Das Quintett Powerwolf aus Saarbrücken entwickelte sich zu einer der international populärsten Metal-Bands. Christian Jost alias „Falk Maria Schlegel“ erzählt über Metal, Mythen, Machos und die Songs des neuen Albums.
Herr Jost, „Wake up the Wicked“ wurde von Joost van den Broek in den Sandlane Recording Facilities in Holland produziert. Haben Sie mit ihm eine Vision von dem Album entwickelt?
So weit würde ich nicht gehen. Wir haben schon konkrete Vorstellungen, wie der Song am Ende zu klingen hat. Wir haben Joost van den Broeck schon früh unsere Ideen geschickt, sodass er sich Gedanken machen konnte für Orchestrierungen und dergleichen. Es gab auch den Ansatz, den Song Stück für Stück entstehen zu lassen. Uns war wichtig, dass der Produzent nicht erst im Studio das Material kennenlernt.
Ist van den Broecks Arbeit vergleichbar mit der eines Regisseurs beim Film?
Ja, aber beim Film sind die Anweisungen noch konkreter. Hier ist es eher ein Diskurs. Man probiert die Dinge gemeinsam aus. Eigentlich sind wir immer noch unsere eigenen Produzenten.
Die Single „1589“ erzählt die Geschichte von Peter Stump. Der Bauer wurde in dem Jahr von einem fanatischen Inquisitor beschuldigt, im Rheinland als Werwolf an die 70 Morde verübt, Vergewaltigungen, Kannibalismus, Inzest und Zauberei begangen und „Buhlschaft“ mit einer Teufelin getrieben zu haben. Was fasziniert Sie an dem Schicksal des vermeintlich berüchtigtsten Mörders des Mittelalters?
Als wir uns tiefer mit dieser Geschichte beschäftigten, kam die Erkenntnis, was für eine schlimme Zeit das grundsätzlich war. Da wurden Menschen verurteilt, die vielleicht einfach nur Außenseiter waren. Man hat Peter Stump alles Mögliche angedichtet. Den Werwolf-Prozess und die Hinrichtung gab es wirklich, aber wie, wann, wo und ob Stump jemanden umgebracht oder sich in einen Werwolf verwandelt hat, ist Teil der Mythologie. Das fasziniert mich insofern, als dass diese Geschichte über die ganze Welt verteilt wurde. Flugblätter in England oder Dänemark haben darüber berichtet. Und gleichzeitig stellt man fest, dass der Protestant Peter Stump in einer Region gewohnt hat, in der viele Katholiken lebten. Man war schnell dabei, einen Sündenbock zu finden. Es waren Zeiten mit vielen Kriegen. Diese schwarze Zeit finde ich unheimlich faszinierend. Die Geschichte ist mit Angst und Schrecken verbunden, aber ich empfinde auch Sympathie für den Bauer Peter Stump.
Haben Sie über ihn recherchiert?
Ich habe mich auf den Weg nach Bedburg bei Köln begeben. Selbst da gibt es eine Wanderung auf den Pfaden des Werwolfes. Die Faszination ist nicht nur bei Powerwolf da, sondern weltweit. Wir schreiben gerne über solche Stories, aber immer mit dem Anspruch, sie unterhaltsam rüberzubringen. Wir hätten mit dem Video nicht realitätsnah die Hinrichtung zeigen können, das hätte keiner Altersbeschränkung stattgehalten.
Bei Peter Stumps Hinrichtung am 31. Oktober 1589 wurde ihm das Fleisch mit glühenden Zangen von den Knochen gerissen, seine Tochter musste das Schauspiel mit ansehen, bevor sie selbst verbrannt wurde. Wie aufwühlend war es für Sie, Stumps grausamen Tod künstlerisch umzusetzen?
Total. In der Dokumentation zum Videoclip hört man die Intensität beim Dreh sehr gut, die Lautstärke der Schreie. Es wurde immer lauter und wilder, bis wir irgendwann dachten, wirklich in dieser Zeit zu sein. Da ging es gar nicht mehr um Rechtsprechung, sondern darum, wer ist schuldig und fertig. Und wir machen alle mit. Es war wirklich aufwühlend, weil Realität und Fiktion zu verschwimmen begannen. England ist ein optimaler Drehort, dort ist es im November immer düster und regnerisch.
Der spektakuläre Videoclip „1589“ kommt wie ein Minispielfilm daher. Was ist die Botschaft dieses Clips?
