Der deutsche Traum vom Titel bei der Heim-EM ist im Viertelfinale geplatzt. Dennoch war das Turnier ein Erfolg und ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Spiel verloren, Titel verpasst – aber viele Fans zurückgewonnen. So oder so ähnlich lautet das Fazit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft nach dem Viertelfinal-Aus bei der Europameisterschaft im eigenen Land. Nein, mit dem vierten EM-Titel ist es nichts geworden. Nicht mal mit dem Endspiel oder Halbfinale. Und ein Sommermärchen 2.0 war es auch nicht. Konnte es auch nicht werden. Nicht nur, weil es im Gegensatz zum Original 2006 so viel geregnet hat, sondern weil es nie gut ist, wenn alte Geschichten einfach nur aufgewärmt werden.
Eine neue Geschichte geschrieben
Doch die Mannschaft von Julian Nagelsmann hat eine neue, eigene Geschichte geschrieben. Und es besteht Hoffnung, dass es der Start einer noch größeren Geschichte gewesen sein könnte. Wenn man sich erinnert, wo das Team herkommt, wie es bei den vorherigen drei Turnieren aufgetreten ist und abgeschnitten hat und wie düster die Prognosen nach der Trennung von Bundestrainer Hansi Flick und auch noch unter Nagelsmann nach den fast schon peinlichen Leistungen im Oktober gegen die Türkei und in Österreich waren, dann muss man konstatieren: Das DFB-Team hat das Ruder noch rechtzeitig herumgerissen. Es hat ein ordentliches Turnier gespielt, in dem es am Ende zwar schon im Viertelfinale ausgeschieden ist, aber das nach einer guten Leistung mit viel Pech gegen die sicher stärkste Mannschaft im Turnier. Und vor allem: Sie hat durch ihr Auftreten, auf und neben dem Platz, wieder eine Verbindung zu den Fans hergestellt. Hat dafür gesorgt, dass das Heim-Turnier tatsächlich auch atmosphärisch ein großer Erfolg war. Hat bei den eigenen Spielen für gute Stimmung in den Stadien, volle Fanmeilen und gegenüber der WM in Katar fast verdoppelte TV-Einschaltquoten gesorgt. Und hinterlässt am Turnier-Ende das Gefühl, dass da wieder eine Mannschaft entsteht, mit der sich die deutschen Fußball-Fans identifizieren können. Und das vorsichtigen Anlass zum Optimismus für die WM in zwei Jahren in den USA, Kanada und Mexiko gibt.
„Das tut weh. Auch, dass man zwei Jahre warten muss, bis man Weltmeister wird“, sagte Nagelsmann am Tag nach dem Ausscheiden. Und fügte mit dem ihm eigenen spitzbübischen Lächeln in Richtung der Journalisten hinzu: „Die gefällt euch die Aussage, da werden die Augen groß. Wahnsinn. Was soll ich sagen, dass wir in der Vorrunde ausscheiden? Natürlich wollen wir Weltmeister werden, das will jede Mannschaft!“ Der langjährige Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff bezeichnete die Aussage bei „Bild“ prompt als „mutig“ und als eine, „die ich nicht gemacht hätte. Es ist noch ein Weg, es wird sicherlich noch ein Umbruch stattfinden, man wird noch sehen, wo sich die Mannschaft entwickeln kann. Jedes Turnier ist ein langer Weg, also glaube ich, dass man jetzt noch nicht vom Weltmeister-Titel reden sollte“.
Inhaltlich alles nicht nur nachvollziehbar, sondern auch richtig. Doch Bierhoffs Entgegnung lebt von der Vorsicht, die die letzten Jahre eigentlich gelehrt haben. Aber unter Nagelsmann ticken die Uhren anders. Mutig sein, auch mal forsch, auch mal etwas raushauen, große – vielleicht übergroße – Ziele deutlich formulieren, Optimismus ausstrahlen, all das lebt der 36 Jahre junge Bundestrainer vor. Auch auf das Risiko hin, dass ihm seine forschen Aussagen irgendwann um die Ohren fliegen. Doch das ist nach dieser EM nicht passiert, obwohl Nagelsmann da auch im Vorfeld davon gesprochen hatte, natürlich den Titel gewinnen zu wollen. Was denn sonst?
Als das Ziel verpasst war, gab es fast überhaupt keine Kritik. Überraschenderweise kam die stärkste aus Brigthon, wo der noch einmal fünf Jahre jüngere Trainer Fabian Hürzeler seit Kurzem den heimischen Premier-League-Club trainiert. „Sportlich war es kein überragendes Turnier. Wir haben gegen keine Topnation gewonnen, sondern gegen die erste Topnation verloren. Schon gegen die Schweiz hatten wir unsere Probleme“, sagte Hürzeler in der „FAZ“: „Wenn wir uns da die Gegentore anschauen, waren wir nicht gut gestaffelt.“ Zudem sei es „eine Schwäche im gesamten Turnierverlauf und letztlich Grund für das Ausscheiden, dass bei uns der absolute Wille gefehlt hat, die Box zu verteidigen.“
Die Fragen im Angriff bleiben bestehen
Auch dass lässt sich inhaltlich alles nachvollziehen. Wenn man die einzelnen Spiele seziert, muss man feststellen, dass dem 5:1 gegen schwache und früh dezimierte Schotten ein ordentliches 2:0 gegen Ungarn folgte, ein 1:1 in der Nachspielzeit gegen die Schweiz und ein 2:0 im Achtelfinale gegen Dänemark, bei dem zwei glückliche, wenn auch richtige Entscheidungen am Wendepunkt des Spiels dafür sorgten, dass Deutschland mit 1:0 führte statt zurücklag. Es gab defensive Schwächen und auch über die ein oder andere Entscheidung Nagelsmanns ließ sich trefflich diskutieren. War es richtig, in jedem Spiel mit Kai Havertz als verkapptem Stürmer aufzulaufen statt mit Niclas Füllkrug als klassischem Torjäger? Wieso begann gegen Spanien Leroy Sané und nicht der zu Turnierbeginn gesetzte und nach seiner Einwechslung wesentlich stärkere Florian Wirtz? Und wieso stand im Viertelfinale plötzlich Emre Can in der Startelf und nicht mehr Robert Andrich? Wegen der pinken Haare sicher nicht.
