Ein Attentat, ein zurückgetretener Kandidat und der Kampf um die künftige politische Ausrichtung einer Supermacht: Der US-Wahlkampf 2024 ist entscheidend für die kommenden Jahrzehnte.
Mit dem Wort „turbulent“ ist dieser US-Wahlkampf kaum noch zu beschreiben. Durch Joe Bidens Rückzug von der erneuten Kandidatur wird der Weg schon heute frei für eine neue Riege von Demokraten, die sich erst für das Ticket 2028 warmliefen, progressive Parteierneuerung inklusive. Mit dem Attentat auf Donald Trump und seiner folgenden Verklärung als überlebender Märtyrer wird der Weg frei für eine neue Riege von Republikanern, die im Kielwasser von Trumps Konventionsbrüchen in der Partei aufstiegen, nationalpopulistische Parteierneuerung inklusive.
Nationalismus gegen Liberalismus
Die beiden großen Parteien der USA sind geprägt von beständigen Umbrüchen und Neuerfindungen – eine Folge des Mehrheitswahlrechts und der im Vergleich zu deutschen Parteien weniger stark programmatisch geprägten Ausrichtungen. Die Demokraten waren einst die Partei des elitären und populistischen Südens, der Rassentrennung, der Sklavenhalter; die Republikaner die Partei des Nordens, der Industrie, des Kampfes gegen die Sklaverei. Dies hat sich radikal geändert. Heute ist die Demokratische Partei die Partei für Bürgerrechte, für Progressive, Linke und Linksaußen; die Republikaner das Sammelbecken für sozial Konservative, Rechte und Rechtsextreme, für Religiöse. Diese permanenten Wandlungen beider Parteien wurden in der Geschichte von politischen Persönlichkeiten vorangetrieben – beispielsweise von dem Demokraten John F. Kennedy und nach dessen Ermordung von seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson, der den Civil Rights Act unterschrieb. Im Falle der Republikaner von heute veränderten Politiker wie Newt Gingrich und Ronald Reagan die Partei. Und nun Donald Trump.
Jene gesellschaftlichen Strömungen, die beide Parteien über die Jahrzehnte ihrer Existenz absorbierten, waren immer ein Spiegelbild ihrer Zeit. Heute geht es nicht nur um einen innergesellschaftlichen Kulturkampf, sondern auch um die künftige Stellung der USA in einer sich verändernden Weltordnung, die nach dem Kalten Krieg von der Vormachtstellung einer einzigen Supermacht geprägt war. Wohin wenden sich die Vereinigten Staaten, und welche Konsequenzen hat dies für den Rest der Welt?
Donald Trump wählte J.D. Vance zu seinem Vize-Kandidaten, ein ausgesprochener Isolationist, der von sich behauptet, die Ukraine interessiere ihn kein bisschen; kein Wunder, dass kremlnahe Zeitungen in Moskau die Wahl von Vance beklatschten. Trump selbst sieht die Nato eher als einen Sicherheitsautomaten an, in den man oben Geld hineinwirft und der amerikanische Truppen und Raketen ausspuckt, wenn der US-Präsident mit dem Preis zufrieden ist. Mit einem republikanischen Präsidenten Trump an der Spitze einer Partei hart am Rande des Personenkultes, dessen grenzenloser Narzissmus und transaktionalen Instinkte in einer möglichen zweiten Amtszeit kaum beschränkt werden, geraten die USA in den Sog des Autoritarismus. Diejenigen, die dem 78-Jährigen huldigen, bereiten vor aller Augen die sogenannte „Imperial Presidency“ vor – eine erzreaktionäre Interpretation der amerikanischen Verfassung, die das Durchregieren des Präsidenten gegen jegliche Widerstände und die eingebauten „checks and balances“ der US-Demokratie ermöglichen soll. Damit wäre auch die US-Innenpolitik im Umbruch, nicht zuletzt dank eines Urteils des Supreme Courts, das dem Präsidenten weitgehende Immunität in seinen offiziellen und inoffiziellen Handlungen einräumt.
Tiefgreifende Veränderungen
Mit dem Ausscheiden von Joe Biden aus dem Rennen wird jedoch Trump plötzlich zum ältesten Präsidentschaftskandidaten der USA. Und die Chancen, dass Kamala Harris als amtierende Vizepräsidentin ins Rennen um das Weiße Haus eintritt, stehen hervorragend. Formal entschieden wird dies zwar erst bei der National Convention der Demokraten Ende August. Doch die Ausgangslage, politisch wie finanziell, für die 59-jährige Juristin ist im Vergleich zu jedem anderen möglichen Mitbewerber hervorragend. Sie wird dies zu nutzen wissen. Vor ihr liegen riesige Hürden: Sie gilt als unbeliebt, als unideologische Pragmatikerin, als wenig begeisternde Rednerin. Ob sie die hochemotionale Kampagne Trumps in den Schatten stellen kann, muss ihr Team nun in einem außergewöhnlichen Sprint bis zum 5. November zeigen.
Doch ob Harris oder ein anderer Demokrat ins Weiße Haus einzieht, für Europa ist eines klar: Niemand steht so sehr für eine strikte Abkehr von Europa wie Donald Trump und J.D. Vance. Harris selbst bekannte sich bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar zur derzeitigen Rolle der Nato und der internationalen Zusammenarbeit.
Für die europäischen Verbündeten wäre dies ein Segen. Schon jetzt bereitet sich das transatlantische Verteidigungsbündnis, bereitet sich die gesamte EU auf eine mögliche Amtsübernahme von Donald Trump vor. Gerade weil der Milliardär nun politisch besser positioniert ist als vor seiner ersten Amtszeit und es seine letzte Amtszeit wäre, qua Verfassung, könnten seine Entscheidungen in einer Welt im Umbruch Amerikas Rolle in der Welt über Jahrzehnte neu definieren. Die Nato und Europa sind in Sorge darüber, was dies bedeuten könnte.