Bei der Tour de France und dem Giro d’Italia war Tadej Pogacar unaufhaltsam – doch der Traum vom Olympiasieg in Paris bleibt für ihn unerfüllt. Der Kraftakt der vergangenen Wochen fordert seinen Tribut.

Das Armband? Natürlich gelb. Für viel mehr Schlagzeilen sorgte der Neupreis der Uhr, die Radsportstar Tadej Pogacar während der Tour de France trug: 340.000 Euro. Nur zum Ablesen der Uhrzeit hatte der Slowene das Luxus-Stück für die Rennen natürlich nicht um sein Handgelenk gebunden. Dass Pogacar das Modell RM 67 seines Sponsors Richard Mille während der Tour trug und damit für Gesprächsstoff sorgte, gefiel ganz sicher auch dem Unternehmen. Und Pogacar hatte auch seine Freude an der Sache. „Ich liebe Uhren. Und die Möglichkeit, das Modell dank eines Sponsors während der Tour zu tragen, ist sehr schön für mich“, sagte der Rad-Dominator. Der Uhrenhersteller dürfte jedoch darauf gedrängt haben, dass das gute Stück unversehrt wieder zurückgegeben wird. Denn Pogacar wurde im Vorjahr beim Frühjahrsklassiker Paris-Nizza eine 165.000 Euro teure Uhr gestohlen. Die Diebe, die ins Teamhotel eingedrungen waren, wurden später durch die Polizei zwar gefangen und anschließend zu einer Haftstrafe verurteilt. Das Schmuckstück tauchte aber nicht mehr auf. „Die Uhr hat mir viel bedeutet“, sagte Pogacar.
Eine halbe Million Euro Preisgeld
Sollte der 25-Jährige seinen Verlust ersetzten wollen – das Geld dafür hat er bei der diesjährigen Tour de France gesammelt. Rund eine halbe Million Preisgeld kassierte Pogacar für seinen dritten Gesamtsieg bei der Großen Schleife, die zu einer Machtdemonstration geriet. Sein Vorsprung auf Jonas Vingegaard, Tour-Sieger der vergangenen beiden Jahre, betrug 6:17 Minuten. Kein einziges Mal konnte der Däne, dessen Start nach einem Horror-Sturz mit diversen Verletzungen und anschließendem Krankenhausaufenthalt („Ich dachte, ich würde sterben“) lange auf der Kippe stand, dem Slowenen gefährden. Auch das belgische Ausnahmetalent Remco Evenepoel fuhr als Dritter (+9:18 Minuten) bei seiner Tour-Premiere nicht in derselben Liga wie Pogacar. Dieser ist nun der jüngste Dreifach-Sieger in der Geschichte des wichtigsten Radrennens der Welt.

Von Beginn an ließ der Topfavorit keine Zweifel daran, dass nur er am Ende im Gelben Trikot die finale Ziellinie in Nizza überqueren wird. Mit sechs Etappensiegen, insgesamt 19 Tagen im Gelben Trikot und mehreren Kletterrekorden in den Bergen sorgte Pogacar für eine fast schon lähmende Dominanz im Fahrerfeld. „Ich bin sehr glücklich. Ich kann nicht beschreiben, wie glücklich nach zwei harten Jahren in der Tour“, sagte der Gewinner: „Dieses Jahr lief alles perfekt.“ In der Tat verläuft die Saison bislang traumhaft für ihn. Acht Wochen nach seinem Triumph beim Giro d’Italia machte er nun das historische Double perfekt. Erstmals seit dem gestorbenen Marco Pantani vor 26 Jahren hat ein Radprofi wieder beide direkt aufeinanderfolgende Grand Tours gewonnen. Insgesamt war das zuvor erst sieben Menschen gelungen, darunter auch Eddy Merckx. Der trug einst den Spitznamen „Kannibale“, weil er so unersättlich nach Erfolgen war und dabei nur wenig Rücksicht auf seine Kontrahenten nahm. Schon früh wurde Pogacar mit Merckx verglichen, und auch der Beiname „Kannibale“ fiel dabei in Medien öfter.
Doch Pogacar gefällt das gar nicht. „Ein Kannibale? Der isst Menschenfleisch! Ich esse Süßigkeiten im Ziel und Gels und Riegel auf dem Rad“, sagte er darauf angesprochen: „Lassen Sie uns nicht über Kannibalismus sprechen. Das ist nicht so schön.“ Dabei hatte sich Pogacar in Frankreich ebenfalls unerbittlich gezeigt. Vor allem bei der letzten Alpen-Etappe, als er seinem größten Konkurrenten Vingegaard auf den letzten 150 Metern davon gesprintet war und ihm den Sieg nicht überließ, obwohl dieser im Schlussanstieg fast alleine die Führungsarbeit geleistet hatte. „Man bremst nicht im Radsport“ – so lautete Pogacars lapidare Erklärung für den Verzicht einer noblen Geste. Das gefiel längst nicht allen Fans. Doch Pogacar verteidigte seinen Hunger nach Siegen: „Man verschenkt keine Etappen an den direkten und härtesten Kontrahenten. Du wirst bezahlt, um zu gewinnen. Du sollst liefern. Und wenn du das dann nicht machst, ist es nicht gut.“ Von Vingegaard gab es immerhin keine Vorwürfe: „Ich habe gehofft, dass er mir den Etappensieg schenkt, aber ich hätte wohl ähnlich reagiert.“
„Auf einem ganz anderen Niveau“

