Tränen der Wehmut benetzten die Rasenflächen von Wimbledon in diesem Jahr ebenso wie der Regen. Sir Andy Murray spielte sein letztes Match im traditionsreichsten Tennisturnier der Welt. Alexander Zverev verletzte sich und haderte mit seinem Grand-Slam-Pech.
Es ging um die Meisterschaft. In Video- und PC-Spielen. Als privates Nebenprogramm des Tennis-Grand-Slams von Wimbledon, die Sascha Zverev mit Experten spielen könnte. Was dazu fehle, ordere er schnell bei Amazon, scherzte Deutschlands Nummer eins, die zu diesem Zeitpunkt ein perfektes Wimbledon-Turnier zelebrierte. Huch, jetzt habe er den Namen genannt, witzelten die Menschen um ihn herum im Glaswand-Studio, aus dem Prime seine Hauptsendung übertrug. Am Knotenpunkt der riesigen Court-Anlagen des prestigereichsten Tennisturniers der Welt.
Meinungsstarke Kommentatoren
„The Championships, Wimbledon bei Prime Video in Deutschland und Österreich werden von Katharina Kleinfeldt und Alex Schlüter moderiert. Zu den Experten gehören unter anderem Andrea Petkovic, Sabine Lisicki, Michael Stich, Mischa Zverev und Dustin Brown“, hatten die neuen Übertragungsrechte-Inhaber im Vorfeld höchst offiziell mitgeteilt. Im „Hauptprogramm“ wurden Partien und Spielerinnen im Glaswand-Studio meinungsstark filetiert. Besonders von Petko und Stich. Die 36-Jährige zog Parallelen, wie Djokovic fast wehrlos in drei Sätzen als 37-Jähriger im Finale gegen den 21-jährigen doppelten Wimbledon-Sieger Carlos Alcaraz unterlag, zu ihrer eigenen Rücktritts- und Verletzungsgeschichte. Erst könne man noch viel mit Erfahrung ausgleichen: „Doch eines Tages wachst Du auf und bist alt.“ Im Profitennis geht das schnell. Dabei wirkte das Finale der stets lachenden, 28-jährigen Italienerin Jasmine Paolini gegen die gleichaltrige Titelabholerin Barbora Krejcikova wie ein Match zweier hochklassig überraschender Jungtalente.
Erfrischend, ging es doch diesmal sonst viel um Rückzüge. So ließ Nadal, der Sandplatzkönig aus Spanien, auf seiner Abschiedstour den legendären Rasen aus. Wohlweislich: Das vollgesogene Grün bereitete den Spielern, die kaum noch auf Gras und immer temporeicher spielen, Probleme. „Ich bin traurig, in diesem Jahr nicht die großartige Atmosphäre dieses tollen Events erleben zu können, das für immer in meinem Herzen sein wird“, teilte Rafael Nadal auf der Plattform X mit. Den Belag so kurz vor den Olympischen Spielen, „seinen letzten Olympischen Spielen“, zu wechseln, wäre schlecht für seinen Körper, hatte der 38-Jährige auch schon nach seinem Erstrunden-Aus gegen Alexander Zverev bei den French Open angedeutet.
Rafael Nadal verzichtete im Vorfeld
Sir Andy Murray hingegen zelebrierte seinen Abschied in Wimbledon meisterlich. Er, der zum erweiterten Kreis der „Großen Vier“, neben Nadal, Roger Federer und Novak Djokovic gehörte. Ein Schotte. Und Schotten verstehen es, empathisch und freudig zu feiern. Das wissen wir nicht erst seit der Fußball-EM. Für Murray sangen Honoratioren und Fans Lobeshymnen. Mutter Judys Augen glänzten feucht. Gattin Kim und Papa William applaudierten mit den anderen Zuschauern schon im Stehen, als Murray mit seinem Bruder Jamie auf den Center Court einzog. Um zu einem letzten Doppel bei seinem Heimat-Grand-Slam anzutreten. Ein Einzel gab die angeschlagene Physis des Tennis-Ritters nicht mehr her. Beim Doppel warf sich der dreifache Grand-Slam-Sieger in gewohnter Manier mit vollem Körpereinsatz den Bällen entgegen.
Und irgendwie war es gut, dass es nach Rückblicken am Ende des verlorenen Matches und dem tränenreichen On-Court-Interview keine Verlängerung der Abschiedsspiele für Murray mehr gab. Dass das verlorene Doppel seine letzte Partie war. Nicht wie damals, 2019, als Murray mit Spots und Huldigungen von Freunden und Rivalen in den scheinbaren Tennisruhestand geschickt wurde. Als er leicht irritiert, ob der Verabschiedung, dastand, um schließlich mit künstlicher Hüfte zurückzukehren und sich zu den wichtigen Matches zurückzukämpfen.
