Die US-Demokratin braucht ein schlüssiges Konzept für die Wirtschaft
Was für eine Euphoriewelle! Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris hat einen Blitzstart hingelegt. Hollywood-Ikonen wie George Clooney und Barbra Streisand, Pop-Stars wie Beyoncé oder Ariana Grande stellen sich auf ihre Seite. Die Obamas, die Clintons und das gesamte Partei-Establishment liegen ihr zu Füßen. Viele Tausend Freiwillige wollen plötzlich Wahlkampf für die 59-Jährige machen.
Wo die Demokraten noch vor Kurzem in der Biden-Depression darniederlagen, ist auf einmal Jubelstimmung ausgebrochen. Kamala ist „hip“ und „cool“. Reicht das für den Sieg gegen den republikanischen Wutkandidaten Donald Trump am 5. November?
Keineswegs. Gut drei Monate vor der Präsidentschaftswahl sind Wirtschaft und Inflation für die Amerikanerinnen und Amerikaner das Thema Nummer eins. Eigentlich ist die Bilanz von Präsident Joe Biden mit glänzenden Zahlen gespickt: Das Wachstum beträgt knapp drei Prozent, 15 Millionen neue Jobs wurden in seiner Amtszeit geschaffen, die Arbeitslosigkeit befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt, die Inflationsrate ist von 9,1 Prozent im Juni 2022 auf aktuell drei Prozent gesunken.
Doch bei den US-Bürgern kommt das fabelhafte Zahlenwerk nicht an. Nach einer Economist/YouGov-Umfrage erhält Biden – wie auch seine Vizepräsidentin Kamala Harris – schlechte Werte. 71 Prozent sagen demnach, die Vereinigten Staaten bewegten in die falsche Richtung. 51 Prozent lehnen die Regierungspolitik bei Wirtschaft und Arbeitsmarkt ab. Beim Thema Inflation senken 58 Prozent den Daumen. Die Enttäuschung erstreckt sich über alle Schichten.
Subjektive Wahrnehmung und Statistik klaffen auseinander. „Für Kamala Harris gibt es nun ein Problem: Die gefühlte Inflation der Amerikanerinnen und Amerikaner ist nicht identisch mit den wirtschaftlichen Makro-Daten. Waren, die dauernd gekauft werden, tragen viel mehr zum subjektiven Inflationseindruck bei als die Einkäufe dauerhafter Güter wie etwa Autos oder Möbel“, sagt der Volkswirtschaftler Welf Werner, Direktor des Heidelberg Center for American Studies (HCA) der Uni Heidelberg. „In die erste Kategorie fallen zum Beispiel Einkäufe im Supermarkt wie Lebensmittel oder der Tank-Stopp an der Zapfsäule. Lebensmittel und Energie sind besonders schnell besonders teuer geworden.“
Die Benzinpreise sind in der Vielfahrernation Amerika ein eminent wichtiger Indikator für die Kaufkraft. So mussten im Juli 2024 im landesweiten Durchschnitt rund 3,50 Dollar pro Gallone (3,8 Liter) bezahlt werden. Im Sommer 2019 betrug der Preis 2,70 Dollar, im Sommer 2020 sogar nur 2,20 Dollar. Die späten Trump-Jahre verbinden viele US-Wähler mit gemäßigten Spritkosten. Das im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit noch immer recht hohe Preis-Plateau legen viele Amerikaner Biden zur Last. Und Harris.
Die Wahrheit ist: Sowohl Trump als auch Biden haben Konjunkturprogramme in Höhe von mehreren Billionen Dollar aufgelegt – und damit die Inflation befeuert. Aber auch die Geldpolitik hat ihren Anteil am Preisauftrieb. Nach dem wirtschaftlichen Einbruch wegen Corona senkte die US-Zentralbank 2020 zunächst die Leitzinsen, um die Konjunktur anzukurbeln. Durch das billige Geld stieg die durchschnittliche Inflationsrate von 1,2 Prozent im letzten Trump-Jahr 2020 auf 4,7 Prozent im ersten Biden-Jahr 2021. Erst als die Wirtschaft wieder Fahrt aufgenommen hatte, erhöhte die US-Zentralbank die Leitzinsen und bremste dadurch die Inflation.
Trump versucht nun, aus den Zahlen schamlos Kapital zu schlagen. Seit dreieinhalb Jahren sei Harris „die ultraliberale, treibende Kraft hinter jeder einzelnen Biden-Katastrophe“, wettert der Republikaner. Und setzt auf gnadenlosen Populismus. Er präsentiert zwei Sündenböcke für die Schließung von Fabriken und die sozialen Probleme in Amerika: das Ausland („China-Schock“) und die Migration.
Harris braucht nicht nur ein Gegen-Narrativ gegen Trump, sondern ein schlüssiges Gegenkonzept für die Wirtschaft. „Der Aufbau der Mittelschicht wird eine der wichtigsten Aufgaben meiner Präsidentschaft sein“, kündigte sie an. Sie wolle sich um die Bereiche Erziehung, Familien und Medikamente kümmern. Sie muss ihre Pläne den Menschen so erklären, dass sie auf ihre konkrete Lebenssituation passen. Sonst wird die aktuelle Euphoriewelle schnell abebben.