US-Forscher konnten erstmals mithilfe von Gehirn-Scans sechs verschiedene Arten oder sogenannte Subtypen von Depressionen identifizieren. Damit ebnen sie den Weg für einen gezielteren Behandlungsansatz der global weit verbreiteten psychischen Krankheit.
In nicht allzu ferner Zukunft könnte eine Screening-Untersuchung auf Depressionen einen speziellen Gehirnscan beinhalten, um möglichst exakt die beste Therapiemethode ermitteln zu können. Damit könnte die bislang meist praktizierte Behandlung, die im Wesentlichen auf dem Trial-and-Error-Prinzip beruht (Versuch und Irrtum) und bei der dem Betroffenen so lange verschiedene Medikamente verabreicht werden, bis irgendwann eines davon helfend anschlägt, abgelöst werden. Der bisherige Behandlungsansatz kann Monate oder Jahre dauern. In dieser langen Zeit kann es zu einer Verschlimmerung der depressiven Störungen kommen, die noch immer hinsichtlich ihres Schweregrades zu den am meisten unterschätzten und dabei weltweit am häufigsten auftretenden psychischen Erkrankungen gehören. Laut dem Bundesgesundheitsministerium wird davon ausgegangen, dass 16 bis 20 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an einer Depression oder einer chronisch depressiven Verstimmung namens Dysthymie erkranken – wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer und Ältere öfter als Jüngere. Laut dem „Gesundheitsatlas Deutschland“ waren hierzulande 2022 rund 12,5 Prozent der Bevölkerung an Depressionen erkrankt, wobei in die Statistik Personen ab dem zehnten Lebensjahr Eingang gefunden haben. Die „Stiftung Deutsche Depressionshilfe“ geht davon aus, dass 5,3 Millionen der erwachsenen Bundesbürger im Alter zwischen 18 und 79 Jahren im Laufe eines Jahres an depressiven Störungen erkranken. Laut der „Stiftung Gesundheitswissen“ erfüllt hierzulande jeder siebte Erwachsene mindestens einmal im Laufe seines Lebens die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer Depression.
Bislang Trial-and-Error-Prinzip
Psychische Erkrankungen sind häufig schwer zu diagnostizieren – und noch weitaus schwieriger zu therapieren. Rund 30 Prozent der Betroffenen leiden unter einer sogenannten behandlungsresistenten Depression. Bei ihnen können weder Medikamente noch Psychotherapien eine Besserung der Symptome herbeiführen. Und bei zwei Drittel der Menschen mit Depressionen kann die bei ihnen eingesetzte Therapiemethode die Symptome nicht vollständig auf ein gesundes Maß zurückführen. Die Ursache von Depressionen konnte in der Forschung noch nicht eindeutig geklärt werden. Auch wenn dabei wahrscheinlich eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle spielen. Zu denen auch ein gestörter Nervenstoffwechsel im Gehirn gezählt wird. Dabei könnte die aus dem Ruder laufende Produktion und Verteilung der für die Übertragung zwischen den Nervenzellen verantwortlichen Botenstoffe, Neurotransmitter genannt, ursächlich sein.
Den Vorgängen und Veränderungen im Gehirn von an Depression Erkrankten wandten sich denn auch US-Wissenschaftler der kalifornischen Stanford University unter Leitung von Leanne Williams, Professorin für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften sowie Leiterin des Zentrums für psychische Gesundheit und Wellness und ihrem auf Neurowissenschaft spezialisierten Kollegen Leonardo Tozzi in einer bemerkenswerten, jüngst im Fachmagazin „Nature Medicine“ veröffentlichten Studie zu. Da der Partner von Prof. Williams selbst von Depressionen betroffen ist, hatte sie schon vor Jahren nach neuen Wegen gesucht, um die Krankheit gezielter und individueller behandeln zu können und endlich eine zuverlässige Methode zu finden, bei der die Bestimmung des wirksamen medikamentösen Antidepressivums oder der möglichst effektiven Psychotherapie nicht mehr vom Prinzip „Versuch und Irrtum“ abhängig sein sollte. „Es ist sehr frustrierend, für Depressionen keine bessere Alternative zu diesem Einheitsansatz zu haben“, so Prof. Williams. „Das Ziel unserer Arbeit ist es, herauszufinden, wie wir es direkt beim ersten Mal richtig machen können.“
Dafür hatte das Team die biologischen Vorgänge im Gehirn von an Depression und Angstzuständen Erkrankten unter die Lupe genommen. Mittels funktionaler Magnetresonanztherapie (fMRT) wurde die Gehirnaktivität von 801 Personen, bei denen zuvor das Vorliegen von Depressionen oder Angstzuständen diagnostiziert worden war, mit der entsprechenden Aktivität von 137 gesunden Menschen verglichen. Wobei sie sich auf genau jene Gehirnregionen konzentrierten, die früheren wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge mit diesen beiden Erkrankungen in Verbindung gebracht worden waren: „Schaltkreis für Ruhestand, Schaltkreis für Salienz, Schaltkreis für Aufmerksamkeit, Schaltkreis für negative Affekte, Schaltkreis für positive Aspekte und Schaltkreis für kognitive Kontrolle“. Wobei sie die Gehirnaktivitäten sämtlicher Probanden sowohl im Ruhestand als auch bei verschiedenen Aufgaben, mit denen die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten überprüft werden konnten, beobachtet hatten. Mithilfe eines maschinellen, künstliche Intelligenz nutzenden Lernverfahrens, der sogenannten Clusteranalyse, konnten sie die gewonnenen Hirnbilder der Probanden anschließend basierend auf sechs verschiedenen Aktivitätsmustern sechs unterschiedlichen Gruppen zuweisen. In einem zweiten Testdurchlauf erhielten danach noch 250 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Erkrankte je eines der drei gängigen Antidepressiva oder unterzogen sich einer Gesprächstherapie.