„Ich will nicht aufhören. Es tut weh“, sagte der 37-Jährige jetzt unter Tränen beim Goodbye in Wimbledon. Nicht über seinen Körper, sondern über das Ende seiner Tennis-Karriere. Dieser Sport habe ihm so viel gegeben. Und er seinen Landsleuten: Mit seinem Wimbledon-Sieg 2013 beendete Andy Murray die 77-jährige Absenz der Briten von einem Grand-Slam-Titel auf der Insel. 2016 wiederholte der Schotte sein Glanzstück, für das ihn die Queen zum Ritter schlug. Doch mit dem 2024-er Doppel gegen die Australier Rinky Hijikata und John Peers (7-6, 6-4). war wirklich Schluss für den Sir. Geehrt, gewürdigt unter anderem mit einem Kurzfilm seiner Karriere, kommentiert von Venus Williams, Nadal und Roger Federer sowie Djokovic. Ohne Bonus-Partie, da ihm die britische US-Open-Siegerin Emma Raducanu einen Korb fürs gemeinsame Mixed gab. Das wollte Altstar Murray eigentlich im Duo mit dem Zukunfts-Jungstar, der einst in London die Tenniskunst lernte, spielen. Doch Raducanu, für die es im Einzel bis zum Achtelfinale glänzend lief, zog es vor, ihren Körper strategisch zu schonen.
Auch Dustin Brown will aufhören
So war das Murray-Murray-Doppel der passende Endpunkt der Karriere eines großen Schotten. Raducanu, Tochter einer Chinesin und eines gebürtigen Rumänen, hatte aber Pech: Die 21-Jährige traf auf die Neu-Neuseeländerin Lulu Sun, die eine derart furchtlose Match-Vorstellung bot, dass der Engländerin Raducanu im dritten Satz die Kraft ausging. Sun, die einen Abschluss in Internationalen Beziehungen hat, weiß, dass man Gegnerinnen auf Rasen am besten mit Slices beikommt. Und die setzte die 23-jährige Tochter einer Chinesin und eines Kroaten, die in der Schweiz aufwuchs, gegen die Britin kraftvoll ein. Obwohl sie – anders als Raducanu– Energie für die Qualifikationsrunde gebraucht hatte. „52 Winner zu spielen, unter diesen Umständen, auf dem Centre Court, gegen die Lokalmatadorin, das ist einfach unglaublich“, lobte Ashleigh Barty, Wimbledon-Champion von 2021, die bei der BBC als Expertin mitredete.
Murray hatte mit seinem langen Abschied Dustin Brown zum Rutschen auf seinem Kommentatoren-Stuhl gebracht: Denn der beliebte Serve-and-Volley-Spezialist Brown wollte noch seine Schläger nach seinen eigenen, ganz speziellen Vorgaben bespannen lassen. Sich auch mit Fitness und Essen auf sein Doppel am folgenden Tag vorbereiten.
Seit drei Jahren spielt der Deutsch-Jamaikaner kein Einzel mehr. Der 39-Jährige will zum Jahresende wegen anhaltender Rückenprobleme seine Karriere ganz beenden. Dem Mann, der Tennis als Lebensstil liebt, ist anzumerken, wie schwer auch ihm die Trennung von den Courts der Welt fällt, wo er mit seiner Spielintelligenz selbst Nadal kräftig zusetzte. In Wimbledon besiegte der Winsener 2015 den großen Spanier in der dritten Runde. Neun Jahre später war Brown bei Prime erstmals als Kommentator am Start.
Doppelt ungewohnt sind Bildschirmarbeit und Fernsehkommentare für ihn, der das Tennis der anderen zwar sehr gerne schaut, aber vorzugsweise live. So trifft man den Tennis-Akrobaten auch bei Challengern an, wo er am Rande zuschaut, wenn Freunde spielen. Im Achtelfinale schickten ihn die Turnierfavoriten, Marcel Granollers und Horacio Zeballos, für den Rest der zweiten Turnierwoche in den Wimbledon-Ruhestand: wenn auch nur auf dem Court. Das nächste, verheißungsvolle, deutsche Doppel, Constantin Frantzen und Hendrik Jebens, servierte indes, ähnlich wie Grand-Slam-Sieger Andreas Mies aus Köln mit seinem australischen Partner John-Patrick Smith, die an zwei und drei gesetzten Doppel-Paarungen ab.
Noch brillanter zeigte sich im Ergebnis der 16-jährige Enser Max Schönhaus: Bei den French Open stand er bei den Junioren im Halbfinale der Doppelkonkurrenz. In Wimbledon gewann er mit Alexander Razeghi aus den USA den Titel eines Wimbledon-Champions. Einen „großartigen Erfolg für das deutsche Tennis“ nannte dies DTB-Chefbundestrainer Michael Kohlmann und lobte die vielen „hochtalentierten Nachwuchstalente“ sowie die Nachwuchsarbeit des deutschen Verbands.
