Dass die Republikaner im US-Kongress Militärhilfen lange verzögerten, kostete in der Ukraine Menschenleben und Gebiete. Die Nato arbeitet an Notlösungen, die die amerikanischen Waffenlieferungen jedoch kaum ersetzen. Alles hängt vom Ausgang der Wahlen im November ab.

Die Lage an der Front bleibt für die Ukraine zweifellos das allerwichtigste Thema – neben etwa der komplizierten Lage für die Energie-Infrastruktur des Landes, die angesichts der russischen Angriffe auf die ukrainischen Energieobjekte jetzt schon im Sommer kritisch zu sein scheint. Militärisch gesehen ist die Situation für die ukrainische Armee schwierig, aber nicht katastrophal. Unbestritten ist, dass die Russen seit Oktober 2023 die Initiative behalten und in dieser Offensivposition die ganze Zeit quasi ununterbrochen blieben. Ganz große Durchbrüche sind Russland seitdem nicht gelungen, was ganz klar als Erfolg der Ukraine zu bewerten ist. So ist der russische Versuch im Mai, im Norden der Region Charkiw eine neue Front zu eröffnen, de facto gescheitert. Doch der russische Hauptschlag findet weiterhin eher im Donbass und explizit im Regierungsbezirk Donezk statt, wo die russische Armee langsam und unter großen Verlusten, aber trotzdem kontinuierlich vorankommt. Russland bleibt zwar weiterhin sehr weit von seinem Ziel entfernt, die gesamte Region Donezk zu besetzen. Die strategische Entwicklung dort bleibt jedoch besorgniserregend.
„Unzureichende Hilfe oder Ungewissheit“
Dass Russland es tatsächlich geschafft hat, seit Oktober quasi ununterbrochen die Initiative in seinen Händen zu halten, hat wiederum nicht zuletzt damit zu tun, dass Ukraine-Hilfen wegen der Krise im US-Kongress viel zu lange verzögert wurden. Dies sorgte dafür, dass der ohnehin existente Mangel an Artilleriemunition, die im Westen erst gegen Jahresende in ausreichendem Maße produziert werden dürfte, noch größer wurde. Schließlich konnten die ukrainischen Streitkräfte im Winter das Offensivpotenzial der Russen nicht so weit erschöpfen, dass diese zumindest für eine längere Zeit mit bedeutenden Angriffen an der Front pausierten. Allein das zeigt die Wichtigkeit der US-Präsidentschaftswahl im November für die Ukraine, zumal die USA der größte Unterstützer Kiews sind und als dieser auch kaum zu ersetzen sein werden. Dass zukünftig beispielsweise die Nato statt die von Washington geführte Ramstein-Plattform Waffenlieferungen an die Ukraine koordinieren wird, ist eine willkommene Notlösung für den Fall der Fälle. Sie wird auch technisch einiges erleichtern, sollte ein potenzieller US-Präsident Donald Trump die Hilfen für die Ukraine deutlich reduzieren. Die enormen Leistungen der USA werden durch solche Back-up-Optionen jedoch nicht ersetzt.
„Es ist die Wahl zwischen der unzureichenden Hilfe sowie der nicht folgerichtigen Unterstützung und der vollen Ungewissheit“, beschrieb der ukrainische Ex-Außenminister Pawlo Klinkin, der zuvor auch als Botschafter in Berlin arbeitete, stets die ukrainische Sichtweise auf den Zweikampf zwischen dem amtierenden Präsidenten Joe Biden und seinem Vorgänger Donald Trump. Mit Blick auf die Biden-Administration war die Sicht auf seine Ukraine-Politik in Kiew insgesamt zwiegespalten. Zum einen war Biden als Vizepräsident unter Barack Obama mit Ukraine-Fragen beauftragt worden, besuchte Kiew mehrfach, kannte sich mit dem Land sehr gut aus – und setzte sich eindeutig dafür ein, dass die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland unterstützt wird. Zum anderen hat die bislang sehr vorsichtige Strategie seiner Administration, die viele Entscheidungen etwa zu Waffenlieferungen aus ukrainischer Perspektive viel zu spät getroffen hat, schlicht viel zu viele Menschenleben gekostet.
Nun steht aber fest: Joe Biden tritt bei der Wahl im November nicht noch einmal an – und es wird höchstwahrscheinlich seine Vizepräsidentin Kamala Harris sein, die den Zweikampf gegen Donald Trump führen wird. Dass die Ukraine mit Joe Biden einen Ukraine-Kenner verliert, der das Land nicht aufgrund von politischer Konjunktur, sondern vor allem aus der Perspektive der eigenen Werte und Erfahrungen unterstützte, ist für Kiew einerseits schade. „Der Ausstieg von Biden ist eine nicht überraschende und richtige Entscheidung, auch wenn sie den Demokraten keinen Sieg im November garantiert“, betont trotzdem der prominente Politikwissenschaftler Wolodymyr Fessenko, der als Vorstandsvorsitzender am Zentrum für angewandte politische Forschung Penta fungiert und ab und zu auch die Regierung berät. „Diese Entscheidung gibt den Demokraten eine Chance, um den Sieg zu kämpfen. Sie wird es ermöglichen, aus der Phase der Unsicherheit und Verwirrung herauszukommen, in der sich diese politische Kraft nach der erfolglosen Debatte Bidens mit Trump und nach dem Attentat auf diesen befand.“
Vorsichtige Strategie der Biden-Regierung

„Was unsere [ukrainischen] Interessen anbetrifft, wird der Wechsel des Kandidaten der Demokraten die Position dieser Partei im Bezug auf die Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen der russischen Überfall nicht verändern“, betont Fessenko. „Weiteres werden wir wissen, sobald die Details ihrer persönlichen Position bei dieser Frage klar sein werden.“ Das eindeutige Bekenntnis zur Nato und auch die Tatsache, dass Kamala Harris die US-amerikanische Delegation beim jüngsten Friedensgipfel des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in der Schweiz angeführt hat, sind jedenfalls erst einmal ein gutes Zeichen. „Ganz so sehr hängt der Wahlausgang vom Namen des Kandidaten gar nicht ab“, meint seinerseits der ukrainische Star-Publizist und Analytiker Witalij Portnykow. „Denn es ist keine wirkliche Präsidentschaftswahl, sondern ein Referendum für oder gegen Donald Trump.“ Die meisten Wähler hätten sich sowieso bereits entschieden – und das gesamte Wahlergebnis hänge mehr von den wenigen sogenannten Swing States als von der allgemeinen Abstimmung ab.
Hinter verschlossenen Türen ist es den Offiziellen in Kiew deutlich anzumerken, dass ihnen der Sieg eines demokratischen Kandidaten oder einerKandidatin bei aller Unzufriedenheit mit vielen Aspekten der bisherigen Unterstützung doch lieber wäre. Öffentlich ist aber die größtmögliche Neutralität angesagt – und damit passt das jüngste Telefonat Selenskyjs mit Trump gut zusammen, welches mit sehr höflichen, diplomatischen Worten von Kiew kommentiert wurde. „Das Einzige, was man im Blick auf Trump mit Sicherheit sagen kann: Er wird zunächst versuchen, Kontakt mit Moskau zu suchen und Friedensgespräche aufzunehmen“, sagt der bekannte Politologe Fessenko. Weil Russland aber de facto die volle diplomatische Kapitulation des Westens fordert, ist es eher unwahrscheinlich, dass Trump darauf eingeht. „Dann kann es sich auch in die völlig andere Richtung drehen“, betont Fessenko, der daran erinnert, dass es Präsident Trump, und nicht etwa Barack Obama, war, der zum Beispiel den Verkauf der Panzerabwehrraketen Javelin und damit die erste bedeutende Waffenlieferung aus den USA an die Ukraine bewilligte. Dies sei keine Geste der Liebe an Kiew, sondern vor allem ein Zeichen an Moskau gewesen, während sich die amerikanisch-russischen Beziehungen während der Amtszeit von Trump eher verschlechterten als umgekehrt.
Doch tatsächlich gehört es zu den Risiken für Kiew, dass Donald Trump offensichtlich weder zur Ukraine noch zu Wolodymyr Selenskyj besondere Sympathien zu pflegen scheint. Dass viele führende ukrainische Politiker bei der Wahl 2016 recht eindeutig Hillary Clinton unterstützten, spielt dabei eine Rolle. Dass Selenskyj, erst seit 2019 als Politikneuling im Amt, selbst den Trump-Bitten nicht nachgekommen ist, Beweise für Korruption gegen Hunter Biden zu „finden“, bleibt ein weiterer Faktor. Im Endeffekt ist die Ukraine schlicht darauf angewiesen, alles zu versuchen, um sowohl zu den Demokraten, als auch zu den Republikanern und vor allem zum Umfeld von Donald Trump ein so gutes Verhältnis zu pflegen, wie es nur geht – wohlwissend, dass auch ein Sieg von Kamala Harris bei der US-Wahl kein absolut perfektes Szenario für Kiew sein würde. Denn auch die bloße Weiterführung der bisherigen Biden-Strategie, mit der dann zu rechnen wäre, ist aus ukrainischer Sicht eher suboptimal.
Insgesamt ist es für die Ukraine in der Tat so, dass die Gesellschaft aktuell eine der schwierigsten Phasen in diesem Krieg erlebt. Das hat nicht nur mit der schwierigen Stromlage zu tun. Tatsächlich macht auch die neue russische Welle der Luftangriffe gegen die Energie-Infrastruktur, die diesmal überraschend nicht im Winter, sondern erst Ende März begann, den Menschen zu schaffen. In diesem Sommer gab es Phasen, in denen die Kiewer mehrere Wochen hintereinander an manchen Tagen länger keinen Strom als Strom hatten. Im Sommer mag dies zwar weniger kritisch als im Winter sein, doch es gibt keinen Zweifel daran, dass die unvermeidlichen Stromausfälle im Winter ein riesiges Problem sein werden. Weil der von Russland zugefügte Schaden gegenüber den ukrainischen Energiestationen mindestens auf eine Milliarde US-Dollar eingeschätzt wird, war es ebenfalls unausweichlich, dass die Stromtarife ab Sommer im Schnitt um rund 50 Prozent erhöht werden mussten – eine offensichtliche Schwierigkeit für die Menschen, deren Einkommen seit dem 24. Februar 2022 meist eher kleiner wurde. Auch bedeutende Steuererhöhungen sind in den nächsten Monaten kaum zu vermeiden, zumal das Budgetloch wegen der riesigen Militärausgaben inzwischen deutlicher tiefer klafft. Außerdem: Die Mobilisierung im Krieg gegen das größte Land der Welt betrifft natürlich immer mehr Menschen ohne Militärhintergrund, worauf ukrainische Männer ganz unterschiedlich reagieren.
Rhetorik Selenskyjs verändert sich

Die ukrainische Soziologie zeigt daher eine steigende Ambivalenz in der Gesellschaft, je nachdem wie die Fragen formuliert werden. Der Widerstandswille ist weiterhin groß – und es bleibt eindeutig, dass die Ukrainer zu einer Art Halbfrieden zu unrealistischen russischen Vorbedingungen, wie sie von Wladimir Putin formuliert werden, überhaupt nicht bereit sind. Gleichzeitig zeigen aber etwa die Umfragen des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts, dass sich zuletzt mehr als 70 Prozent dafür aussprechen, neben dem militärischen auch nach anderen Wegen für die Beendigung des Krieges zu suchen. Dass sich die Rhetorik des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verändert, der in den letzten Wochen und Monaten den Fragen nach der unbedingten Notwendigkeit der militärischen Rückeroberung der international anerkannten Grenzen von 1991 zumindest sichtlich ausweicht, ist ein Ergebnis dieser Entwicklung – aber auch ein Zeichen an Trump, der wohl eine vorübergehende Lösung schlicht in einem Waffenstillstand sieht. Offenbar soll es die Idee des Trump-Lagers sein, der Ukraine die Waffenlieferungen zu kappen, sollte sich Kiew nicht verhandlungsbereit zeigen – der Ukraine aber wiederum noch mehr Waffen zu liefern, sollte sich Russland nicht zu einem Waffenstillstand offen zeigen.
Nun wäre ein Waffenstillstand gemäß der derzeitigen Frontlinie zwar eine sehr schwierige Entscheidung der ukrainischen Führung, zumal sich der russische Angriffskrieg ohne ernsthafte Sicherheitsgarantien jederzeit wiederholen könnte. Da aber vor allem die ukrainische Infrastruktur tagtäglich vernichtet wird, ist die Ukraine die größte Leidtragende in diesem Krieg und könnte eine Pause gut gebrauchen. Die Option eines Waffenstillstandes ohne Vorbedingungen, etwa der faktische Verzicht Kiews auf den Großteil der eigenen Armee, wie von Putin vorgeschlagen, liegt jedoch derzeit nicht auf dem Tisch, während Moskau fest daran glaubt, mit seiner Zermürbungsstrategie aus Gleitbomben und Infanterie-Angriffswellen langfristig Erfolge erzielen zu können.
Daher geht es der Ukraine zunächst einmal darum, mit stärkerer Munitionsproduktion im Westen sowie mit den zuletzt verbesserten Mobilisierungszahlen im nächsten Jahr Russland an der Front zumindest zu stoppen. Das ist nicht unrealistisch. Es hängt aber von vielen Faktoren wie eben der US-Wahl ab. Und die kann Kiew selbst nicht beeinflussen.