Sechs verschiedene Aktivitätsmuster
Die Hirnscans offenbarten bei den Patienten sechs deutlich unterschiedliche Aktivitätsmuster. Weshalb die Wissenschaftler sechs biologische Subtypen oder sogenannte Biotypen bei Depressionen oder Angstzuständen klassifizierten. Was laut den Forschern ein klarer Hinweis darauf war, „dass es mehrere neuronale Bahnen geben könnte, die zur klinischen Manifestation von Depression und Angst führen.“ Wobei die jeweiligen Subtypen mit unterschiedlich starken und teilweise divergierenden Symptomen verknüpft werden konnten. Bei dreien dieser Subtypen konnten sie zudem signifikante Erkenntnisse bezüglich der Wirksamkeit von Behandlungsansätzen gewinnen. „Dies ist das erste Mal, dass wir zeigen konnten, dass Depressionen durch verschiedene Funktionsstörungen des Gehirns erklärt werden können“, so Prof. Williams. Folgende sechs Biotypen konnten ermittelt werden, wobei die verwendeten Buchstaben für bestimmte Hirnregionen stehen:
Biotyp CA+: Dieses Aktivitätsmuster tauchte am häufigsten auf. Bei ihm verhalten sich die für kognitive Kontrolle zuständigen Gehirnbereiche (die beispielsweise für die Steuerung des eigenen Verhaltens, der Bewegung oder der Gefühle zuständig sind) überaktiv. Die Probanden mit diesem Muster waren ängstlicher und empfanden weniger Freude im Vergleich zu den anderen Testpersonen.
Biotyp (DC+SC+AC+): Bei diesem Biotyp konnte eine erhöhte Aktivität in für Aufmerksamkeit und Ruhe zuständigen Gehirnbereichen beobachtet werden. Was zur Folge hat, dass sich Betroffene dieses Typs besonders ausgeprägt mit Problemlösungen beschäftigen.
Biotyp AC-: Bei diesem Biotyp konnten die Wissenschaftler ermitteln, dass ein für Aufmerksamkeit verantwortlicher Gehirnbereich weniger aktiv ist als bei gesunden Menschen normalerweise üblich. Laut den Forschern litten davon Betroffene daher seltener unter Anspannungen als Patienten mit anderen Biotypen.
Biotyp NSA+PA+: Davon Betroffene zeigten Überaktivität in für die Verarbeitung von Emotionen zuständigen Gehirnbereichen. Diese Probanden empfanden daher weniger Freude als andere Testpersonen und sie neigten generell auch mehr zur Grübelei.
Biotyp (DXSXAXNXPXCX): Dieser Biotyp taucht selten auf. Bei ihm konnten keine auffälligen neurologischen Unterschiede im Vergleich zu gesunden Menschen aufgezeigt werden. Weshalb die Forscher die Ursache der biologischen Auffälligkeiten in anderen Hirnregionen vermuten, weil offensichtlich noch nicht alle Zusammenhänge im Gehirn bezüglich der Depressionen aufgeklärt worden seien.
Biotyp (NTCC-CA): Auch dieser Biotyp wurde von den Forschern als selten eingestuft. Allerdings entspreche dessen Aktivitätsmuster nicht der für Depressionen eigentlich typischen Ausprägung. Davon Betroffene sollen weniger zum Grübeln oder zu immer wiederkehrenden Denkprozessen neigen.