Die Deutschen sollten mehr auf Doppel-Erfolge schauen. Eine andere Disziplin mit tollen Sportlern. Die teils auch Einzel spielen. Siehe Laura Siegemund. Die amtierende Doppelweltmeisterin packte einmal mehr im Einzel ihren Ehrgeiz aus. Die Psychologin aus der Stuttgarter Region kam mit am weitesten unter den zwei Handvoll Deutschen in einem Grand Slam, wenn auch diesmal nicht über Runde zwei hinaus. Oder wie Jule Niemeier, die vor zwei Jahren im Viertelfinale stand. Ähnlich wie viele andere der deutschen Heimfahrer, lagen sie statistisch nah bei ihren Gegnern – und unterlagen doch. „Da muss etwas passieren“, analysierte Sabine Lisicki, die 2013 im Wimbledon-Finale stand und – schwangerschaftsbedingt – nicht selbst antrat. Dafür in der Kommentatoren-Kabine.
Barbara Rittner gestand Angelique Kerber trotz deren Erstrundenpleite körperliche Super-Fitness zu. Doch der Mut verließ Angie, die 2018 Wimbledon gewann, in Härtetest auf dem Rasen, von dem sie sich so viel bei ihrem Comeback nach der Geburt ihrer Tochter erhofft hatte. „Da fehlt die Matchpraxis“, sagte Expertin Rittner. „Aber trotzdem ist Wimbledon mein Wimbledon“, klang Kerber fast trotzig. Nächste Herausforderung: Olympia. In Paris darf die ehemalige Weltranglistenerste Deutschland im Einzel und Doppel vertreten, aber nicht im Mixed: Da tritt Laura Siegemund mit Alexander Zverev an. In Australien war diese Paarung beim United Cup erfolgreich. Die Männer-Doppel spielen Tim Pütz und Kevin Krawietz sowie Jan-Lennard Struff und Dominik Koepfer.
Zverev ist der Verzweiflung nahe
Besser als bei den Damen sieht es auf der Profi-Tour bei den Herren aus: siehe Jan-Lennard Struff. Der Sieger der diesjährigen BMW Open erlebt seinen späten Frühling, ist in super Form. Bis auf jenen Freitag, im Achtelfinale der ersten Turnierwoche von Wimbledon. Zwei Sätze, in denen Daniil Medwedew ihm keine Chance ließ, verlor der sympathische Neu-Erblondete zum Auftakt. In denen die Bälle partout nicht dort landeten, wo „Struffi“ sie hinhaben wollte. Dann Regenpausen, wieder und wieder. Den dritten Satz gewann der Dortmunder. Am Samstag spielte der 34-Jährige sich im vierten Satz bis ins Tiebreak, wo wenige Aufschläge über den Satzgewinn entscheiden. In diesem Fall auch über Medwedews Matchgewinn, der die Nase in der Entscheidung vorne und somit drei gewonnene Sätze hatte. Statistisch besaß Struffi gute Chancen, das Match zu drehen: So oft wie noch nie gelang das den Spielern in diesem Jahr nach zwei verlorenen Sätzen in Wimbledon.
Länger im „All England Lawn Tennis and Croquet Club“ zeigte sich Alexander „Sascha“ Zverev. Bis er eines von vielen Opfern des Wetters wurde. Vielleicht auch von Schuhnoppen, die den Rasen trotz der Nässe nicht beschädigen sollten. Zverev also war zunächst gut Freund mit dem Grün, spielte intuitiv und makellos. Bis zu seinem Ausrutscher-Kniefall im Achtelfinale, das er dennoch ohne Spielverlust gewann. Wie bislang alle Matches in diesem Turnier.
Gegen „Taylor Swift“ sollte der 27-Jährige im Viertelfinale antreten. Nicht wirklich: Dieser Versprecher kam Kommentatoren und Fans zuhauf über die Lippen, auch wenn es in Wahrheit um und gegen Taylor Fritz ging. Doch dann setzte sich die Verletzung durch. Nach zwei gewonnenen Sätzen drehte der US-Amerikaner das Match, während Zverev wie gewandelt wirkte: Knochenmarksödem und Kapselzerrung im Knie bremsten seine Energie und seine diesmal sehr guten Chancen auf den Titelgewinn aus.
„Alle zehn Jahre eine Verletzung würde auch genügen“, kommentierte Mischa das Grand-Slam-Unfall-Pech seines Bruders. Am Morgen zuvor habe Sascha kaum auftreten können und überlegt, ob er das Viertelfinale spielen soll.
Sascha Zverev haderte, gegen Tränen kämpfend, nach der schmerzhaften Niederlage bei Prime: „Ich habe alles gemacht. Es ist bitter.“ Schon vor seiner großen Verletzung bei den French Open habe er das Gefühl gehabt, den Titel holen zu können. Jetzt gab es in Wimbledon eine ähnliche Situation, die ihn an den Grand Slams zweifeln lasse. Und Olympia? „Momentan auf etwas freuen, kann ich mich vielleicht wieder übermorgen.“ Dennoch hält der Olympiasieger von Tokio, der es auf die Shortlist potenzieller Fahnenträger schaffte, an seinem Plan fest: „Ja, Paris möchte ich gewinnen.“