All das sind Diskussionen, die im DFB und vor allem im Kreise der Nationalmannschaft geführt werden müssen und werden. Dennoch muss das Fazit nach dieser EM klar positiv ausfallen. Weil man daran denken muss, woher diese Mannschaft kam. Weil man daran denken muss, welche Untergangsstimmung noch im März herrschte, garniert von der typisch deutschen Diskussion, dass doch Rudi Völler das Team bei der EM betreuen müsse. Nagelsmann hat damals – auch schon unter höchstem Risiko für sein persönliches Standing – sehr viel über den Haufen geworfen. Manch einer betrachtete das als Aktionismus so kurz vor solch einem wichtigen Turnier. Doch die Maßnahmen waren nötig und sie erwiesen sich alle als hilfreich.
Dadurch hat Nagelsmann es geschafft, eine Mannschaft zu bauen, die tatsächlich wieder eine war. Und die durch ihr Auftreten begeisterte und mitriss. Er hat das Gefühl erzeugt, dass mit den richtigen Maßnahmen sehr viel erreichbar ist. Und dass die Verantwortung dafür bei ihm in guten Händen liegt. „Wir haben etwas ausgelöst, die Fans hinter uns gebracht, die Kopplung zur Nationalmannschaft wiederhergestellt, Identifikation gestiftet“, sagte DFB-Präsident Bernd Neuendorf: „Die Leute waren richtig in einem Rausch“. Auch eben dank Nagelsmann, der „das Amt des Bundestrainers ein Stück weit neu definiert“ und „unglaubliche Energie ausgestrahlt“ habe. Zudem zeigte sich der Bundestrainer auch noch menschlich nahbar. „Man merkt, ich kämpfe mit den Tränen“, sagte er am Morgen nach dem Spanien-Spiel und schämte sich seiner feuchten Augen auch nicht. „Sehr viele Spieler haben geweint“, berichtete Nagelsmann: „So tut es noch ein bisschen mehr weh. Wir hätten den Fans gerne mehr gegeben. Und gerne den Titel geholt.“
Es wird einen Umbruch geben
Doch so gab sein Team den Fans etwas, was fast genauso viel wert ist. Hatte man doch – ob berechtigt oder nicht – nach dem WM-Aus 2018 in Russland noch das Gefühl, hier sei eine Truppe ausgeschieden, der das ein Stück weit egal war. Und in der Amazon-Doku nach dem erneuten WM-Aus vier Jahre später in Katar hatte man haarklein den Zerfall einer uninspirierten sowie teilweise hilf- und wehrlosen Mannschaft beobachten können. Nun stand da eine Mannschaft auf dem Platz, in der einer dem anderen half, die sich für das Nationaltrikot zerriss – und der das Aus dann auch enorm nahe ging.
Danach haben sie gelechzt in Fußball-Deutschland. Nach zehn Jahren in denen die bei der Heim-WM 2006 einsetzende Euphorie und Emotionalisierung rund um das DFB-Team nach dem folgerichtigen WM-Triumph von Rio 2014 Stück für Stück zerfallen war und in einer immer größer werdenden Entfremdung mündete. Diesmal wurde sogar Torhüter Manuel Neuer – als gebürtiger Gelsenkirchener und Ex-Schalker sowie jahrelanger Bayern-Profi gleich doppeltes Feindbild aller Fans von Borussia Dortmund – im BVB-Stadion gefeiert. Weil es eben der Neuer im Nationaltrikot war.
Bleibt die Frage: Was kommt danach? Deutschland hatte bei dieser EM das älteste Team an den Start geschickt, doch der Schnitt war vor allem durch einzelne Spieler nach oben getrieben worden. Die drei letzten verbliebenen Weltmeister werden wohl aufhören: Toni Kroos (34) beendet seine Karriere, Thomas Müller (34) bestätigte mittlerweile den Rücktritt aus dem Nationalteam, bei Neuer (38) zeichnet sich das zumindest ab. Doch mit Ilkay Gündogan (33), Marc-André ter Stegen (32), Antonio Rüdiger (31) oder Joshua Kimmich (29) gibt es noch einen erfahrenen Unterbau. Dazu kommen die Hoffnungsträger Jamal Musiala und Florian Wirtz (beide 21), auch Kai Havertz ist erst 24.
Darauf lässt sich für 2026 und danach vor allem mit den nachrückenden U17-Weltmeistern aus dem Vorjahr sicher einiges aufbauen. Doch gerade dieses Turnier hat auch gezeigt: Ein Aufbau ist gut und schön, doch wenn es zählt, muss ein Trainer analysieren, was dem Team gut tut und was es braucht – und zur Not alles noch mal umwerfen. Dass er sich das erstens traut und dass er das zweitens kann, hat Julian Nagelsmann bewiesen.