Mit Botschaften tue ich mich schwer, weil ich mich nicht gern als Mahner sehe. Für uns ist eher der cineastische Ansatz wichtig, den wir 2022 mit „Monumental Mass“ eingeschlagen haben. Zu interagieren mit echten Schauspielern, Regisseuren und Requisiten. Die Schauspielerei ist für uns viel interessanter als ein Blue Screen und künstliche Intelligenz. Bei allen Vorteilen, die diese Technik hat – da fehlen mir die Emotionen. Wir wollen live nicht nur ein Konzert spielen, sondern im übertragenen Sinne auch eine Art Theaterstück aufführen. Aber weit weg von einem Musical.
Welche Rolle spielt KI bei der Arbeit von Regisseur Adam Barker?
Das ist alles handgemacht, auch die Verwandlung des Wolfes. Sie wurde in mehreren Schnitten und mit Maskenbildnern erarbeitet. Das dauert Stunden. In einem Setting wie einem Freilichtmuseum oder einer kalten nassen Kirche agiert man anders als in einem warmen Studio vor der grünen Wand. Unser Schlagwort ist Authentizität.
Sagt dieser Song auch etwas über den Aberglauben in unserer aufgeklärten Gesellschaft aus?
Aberglauben gibt es immer noch. Schauen Sie sich mal an, wie die Fußballer auf den Rasen rennen und abergläubische Handzeichen machen: Dreimal bekreuzigen, fünfmal den Rasen küssen. Aberglaube ist ein Halt. Am Ende des Tages hat jeder einen Glauben, der ihn bestärkt. Die Ereignisse von 1589 hatten auch eine politische Komponente: diejenigen mit anderen Meinungen mundtot zu machen. Zum Glück ist es heute möglich, in einer Demokratie seine Meinung ohne Strafe frei äußern zu können. Ein großes Privileg.
Heute glaubt man nicht mehr an Werwölfe und den Teufel, aber es gibt bei einigen eine diffuse Angst vor vermeintlichen Echsenmenschen. Warum nimmt der Aberglaube in der heutigen aufgeklärten Zeit wieder zu?
Ohne das empirisch belegen zu können: Ich glaube, die Menschen suchen immer mehr Halt in Dingen. Wenn du dir eine Wahrheit der Welt zurechtlegst und nach Beweisen suchst, wirst du auch Beweise für alles Mögliche finden. Und das ist das Absurde. Der religiöse Glaube stützt sich ja nie auf Tatsachen, sondern auf das, was einem gut tut. Um das auf Powerwolf zu übertragen: Für viele Menschen, die unsere Musik lieben, ist das auch eine Art Glaube. Unsere Musik gibt Menschen Kraft. In der Corona-Pandemie hat man gemerkt, wie sehr Menschen leiden, wenn solche Dinge einfach wegbrechen.
Sie sparen auch auf dem neuen Album nicht mit Kirchenkritik. Ist Ihnen das ein echtes Anliegen?
Kirchenkritik ja, aber subtil. Also nicht wirklich diese Institutionskritik. Mit „Glaubenskraft“ auf dem letzten Album haben wir das sehr deutlich gemacht. Es geht bei uns eher darum, in solche Geschichten tiefer reinzugehen. Diesmal sind es die von der Jungfrau von Orléans oder den „Heretic Hunters“. Das waren die sogenannten Katharer in Südeuropa, die der katholischen Kirche ein Dorn im Auge waren. Sie glaubten auch an Gott, aber irgendwie anders und wurden zu mächtig. Deswegen wurden sie ganz schnell zu Ketzern erklärt und verbrannt. Dieses Mundtotmachen in der Vergangenheit kann man definitiv kritisieren, in unseren Texten geht es aber nicht direkt um die Kritik daran, sondern um Berichte. Das ist für uns die spannende Verbindung zwischen der Mythologie und der Religion. Aber ich sage mit vollem Selbstbewusstsein: Wir sind auch Unterhalter.
Das dramatische Leben der schönen und wehrhaften Jungfrau von Orléans, die mit 13 Jahren die Stimme von Gott zu hören glaubte und auf dem Scheiterhaufen endete, fasziniert seit jeher die Künstler.
Ich hatte einen Interviewtag in Paris. Da war das Thema „Jeanne d’Arc“ allgegenwärtig. Es hat in Frankreich einen ganz anderen Stellenwert als hier bei uns. Dass eine junge Frau die Vision hatte, die Franzosen vom Krieg zu befreien, übt eine große Faszination aus. Und sie hat sich durchgesetzt in einer sehr von Männern dominierten Welt von Königen und Kriegern. Sie wurde dann auch Soldatin. Eigentlich waren alle ihr zugewandt, aber sobald sie kritische Töne äußerte, wurde sie den Obrigkeiten zu mächtig und in Rouen dramatisch auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihre Asche hat man überall verstreut, damit die Menschen ihr nicht nachpilgern. Die Faszination des Guten war in dem Fall so präsent, dass es der Kirche ein Dorn im Auge war. Hier hatten wir sogar historische Belege von den Ereignissen. Wir wollten schon länger über Jeanne d’Arc schreiben, brauchten dazu aber ein gutes Lied. Es sollte eine marschierende Richtung vorgeben. Aber wir wollen hier nichts in Richtung Feminismus aussagen, das geht mir zu weit. Ich will es nicht höher hängen, als es ist.
Apropos Feminismus: Was hat Sie zu dem satirischen Song „Kyrie Klitorem“ (Herr, erbarme dich der Klitoris) bewogen?
Für ein Gegenstück zu den maskulinen Songs „Resurrection by Erection“ (Wiederauferstehung durch Erektion) und „Coleus Sanctus“ (Heiliger Hoden) wurde es endlich mal Zeit. Wir nehmen uns die künstlerische Freiheit, mit Worten zu spielen und Witz und Ironie mit reinzubringen. Wir haben schon sehr martialische Songtitel, da weiß man, dass wir alles sehr ernst nehmen, was wir tun. Aber wir haben auch gern Spaß an der Sache. Man sollte nicht alles bierernst nehmen.
Betrachten Sie die Machokultur des Metal gern durch die ironische Brille?
Machokultur? Schwierige Frage. Ich habe grundsätzlich den Eindruck, dass die Szene sich stark verändert hat. Auf Konzerten sind tendenziell mehr Männer als Frauen. Warum, weiß ich nicht. Aber auch ganz viele Frauen hören Heavy Metal. Mein Eindruck ist, dass diese Community sehr homogen und rücksichtsvoll ist. Machogehabe kenne ich persönlich weder von Backstage noch von Konzerten. Ich bin auch froh darüber. Heute werden Dinge weniger akzeptiert, wenn sich zum Beispiel auf dem Wacken Open Air jemand danebenbenimmt und komische Sprüche gegen andere macht. Dann muss man einfach Zivilcourage zeigen und der Person sagen, dass sie sich an die ordentlichen Regeln halten muss, wenn sie mitfeiern will. Wir betonen auf unseren Konzerten zwar immer, wir dürfen alle Sünder sein, aber das ist in einem anderen Kontext gemeint. Wir dürfen gerne hedonistisch unterwegs sein, Ekstase zeigen und frenetisch feiern.
Apropos Konzerte: Im August sind Sie auf Ihrer bereits zweiten USA-Tournee als Headliner.
Weltpremiere von „Wake up the Wicked“ ist in LA. Besser kann es nicht sein. Es ist beeindruckend, wie viele Powerwolf-Fans es drüben schon gibt. Nach den USA schwingen wir uns in den Nightliner und gehen auf unsere bislang größte Europatour. Das sind aufregende Zeiten.
In Los Angeles rocken Sie das legendäre Hollywood Palladium, wo einst Jimi Hendrix spielte und heute Leute wie Iggy Pop auftreten. Was ist das für ein Gefühl, auf solch einer geschichtsträchtigen Bühne zu stehen?
Da bin ich schon stolz drauf und fühle mich geehrt, in solch einem Laden spielen zu dürfen. In New York ist es das Brooklyn Paramount. Es sieht aus wie ein uralter Theatersaal. Fantastisch.
Wäre es für Powerwolf nicht an der Zeit, einmal in Los Angeles ein Album mit einem amerikanischen Top-Produzenten aufzunehmen?
Ehrlich gesagt reizt uns das nicht. Ich wüsste nicht, was ein Bob Rock mit uns machen soll. Das hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber wir haben ein Team um uns geschart, mit dem wir sehr glücklich sind. Ich fände es durchaus interessant, solche Leute mal mit im Team zu haben. Aber zu sagen, Rick Rubin sollte unser nächstes Album produzieren, würde bedeuten, unsere Geschicke in fremde Hände zu legen. Und das haben wir noch nie getan. Das wollen wir auch nicht.