Dass ein möglicher therapeutischer Erfolg ganz stark vom jeweils vorliegenden Biotyp abhängig sein kann, konnten die Wissenschaftler durch die Vergabe von Medikamenten oder die Anwendung einer Gesprächstherapie anhand von drei Subtypen nachweisen. Bei dem Biotypen mit den drei überaktiven Hirnregionen „DC+SC+AC+“, die für Aufmerksamkeit und Ruhe sowie für Problemlösungen verantwortlich waren, half am besten eine Verhaltens- und Gesprächstherapie. Die hingegen bei dem Biotypen „AC-“, bei dem die Nerven zur Steuerung der Aufmerksamkeit weniger aktiv waren, vergleichsweise wenig bewirkt hatte. Bei dem für die Überaktivität in den kognitiven Regionen des Gehirns zuständigen Subtyp „CA+“ sprachen am besten Antidepressiva an, wobei besonders der Wirkstoff Venlafaxin, der unter dem Handelsnamen Effexor bekannt ist und bei dem es sich um einen Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer handelt, die Depressions-Symptome deutlich besser als bei Patienten mit anderen Subtypen lindern konnte.
Die Forscher zogen daraus das Fazit, dass bei Betroffenen, bei denen bestimmte Gehirnareale überaktiv sind, die Anwendung von Verhaltens- und Gesprächstherapien am sinnvollsten sein dürfte. Wohingegen Betroffene, bei denen die Gehirnbereiche für Aufmerksamkeit weniger aktiv sind, am meisten von der medikamentösen Behandlung profitieren dürften. Je nach Depressionsform und Biotyp können die Gehirnscans laut den Forschern daher nun unterschiedliche Therapie-Ansätze nahelegen. „Im Grunde ist dies eine Demonstration eines personalisierten Ansatzes für die psychische Gesundheit, die auf objektiven Messungen der Gehirnfunktion beruht“, so Prof. Williams. Die verschiedenen Biotypen korrelierten übrigens auch mit Unterschieden in den Symptomen und der Aufgabenleistung der Studienteilnehmer. Die Probanden mit überaktiven kognitiven Hirnregionen wiesen beispielsweise ein höheres Maß an sogenannter Anhedonie (Unfähigkeit, Freude zu empfinden) auf als Betroffene mit anderen Biotypen. Sie schnitten auch bei Aufgaben mit einer Exekutivfunktion deutlich schlechter ab. Probanden mit dem Subtyp, der am besten auf eine verbale Psychotherapie ansprach, machten zwar ebenfalls Fehler bei Aufgaben der Exekutivfunktionen, zeigten dafür aber gute Leistungen bei kognitiven Aufgaben.
Die neue Studie mit ihren Erkenntnissen birgt laut den Forschern allerdings noch einen klaren Schwachpunkt. Denn der Aufwand mit MRT-Aufnahmen im Ruhestand und bei der Lösung kognitiver Aufgaben ist sehr groß, damit auch sehr teuer und vielerorts allein schon aus Kapazitätsgründen kaum zu bewältigen. Die Wissenschaftler ordneten ihre Arbeit daher auch selbst nur als einen ersten Schritt auf dem Weg zu besserer Diagnose und Behandlung von Depressionen ein. Sie selbst wollen Folgestudien mit einer größeren Probandenzahl und dem testweisen Einsatz weiterer Behandlungsmethoden sowie der Vergabe neuartiger Medikamente abseits der gängigen Antidepressiva aufnehmen. An der Stanford University werden die Gehirnscans auch schon experimentell zur Diagnose und Behandlung von Depressions-Patienten eingesetzt. Zudem planen die Stanford-Wissenschaftler die Entwicklung eines speziellen, KI-basierten Instrumentes, um möglichst frühzeitig den spezifischen Biotyp der Depression als Hilfe für die optimale Behandlungsoption ermitteln zu können. „Indem wir eine klinische kognitive Signatur zur Personalisierung von Behandlungen vorantreiben, sprechen wir ein dringendes öffentliches Bedürfnis an“, so Prof. Williams. „Mit unserem Projekt wollen wir individualisierte, hirnbasierte Bewertungen in großem Maßstab entwickeln, um die klinische Entscheidungsfindung zu verbessern und die Ergebnisse für Millionen von Menschen, die weltweit von Depressionen betroffen sind, zu optimieren.“ An fehlendem Geld wird es dem ambitionierten Projekt wohl nicht mangeln, denn für die kommenden fünf Jahre wurden Prof. Williams und ihrem Team zusätzliche 18,86 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt.