Eine gemeinsame europäische Verteidigungsunion – und als Basis eine europäische Rüstungsindustriepolitik – die Themen sind seit Frühjahr gesetzt. Die neue Kommission und die Mitgliedsstaaten müssen zur Realisierung einige große Brocken aus dem Weg räumen.
Die Rüstungsindustrie kann eigentlich nicht klagen. Rheinmetall beispielsweise meldet erneut einen Rekord. Für das zweite Quartal 2024 steht eine Umsatzsteigerung um knapp 50 Prozent auf 2,2 Milliarden Euro zu Buche. Der Konzern sucht dringend Personal. Nach Recherchen der „Financial Times“ haben die Waffenhersteller einen zusätzlichen Personalbedarf in einer deutlich fünfstelligen Größenordnung.
Außerdem entdecken immer mehr Konzerne und Mittelständler Chancen in diesem boomenden Sektor. So will etwa Deutz in Köln, ein weltweit führender Hersteller von Lkw-Motoren, künftig auch Motoren für Panzer bauen. Die Ankündigung hat die Aktie der Deutz AG um zehn Prozent steigen lassen.
Es ist nicht nur direkt der Krieg in der Ukraine, der sich als Konjunkturmotor auswirkt, obwohl sich der in der Statistik besonders niederschlägt. Im ersten Halbjahr hat die Bundesregierung Rüstungsexporte im Wert von 7,6 Milliarden Euro (5,5 Milliarden für Kriegswaffen, 2,1 Milliarden für sonstige Rüstungsgüter) genehmigt. Hauptempfänger ist die Ukraine (4,9 Milliarden). Die verschärften globalen Spannungen haben die Nachfrage nach Rüstungsgütern weltweit enorm gesteigert.
In Europa kommt ein zusätzlicher Faktor hinzu: Die Wahl in den USA. Wobei dahinter eigentlich eine längere Entwicklung zu mehr Unabhängigkeit der Europäer von der Schutzmacht USA steht. Den eher schleichenden Prozess haben der Krieg in der Ukraine und ein möglicher Macht- und Politikwechsel in den USA enorm forciert.
Keine „Goldgräberstimmung“
Die Diskussion um das Zwei-Prozent-Ziel in der Nato (mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung) steht symbolisch dafür. Der Nachholbedarf insbesondere in Deutschland ist bekannt. Das berühmte 100-Milliarden-Sondervermögen der „Zeitenwende“ für die Modernisierung der Bundeswehr ist dabei nach Einschätzung von Experten allenfalls ein erster, wenn auch wichtiger Schritt, Versäumnisse aufzuholen. Die aktuellen Haushaltsberatungen haben aber bereits für erneute Verunsicherung gesorgt. Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte für seinen Etat einen deutlichen Zuschlag angefordert. Das wurde aber von Finanzminister Christian Lindner (FDP) offenbar mit Rückendeckung von Kanzler Scholz abgebremst. Von „Goldgräberstimmung“ könne also kaum die Rede sein, heißt es etwa bei MBDA, die Lenkflugkörper (darunter auch Taurus) und Laserwaffen entwickeln und herstellen.
In der Diskussion um eine europäische Rüstungsindustrie sind im Frühjahr EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton und der EU-Außenbeauftragten Josep Borrell konkret geworden. Die Ausgangslage: EU-Länder haben an die 80 Prozent ihrer Rüstungsgüter außerhalb der EU eingekauft, (63 Prozent allein in den USA). Und: Der EU-Verteidigungsmarkt sei in den letzten Jahren um fast zwei Drittel gewachsen, der Handel zwischen EU-Staaten mache aber gerade mal 15 Prozent dieses Markts aus.
Das soll sich nach Vorstellungen der Kommission ändern: Bis 2030 sollen die EU-Staaten demnach die Hälfte ihrer Rüstungsgüter aus dem EU-Binnenmarkt beziehen, 2035 sollen es 60 Prozent sein.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits im Frühjahr den Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie gefordert. „Wir haben einen sehr fragmentierten Verteidigungsmarkt und das muss sich ändern“, sagte sie der „Financial Times“ und ergänzte: „Wir müssen mehr investieren, wir müssen besser investieren und wir müssen europäisch investieren.“ Bei ihrer Bewerbungsrede vor der Wiederwahl im Juli konkretisierte sie, wie sie den Aufbau einer „wahren europäischen Verteidigungsunion“ angehen will: „Wir werden eine Reihe von Verteidigungsprojekten von gemeinsamem europäischen Interesse vorschlagen, beginnend mit einem europäischen Luftschutzschild und Cyberabwehr.“
Die Idee einer Verteidigungsunion hat Tradition. Schon im Vertrag von Maastricht (1992) war die Grundlage für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicehrheitspolitik gelegt. 2017 folgte die Einigung auf Pesco (Permanent Structured Cooperation – Ständige Strukturierte Zusammenarbeit), was als erster Schritt zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gilt. Konkret geht es um Interoperabilität zwischen den Mitgliedsstaaten und Synchronisierung der Streitkräfte.
Im Rahmen von Pesco gibt es insgesamt 72 Projekte, die aber auch zeigen, wie differenziert die Landschaft ist. Die Beteiligungen an den Projekten setzen sich jeweils unterschiedlich zusammen. An der Entwicklung eines Transporthubschraubers der nächsten Generation sind etwa Frankreich, Spanien, Italien und Finnland beteiligt, bei dem Anti-Torpedo-Torpedo nur Deutschland und die Niederlande. Insgesamt ist Frankreich wesentlich aktiver dabei als Deutschland. Frankreich ist bei 58 der insgesamt 72 Projekte beteligt, Deutschland nur bei 27.
Schwierige Zusammenarbeit
Wie komplex Rüstungszusammenarbeiten sind, lässt sich immer wieder an den Mühsalen deutsch-französischer Kooperationen beobachten, etwa bei der Entwicklung eines deutsch-französischen Kampfjets der nächsten Generation (FCAS – Future Combat Air System) oder der nächsten Kampfpanzergeneration (MGCS – Main Ground Combat System). Es geht um Projektführerschaft, Aufteilung von Produktion, um Entwicklungsrechte, aber es fängt schon vorher an, nämlich bei militärstrategischen und industriepolitischen Fragen oder Prestigefragen, damit verbunden (teils auch historisch begründete) Mentalitätsunterschiede. Nicht zuletzt geht es natürlich auch ums Geld.
Europa muss einmal mehr eine Menge Kreativität entwickeln. Nationalstaatliche Souveränitäten und Interessen müssen beachtet, europäische Kompetenzen erst entwickelt und Finanzierungsinstrumente geschaffen werden. „Es geht hier in keiner Weise darum“, dass den Mitgliedsländern die Zuständigkeit in Sachen Verteidigung genommen werden soll“, erklärte Binnenmarktkommissar Thierry Breton Anfang März. Aber das Ziel ist: Mehr Waffen made in Europe. Dabei weniger nationale Alleingänge und mehr Effektivität, das alles mit einer Anschubfinanzierung. 1,5 Milliarden Euro aus dem laufenden EU-Haushalt – das war die Hausnummer, die zunächst im Raum steht. Wobei Kritiker fragen, warum eine Branche subventioniert werden sollte, die derzeit in einer Boomphase ist, was sich auch absehbar kaum ändern dürfte. Im Gespräch war auch der Wegfall der Mehrwertsteuer als Anreiz, um gemeinsame Waffenbeschaffungen zu forcieren.
Die europäische Rüstungsindustrie begrüßt das Vorhaben der EU-Kommission jedenfalls. Jetzt müssten die Mitgliedsstaaten dem nicht nur zustimmen, sondern vor allem anschließend auch für die Umsetzung sorgen, mahnte Jan Pie, Generalsekretär des Unternehmerverbandes Aerospace, Security and Defence Industries Association of Europe. Die große Frage ist, ob die Mitgliedstaaten bereit wären, nationale Beiträge in einem umfassenderen EU-System zu bündeln.
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron legte ein grundsätzliches Bekenntnis ab und erklärte: „Europa muss das, was ihm am Herzen liegt, verteidigen können“ und bekräftige seine Forderung, bei Rüstungsgütern europäische Produktionen zu bevorzugen und dafür auch gemeinsame Schulden aufzunehmen. Aber genau daran scheiden sich die Geister. Schulden aufnehmen, gar noch EU-Schulden, dazu hält sich die Begeisterung in der deutschen Politik in sehr überschaubaren Grenzen, auch wenn Macron wirbt: „Wie können wir unsere Souveränität, unsere Autonomie aufbauen, wenn wir nicht die Verantwortung übernehmen, unsere eigene europäische Verteidigungsindustrie aufzubauen?“
Im Moment ist allerdings auch unklar, wie sich die französische Politik ab Herbst in den neuen Konstellationen sortiert. Das gilt auch für Deutschland im Blick auf die Haushaltsdebatten im Herbst. Und nicht zuletzt muss sich zeigen, wie eine neue EU-Kommission und das neu gewählte Parlament nach der Sommerpause starten.