nachfolger in der vermeintlich besten Form antreten werden: „Ich sehe keinen, der den Rekord wirklich brechen könnte.“
Owen Ansah wird Bolt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht gefährlich werden. Für ihn wäre es schon ein großer Erfolg, wenn er seine Bestzeit bestätigen und vielleicht noch um die ein oder andere Hundertstelsekunde nach unten drücken könnte. Experten trauen ihm das zu. „Das war eine Frage der Zeit, bis der mal einen raushaut“, sagte Frank Busemann, 1996 Olympia-Zweiter im Zehnkampf und aktuell Leichtathletik-Experte für die ARD. Busemann zog bei Ansah gar einen gewagten Vergleich: „Der sieht aus wie Carl Lewis, ist so grazil.“ Beide sind zwar in etwa gleich groß und ihr Laufstiel eher raumgreifend als extrem kraftvoll. Doch neun Olympische Goldmedaillen im Sprint und Weitsprung lassen Lewis in einer ganz anderen Kategorie erscheinen. Doch man sollte Ansahs Rekordlauf auch nicht kleinreden, meinte Busemann. „Wir warten seit Jahrzehnten drauf, dass einer unter zehn Sekunden läuft. Dass es jetzt einer geschafft hat, tut so gut“, sagte er: „So ein Ding auf die Bahn zu nageln – Hammer!“
Die Zeit überraschte auch deshalb, weil Ansah nach einem Ermüdungsbruch im Fuß erst zwei Monate vor seinem Rekordrennen wieder ins Training eingestiegen war. Die Freiluft-Saison im Vorjahr und damit auch die WM im ungarischen Budapest hatte der Sportsoldat wegen einer Schambeinentzündung verpasst. „Ich habe dafür hart gearbeitet, wieder zurückzukommen, und das zeigt auch mir selber, dass ich alles richtig gemacht habe“, sagte Ansah. Trainer Bayer schwärmte vom Ehrgeiz bei seinem Schützling: „Er hat klare Vorstellungen von sich und seinem Sport.“ Aber nicht nur deswegen tauge der Sprinter als neues Aushängeschild der deutschen Leichtathletik, in der es an Typen und Persönlichkeiten scheinbar eher mangelt. „Er ist ein feiner Kerl und hat das Herz am rechten Fleck.“
Umso mehr verwundern da die rassistischen Kommentare und Beleidigungen, die der in Farmsen-Berne im Hamburger Nordosten aufgewachsene Athlet in Social Media nach seinem deutschen Rekord lesen musste. „Unterstützung aus Afrika“ oder „Deutscher“ in Anführungsstrichen stand beispielsweise dort geschrieben. Aber auch noch viel schlimmere Dinge ließen User dort meist unter dem Deckmantel der Anonymität ab. „Mich interessiert das eigentlich null Prozent. Es geht hier rein und da raus“, sagte Ansah in einem NDR-Interview und zeigt erst auf das linke und dann auf das rechte Ohr: „Ich habe meine Freunde bei mir, ich habe meine Familie bei mir und die Leute, die mich supporten. Es gibt natürlich immer auch Hater, die da sind. Aber mich beschäftigt das gar nicht.“ Und wenn er mal doch darüber nachdenkt, dann versucht er auch das positiv zu sehen. „Solche Kommentare spornen mich in jedem Fall an, genauso weiterzumachen. Sie zeigen, dass ich auf dem richtigen Weg bin“, sagte Ansah und ergänzte fast schon provokant: „Ich bekomme jetzt die Aufmerksamkeit, die wir alle verdient haben.“
