Es ist kurz vor 9 Uhr morgens, ein sonniger Frühlingstag auf der Insel Usedom. Der norwegische Autor Jon Fosse (64) spaziert durch den Hotelgarten. Wie meistens ist er ganz in Schwarz gekleidet, sein Haar ist zum Zopf zusammengebunden. Den Interviewer begrüßt er mit festem Händedruck.
Herr Fosse, der Nobelpreis ist der wichtigste Preis, den ein Schriftsteller gewinnen kann, was bedeutet er für Sie?
Keine Frage, es ist der wichtigste Preis, den man gewinnen kann. Er kam für mich nicht ganz unerwartet, denn seit 2013 bin ich immer mit dabei gewesen, wenn über den nächsten Nobelpreisträger spekuliert wurde.
Fosses Telefon klingelt. Er lacht, schaltet den Ton aus und sagt: Das ist die Erinnerung an mich selbst, dass ich das Interview hier nicht vergesse. Nach einer kleinen Pause spricht er weiter:
Obwohl es natürlich immer ziemlich viele mögliche Kandidaten gab, war ich doch immer mit dabei. Ich erinnere mich an ein Jahr, da war ich in Hainburg an der Donau (dort, in Niederösterreich, hat Fosse einen Zweitwohnsitz). Eine norwegische Zeitung war so sicher, dass ich gewinnen würde, dass sie schon am Tag vor der Bekanntgabe des Preisträgers einen Journalisten geschickt hatte. Damals habe ich den Preis nicht bekommen.
Und diesmal?
Ich dachte, vielleicht wird es ja was. Aber richtig daran geglaubt habe ich nicht.
Fosse deutet mit dem Zeigefinger eine Schießbewegung an und sagt dann: Wenn du neun Mal danebengeschossen hast, erwartest du nicht, dass du beim zehnten Mal triffst. Aber als mich Mats Malm (Mitglied und Sprecher des Nobelpreiskomitees) angerufen hat, war ich glücklich. (lacht) Es ist ein richtiges Glücksgefühl in mir hochgestiegen. Viele der Allerbesten bekommen nie den Nobelpreis. Und ich habe ihn jetzt!
In einem Interview haben Sie gesagt: Nach dem Nobelpreis werde ich noch öfter Nein sagen und werde ein noch zurückgezogeneres Leben führen – jetzt, im Rückblick: Ist Ihnen das gelungen?
Ich war ja schon lange ein bekannter Dramatiker. Weltweit gab es in manchen Jahren 1.000 und mehr Premieren meiner Stücke. Ich erinnere mich daran, dass allein in Deutschland einmal 50 Prämieren gleichzeitig stattfanden. Ich bin damals zu vielen Erstaufführungen gereist: Oft war ich auch während der Produktion an den Theatern und gab ein Interview nach dem anderen. Deswegen war ich es schon gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Mein Agent, über den die meisten Anfragen laufen, bekam damals mehr als 1.000 Interviewanfragen pro Jahr.
Ich habe dann aufgehört, zu den Premieren zu fahren, hatte keine Lust mehr auf Flughäfen, Hotels und Interviews. Das wollte ich genauso beibehalten, nachdem ich den Nobelpreis bekommen hatte. Aber dann kamen so unheimlich viele Anfragen, dass es unmöglich war, zu allem Nein zu sagen.
Ist es für Sie wichtig, in Kontakt mit Ihren Lesern zu kommen und an Veranstaltungen teilzunehmen wie hier?
Nein. Nein. Überhaupt nicht. Das hier ist die einzige Lesung, die ich für dieses Jahr zugesagt habe. Und der Grund war, dass ich Hinrich Schmidt-Henkel, der seit 30 Jahren meine Werke ins Deutsche übersetzt, treffen wollte, um mit ihm den Nobelpreis zu feiern. Er ist sehr wichtig für mich. Bei der Preisverleihung in Stockholm konnte er nicht dabei sein, weil er in Bangkok war. Leider kann er auch jetzt nicht kommen. Aber dann dachte ich, dass es für mich und meine Frau hier trotzdem schön sein könnte. Es ist ein schöner Ort, das Hotel ist schön und das Festival ist ja auch nett. Ansonsten habe ich nur bei wenigen Veranstaltungen zugesagt. Wissen Sie, sie wollen mir überall Preise verleihen. Besonders in Italien. Da geben sie mir gleich vier, glaube ich. Für mich ist es dann schwer abzusagen. Ich versuche dann hinzufahren und sie anzunehmen. Ich versuche, mich gut zu benehmen und freundlich zu sein (lacht). Deswegen werde ich in diesem Jahr viermal nach Italien reisen. Oder vielleicht sogar fünfmal. Die kleine Stadt Viterbo in der Nähe von Rom will mir sonderbarerweise die Ehrenbürgerschaft verleihen. Da sollte ich eigentlich auch noch hin.
