Statt hauptverantwortlich Transfers zu tätigen, übernimmt Oliver Ruhnert bei Union Berlin wieder die Rolle des Zuarbeiters. Er will dabei wieder Spieler wie Taiwo Awoniyi oder Sheraldo Becker finden.
Der fast schon märchenhafte Aufstieg von Union Berlin vom Zweitligisten zum Champions-League-Teilnehmer hat Oliver Ruhnert nicht nur in der Fußballszene großen Respekt verschafft. „Er weiß, wie man in die Bundesliga aufsteigt, sich dort durchsetzt und mit den großen, vermeintlich übermächtigen Gegnern anlegt.“ Das ist keine Aussage eines Club-Präsidenten, der Ruhnert als neuen Manager angeheuert hat. Sondern von Sahra Wagenknecht, der Chefin und Namensgeberin des neuen Bündnisses, das die politische Landschaft gerade aufzumischen versucht – mit Ruhnerts Hilfe. Der ehemalige SPD- und Linken-Politiker ist dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) beigetreten, und seine Vorgesetzte hat auch das öffentlichkeitswirksam vermarket. „Mit Oliver Ruhnert haben wir einen Topmann gewonnen“, sagte die polarisierende 55-Jährige. Für den hauptberuflich bei Union angestellten Ruhnert ist ein politisches Amt nicht neu, er sitzt im Stadtrat Iserlohn und wird dort nun für BSW als Fraktionsvorsitzender übernehmen. „Als bereits lange auch politisch wirkender Mensch ist es mir wichtig, sich den neuen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu stellen“, sagte der 52-Jährige der dpa: „Offen zu sein für Veränderungen sowie mit klarem Fokus auf Frieden, soziale Gerechtigkeit und das Aufbrechen alter Denkweisen.“ All das finde er in seiner neuen politischen Heimat wieder, „deshalb war mir früh klar, dass ich diesen Weg unterstützen will.“
„Eine Konstellation, in der ich mich wohlfühle“
Möglich wird dies auch, weil Ruhnert bei Union einen Schritt zurücktritt. Als Sport-Geschäftsführer hat er den Staffelstab nach der ersten enttäuschenden Saison unter seiner Regie an Horst Heldt abgegeben. Er arbeitet seit Anfang Juli als Chefscout im Club – und das angeblich ohne jede Wehmut.
„Für mich ist das eine Konstellation, in der ich mich sehr wohl fühle“, sagte der gebürtige Sauerländer. Die wichtigen Entscheidungen treffen fortan neben Clubpräsident Dirk Zingler vor allem Heldt und der neue Trainer Bo Svensson. Ruhnert bleibt da eher in beratender Rolle für Heldt, mit dem er in der Vergangenheit schon beim FC Schalke 04 zusammengearbeitet hat. Noch sei „nicht das Gefühl da, dass etwas fehlt“, äußerte Ruhnert, „ich fühle mich noch nicht so weit weg, wie das vielleicht in zehn Wochen sein wird“. Zumal er seine neue alte Aufgabe, die er schon nach seinem Wechsel von Schalke zu Union 2017 bei den Eisernen bekleidet hatte, als elementar wichtig für den Verein ansieht. Seine Kernaufgabe sei das Finden von entwicklungsfähigen und dazu noch preisgünstigen Spielern, mit denen der Club mittelfristig Geld durch hohe Ablösen generieren kann. „Ich kümmere mich mehr darum, dass wir ablösefrei Beckers oder Awoniyis finden, die uns gutgetan haben.“
Sheraldo Becker und Taiwo Awoniyi stehen symbolisch für die äußerst gelungene Transferpolitik, für die Ruhnert und sein Team bis zur vermaledeiten Saison 2023/24 ligaweit viel Lob eingeheimst haben. Den nigerianischen Mittelstürmer Awoniyi konnte Ruhnert 2020 vom FC Liverpool mit einer Kaufoption ausleihen, die der Club nach einer guten Premierensaison für 8,5 Millionen Euro dann auch zog. Gut angelegtes Geld, wie sich herausstellte. Awoniyi schoss Tor um Tor – und wechselte nur ein Jahr später für 20,5 Millionen Euro zurück nach England zu Nottingham Forest.