Für den Verband und seinen Verein ist die Sache aber nicht so schnell erledigt. „Wir haben da eine ganz klare Null-Toleranz-Politik gegenüber Rassismus, Hetze, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit“, sagte Jörg Bügner, Vorstand Leistungssport im Deutschen Leitathletik-Verband. Der DLV prüfte rechtliche Schritte gegen die rassistischen Kommentare. „Das ist der richtige Weg“, meinte auch Ansah selbst, „weil das Sachen sind, die nicht gehen“. Das findet auch sein Trainer. „Dass man auf die Hautfarbe oder die Herkunft reduziert wird, ist ein Riesenproblem“, sagte Bayer: „Wir sind Multi-Kulti, wir sind bunt in Deutschland.“ Rückendeckung gab es auch von Ansahs Verein Hamburger SV. „Wir dürfen solchen Leuten keinen Zentimeter Platz für ihre absurden Aussagen lassen. Der HSV steht für Vielfalt und Diversität“, sagte HSV-Präsident Marcell Jansen. Der ehemalige Fußball-Nationalspieler betonte: „Jeder Mensch bei klarem Verstand weiß: Owen ist ein Aushängeschild für unseren Verein, für den deutschen Sport und für die deutsche Gesellschaft.“
„Ganz klare Null-Toleranz-Politik“
Wenn wichtige Leute in wichtigen Positionen solche Superlative über einen sagen, dann hat man viel richtig gemacht. „Man muss daran glauben, was in einem steckt“, sagte Ansah: „Ich habe nie daran gezweifelt, genau wie mein Team, meine Familie, meine Freunde, dass ich wieder zurückkomme und diese Zeiten laufen kann.“ Aber ob das wirklich so stimmt? Als der Verband die Olympianormen für die Einzelrennen bekannt gegeben hat, musste auch Ansah schlucken: „Da habe ich gedacht: Wer soll das schaffen?“ Nun hat er die Normzeit gepackt, darf auch im Einzel über 100 Meter starten – und sein Selbstbewusstsein ist enorm gewachsen. Ansah rechnet fest mit dem Finaleinzug bei den Olympischen Spielen in Paris, was auf dem Papier eine große Überraschung wäre. „Ich habe – wenn alles super läuft – meine drei Runden. Vorlauf, Halbfinale und dann das Finale“, sagte er: „Und darauf konzentriere ich mich jetzt.“
Deutlich größere Chancen auf einen Finalstart und mit Glück ja auch auf eine Medaille hat Ansah aber mit der 4x100-Meter-Staffel. Mit der war er bei der EM in Rom Anfang Juni zu Bronze gelaufen. Für den großen Traum von Olympia trainiert Ansah seit 2018 zusammen mit seinem besten Kumpel Lucas Ansah-Peprah. Zuerst in Hamburg, nun am Bundesstützpunkt in Mannheim. Auch Ansah-Peprah ist ein ausgezeichneter Sprinter, seine Bestzeit liegt bei 10,04 Sekunden. Genau wie Ansah – mit dem er nicht verwandt ist – ist auch er einer aus dem Jahrgang 2000. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten auch fast schon auf. „Owen ist eher so ein bisschen extrovertierter, ein bisschen lauter und ein bisschen aktiver“, verriet ihr Trainer Bayer: „Lucas ist eher der ruhigere, entspanntere Typ, der lässt sich nicht aus der Ruhe kriegen.“
Beide profitieren spürbar von dem kollegialen, aber auch leistungsfördernden Miteinander. „Es ist auf jeden Fall mega“, sagte Ansah: „Wir trainieren jeden Tag zusammen, wir verfolgen beide dieselben Ziele, dadurch gibt man sich im Training einen größeren Push. Wir batteln uns in jedem Training, es ist immer ein gesunder Konkurrenzkampf. Es macht auf jeden Fall sehr viel Spaß.“ Das Leben in Mannheim sei zudem entspannter als das in Hamburg, hier fühle er sich noch mehr zu Hause. Auch das dürfte ein Erfolgsgeheimnis sein. Nun will Ansah seine 9,99 Sekunden noch mal unterbieten, am besten in Paris. Und mit der Staffel rechnet er sich genau wie seine Teamkollegen sogar noch mehr aus. „Das Ziel ist auf jeden Fall, unter den Top Acht zu landen und auch die größeren Länder ein bisschen zu ärgern“, sagte Ansah-Peprah. Sein Kumpel Ansah ergänzte sicher auch mit Blick auf die rassistischen Hater: „Es macht uns stolz, dass wir so stark sind und dass wir Deutschland auch repräsentieren können als Staffel und da ganz vorne mitlaufen wollen.“