Bisweilen heben sich Singer-Songwriter das Allerbeste auch mal bis zum Schluss eines Albums auf. Die Regel ist das aber naturgemäß nicht. Denn auch die Eröffnung soll knallen und fesseln – in der Hoffnung, die Hörer halten dann bis zum Ende durch. Und das hat sich im Streaming-Zeitalter nicht wirklich verändert. Richard Thompsons „Ship To Shore“ startet mit „Freeze“ ganz bezaubernd, seine formidable Saitenkunst holt jeden affinen Hörer augenblicklich ab, seine charismatische Stimme ebenso. Die Rhythmussektion pocht bis tief in die Magengegend. Es passiert so unfassbar viel in diesen drei Minuten. Und es bleibt doch ein stimmiger, fantastischer und auch runder Song – geschliffen, aber nie glatt. „The Fear Never Leaves You“ ist dunkle Kost, „Singapore Sadie“ verströmt geigenveredeltes, sehnsüchtiges Folk-Feeling. „Trust“ strotzt vor virtuosem Up-Tempo und die Saiten tanzen Pogo. Richard Thompson hat wahrlich noch nie Probleme gehabt ein Album in Spannung und die Hörer gleichzeitig bei der Stange zu halten. „The Day That I Give In“ hält inne, „The Old Pack Mule“ rumpelt köstlich, „Turnstile Casanova“ startet virtuos durch, „Life’s A Bloody Show“ ist pures Sehnen. Ganz nebenbei gesagt: Alle Texturen sind reif, klug und erhellend. Aber es sind – wie zu Beginn angedeutet – die letzten beiden Tracks dieses heiß ersehnten, neuen Richard Thompson-Werkes, die dermaßen zielstrebig gen Folk-Rock-Himmel durchstarten, dass ganze Gänsehautsalven den Rücken herunterpurzeln. Allein was „What’s Left To Lose“ an Gitarren-Finesse zu bieten hat ist schier unbeschreiblich. Auch ein Neil Young kriegt das auf seine Weise vergleichbar hin – diese pure Entfesselung, diese schiere Energie, diese begnadete Musikalität. Doch Thompson hat in jener Hinsicht seine ganz eigene Art. Er vollführt seine Saitenritte polternd, perlend, jubilierend, ausufernd und gezügelt zugleich. Es ist eine sehr persönliche Definition von Folk-Rock. Auch „We Roll“ schlägt ganz am Ende unwiderstehlich berauschend in die so geliebte Kerbe berückendster Folkmusic. Meisterwerk. Schon wieder.
KULT[UR]
Foto: New West
CD-Tipp: Charisma von Anfang bis Ende
Richard Thompson: Ship To Shore. Label: New West. Laufzeit: 46 Minuten
Kult[ur] - CD-Tipp
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