Haben Sie denn die zukünftigen Leser im Kopf, wenn Sie schreiben?
Nein, überhaupt nicht. Absolut nicht. Das habe ich mir selbst völlig verboten. Dann fängt man an abzuwägen, versucht für diese und jene Leserschicht zu schreiben, den Text anzupassen. Dann hat das nichts mehr mit „Dichtung“ (Fosse benutzt hier in seiner auf Norwegisch formulierten Antwort das deutsche Wort) – so sagt man doch auf Deutsch? – zu tun. Man darf nur der Logik und der Notwendigkeit des Textes folgen. Ich stelle mir, wenn ich schreibe, nicht vor, dass das jemand einmal lesen wird. Wenn ich einen Leser definieren müsste, dann würde ich sagen, ich schreibe für Gott.
Wie sieht denn ein Schreibtag bei Ihnen praktisch aus?
Ich überlege nie, von was der Text handeln soll. Ich recherchiere nie zu einem Thema. Ich setze mich einfach hin und fange an. Wenn der Anfang gut ist, dann steht er da und ich schreibe weiter. Ich ändere dann kaum noch was. Man sagt ja, dass das Schreiben eine einsame Tätigkeit ist, aber gleichzeitig ist es auch sehr beruhigend. Durch das Schreiben habe ich einen geheimen Ort in mir selbst gefunden, an dem ich mich vor der Welt und den Menschen verstecken kann.
Der Tod spielt in Ihren Werken eine große Rolle ...
Es ist die einfache Realität des Lebens. Wir kommen hierher von (überlegt) – niemand weiß, woher – und dann sind wir hier auf dieser Welt. Genauso plötzlich verlassen wir sie wieder. Wir haben nur diese kurze Zeitspanne. Und das war es dann. Man darf keine Angst haben vor dem Tod, man muss das Leben leben, ohne zu sehr an das Ende zu denken. Viele Menschen fürchten sich zu sterben. Ich nicht. Man sagt oft, dass die meisten Schriftsteller über die Liebe und den Tod schreiben. Und das stimmt wohl auch. In Norwegen ergänzen wir das selbstironisch mit etwas Drittem. Unsere Dichter schreiben über das Meer, die Liebe und den Tod (lacht).
2013 traten sie zum katholischen Glauben über, war das auch ein Ergebnis Ihres Schreibens?
Ja, darüber gibt es keinen Zweifel. In meiner Jugend, in meinen frühen Zwanzigern, waren wir alle Marxisten. Ich natürlich auch. Ich trat aus der norwegischen Kirche aus, als ich 16 war. Auf gewisse Weise war ich ein gläubiger Materialist (lacht) oder, richtiger gesagt, ein gläubiger Atheist. Beim Schreiben tauchten dann immer öfter Fragen auf, wie: „Woher kommt das alles? „Was passiert hier?“ (stockt, überlegt und spricht dann weiter) Ich merkte, das hat nichts zu tun mit dem Klassenkampf oder mit dem, was in der Welt passiert. Und dann offenbarte sich für mich das „Unbekannte“, wie ich es nenne. Ich weiß einfach nicht, was es ist. Aber es ist da. Irgendwas ist da. Ich kann nicht sagen, was es ist.
Passt denn der Katholizismus überhaupt zu Ihrem Schreiben?
Ihre Bücher kommen ohne große Effekthascherei aus, während die katholische Kirche den Pomp liebt und sich selbst inszeniert.
Ja, das stimmt. Das ist genau das Gegenteil. Man sagt aber auch, dass sich Gegensätze anziehen (lacht). In meiner Dichtung, und auch als Person, bin ich zurückgezogen, reserviert und schüchtern.
Aber am verwunderlichsten ist nicht einmal, dass ich Katholik geworden bin, sondern, dass ich angefangen habe, Theaterstücke zu schreiben. Das widerspricht völlig meinem Charakter. Ich habe 15 Jahre lang fast nur Theaterstücke geschrieben, bin so auch ein Teil der Theaterwelt geworden. Ich habe viele der besten Schauspieler getroffen. Auf der Bühne nehmen sie viel Raum ein und sind sehr präsent, aber privat sind viele unglaublich schüchtern. Vielleicht habe ich auch diese beiden Seiten in mir. Wir alle haben mehrere Gesichter, ich auch. Ich bin als Person schüchtern. Aber weil ich so viel für das Theater gearbeitet habe, habe ich auch ein Gefühl für die andere Seite. Ich mag selbst nicht auf der Bühne stehen. Es macht mir keine Freude, ich betrachte es als Teil des Berufs. Aber ich habe viel Erfahrung, habe schon viel erlebt. Das macht alles leichter. Je älter man wird, desto weniger tragisch ist es, wenn mal etwas schiefläuft.