Becker wechselte 2019 ablösefrei von Den Haag nach Berlin und entpuppte sich nach etwas Anlaufschwierigkeiten ebenfalls als ein Ruhnert-Coup. Der flinke Offensivspieler begeisterte die Fans mit seiner spektakulären Spielweise, in 140 Spielen gelangen ihm im rot-weißen Trikot 24 Tore und 26 Vorlagen. Er war einer der Garanten für die Champions-League-Qualifikation 2023, die dem Verein viel Geld und Renommee verschaffte. Ein halbes Jahr vor Vertragsende sorgte Becker mit seinem Transfer zum spanischen Erstligisten Real Sociedad San Sebastian zudem noch für eine ordentliche Ablöse für Union: drei Millionen Euro. Ruhnert weiß, dass Spieler wie Becker und Awoniyi bei Union nicht für immer zu halten sind. „Du musst auch wissen, wo du in der Nahrungskette stehst und das Bestmögliche daraus machen“, sagte er einmal: „Man kann dem nachtrauern oder man kann versuchen, das bestmöglich wettzumachen.“
Zuarbeiter statt Entscheidungsträger
Doch mit dem vielen Geld, das Union auch durch die Verkäufe von Robert Andrich, Marvin Friedrich, Julian Ryerson oder Max Kruse generierte, konnte Ruhnert nicht nur Volltreffer landen. Vor allem der Transfersommer im Vorjahr wurde ihm zum Verhängnis, als Spieler wie Leonardo Bonucci, Kevin Volland oder Robin Gosens geholt wurden. Große Namen, die aber kaum große Spiele zeigten. Auch die Transfers von Lucas Tousart, Mikkel Kaufmann oder im Winter Chris Bedia und Yorbe Vertessen gingen nur bedingt auf. Ruhnert hatte das Glück, vielleicht auch das Gespür verlassen. Nun arbeitet er im Club als Zuarbeiter für Heldt, der in letzter Instanz die Entscheidung über einen Transfer tätigt. Der neue Sport-Boss ist in seinen ersten Tagen bei Union bemüht, die fruchtbare Zusammenarbeit mit seinem Vorgänger hervorzuheben. „Wir stimmen uns immer ab“, sagte Heldt: „Einige Transfers bearbeitet Oliver, andere ich. Das wird auch bis zum Ende der Transferperiode so bleiben.“
Die wird aufgrund der Europameisterschaft etwas später in Fahrt kommen, auch bei Union passierte bis Mitte Juli nicht sonderlich viel. Einzig Stürmer Ivan Prtajin (28/Wehen Wiesbaden), Verteidiger Leopold Querfeld (20/Rapid Wien) und Mittelfeldspieler Laszlo Benes (26/Hamburger SV) standen auf der Neuzugängen-Seite fest. Klar ist, dass der Kader weiter verändert werden muss. Die in vielerlei Hinsicht verkorkste Vorsaison mit dem Beinahe-Abstieg kann nicht nur durch neues Personal auf der sportlichen Führungsebene beantwortet werden. „Wir sind bestrebt, Änderungen vorzunehmen“, sagte Heldt mit Blick auf den Kader. Doch dafür müssten den Club zunächst Spieler verlassen und möglichst eine hohe Ablöse einbringen. Das ist nach den enttäuschenden Leistungen der abgelaufenen Saison deutlich schwieriger, als Union noch für Furore gesorgt und auf den internationalen Plätzen gelandet war. Es gebe „für jeden Spieler eine Schmerzgrenze“, sagte Heldt mit Blick auf Danilho Doekhi (26), Diogo Leite (25) und Gosens (30), die auf dem Markt immer mal wieder mit anderen Vereinen in Verbindung gebracht wurden.
Trotz der vielen Fragezeichen verspürt Ruhnert in der Vorbereitung auf die neue Spielzeit eine gewisse Aufbruchsstimmung. „Wir haben eine neue Motivation, ein neues Trainergespann“, sagte er im Trainingslager im österreichischen Längenfeld: „Das ist eine gute Basis.“ Vor einem Jahr, als er als Sport-Geschäftsführer noch die Hauptverantwortung trug, habe er im Team eine „gewisse Selbstzufriedenheit“ wahrgenommen. Ändern konnten weder er noch Ex-Trainer Urs Fischer daran etwas. Auch deshalb wurde lange über seine Zukunft spekuliert, ehe der – zumindest in der Öffentlichkeit so dargestellte – selbst gewählte Rückzug auf den Posten des Chefscouts Klarheit schuf. Er blicke „mit großem Stolz auf die letzten sieben Jahre zurück“, in denen man „mit vereinten Kräften ungeahnte Erfolge errungen“ habe. Es sei eine Zeit, „die ich niemals missen möchte“, die aber auch „sehr viel Kraft gekostet“ habe, sagte Ruhnert.