Mit dieser knallharten Einstellung brach Pogacar zwei uralte Merckx-Rekorde: Er hat mehr Etappensiege in einem Jahr bei Giro und Tour (zwölf) eingefahren und war länger in beiden Führungs-Trikots (39 Tage) als die belgische Radsport-Ikone (11/37). „Ich fühlte mich auf dem Fahrrad super gut und in meinem Kopf auch“, sagte der Dominator, der sich selbst nun auf „einem ganz anderen Niveau“ sieht. Keine guten Aussichten für die Gegner. Zumal Pogacar längst nicht genug hat. Sein innerer Antrieb? „Ich will der Beste in der Geschichte sein.“ Und in diesem Jahr gibt es noch einige Möglichkeiten, dies zu unterstreichen. Es stehen als Highlights noch die Vuelta (17. August bis 18. September) und die Straßenrad-Weltmeisterschaft in Zürich (21. bis zum 29. September) an. Bei Olympia in Paris wird Pogacar aber entgegen der ursprünglichen Planungen nicht antreten.
Wegen „extremer Müdigkeit“ müsse der Tour-Sieger seinen Start absagen, erklärte Uros Murn. Pogacar ist nicht der einzige Topfahrer, der in Paris fehlt. Auch sein Landsmann Primoz Roglic vom deutschen Red-Bull-Team und sein großer Rivale Vingegaard sind nicht dabei. „Die Spiele sind für einen Radsportler wichtig, und als Kind träumt man davon“, hatte Pogacar vor Wochen gesagt, das Streckenprofil aber auch als für ihn „nicht ideal“ bezeichnet. Pogacars Vorfreude auf Olympia war ohnehin dadurch geschmälert worden, dass seine Freundin Urska Zigart nicht dabei sein darf. Die zweimalige slowenische Meisterin wurde vom nationalen Olympischen Komitee nicht für Paris nominiert. „Wow, so enttäuscht“, schrieb Pogacar bei Instagram.

Insgesamt gehen 90 Männer und 90 Frauen bei den Straßenrennen in Paris an den Start. Das Männer-Team des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) besteht aus den Tour-de-France-Teilnehmern Nils Politt und Maximilian Schachmann. Der zweimalige Deutsche Meister Schachmann erhielt auch den einzigen deutschen Startplatz im Einzelzeitfahren sechs Tage nach dem Tour-Ende. Beim Giro hatte der Berliner in dieser Spezialdisziplin als Fünfter ein gutes Resultat eingefahren. „Ich freue mich riesig, wieder bei den Olympischen Spielen dabei zu sein. Die Spiele haben eine besondere Strahlkraft und einen hohen Stellenwert für mich“, sagte Schachmann, der bei der Tour für das deutsche Red Bull Team nicht am Start war. Beim olympischen Straßenrennen am 3. August dürfte das Profil mehr Politt entgegenkommen. „Die Klassiker liegen mir, dann sollte mir der Kurs in Paris auch liegen“, sagte der Profi aus Pogacars UAE-Team über das mit 273 Kilometern längste Straßenrennen der olympischen Geschichte. Eine Prognose über die Favoriten sei schwer, so Politt: „Ich denke, eine Gruppe wird vorn gehen, und dann müssen wir bei der richtigen dabei sein.“
Geschwindigkeitsrekord gebrochen
Viel wird auch davon abhängen, wie schwer die Beine der Tour-Starter noch sind. Bei einem Start wäre auch mit Pogacar zu rechnen gewesen. Der Slowene ist keineswegs nur ein Grand-Tours-Fahrer, auch bei den Klassikern hat er seine Extraklasse bereits bewiesen. Sechs Triumphe bei den fünf Monumenten (bedeutendste Klassiker des Radsports) sprechen eine klare Sprache. Dem Mann, der 2020 wie Phoenix aus der Asche stieg und die Radsportwelt aus ihren Angeln hob, ist alles zuzutrauen. Vielleicht sogar zu viel? Pogacars Leistungen geben Rätsel auf, der Dopingverdacht fährt mit. Normalerweise lassen bei Doppelstartern (Giro und Tour) in der letzten Frankreich-Woche die Kräfte spürbar nach – nicht aber bei Pogacar. Der wurde sogar noch stärker. In den Pyrenäen brachen er sowie seine Rivalen Vingegaard und Evenepoel am Plateau de Beille den Geschwindigkeitsrekord. Den hatte Marco Pantani in den Hochzeiten des Blutdopings der 90er-Jahre aufgestellt. Und nun soll ein sauberer Pogacar die 15,8 Kilometer mit einer Steigung von im Schnitt 7,9 Prozent sogar dreieinhalb Minuten schneller gewesen sein als Pantani?

Klar, das Material und das Training haben sich seitdem stark entwickelt. Doch erklärt das alleine die Leistungsexplosion? „Es wird immer Zweifel geben, denn der Radsport wurde in der Vergangenheit stark beschädigt“, sagte Pogacar, der verbotene Mittel oder Methoden öffentlich ablehnt: „Es ist es nicht wert, etwas zu nehmen, womit man seine Gesundheit riskiert.“ Demgegenüber steht jedoch die bestätigte Arbeit des UAE-Teams mit einem Kohlenmonoxid-Rückatmungsgerät. Damit werden zuallererst die Effekte eines Höhentrainingslagers gemessen. Studien kommen aber zu dem Ergebnis, dass das Einatmen der chemischen Verbindung in dosierten Mengen leistungsfördernd sein kann, weil mehr Sauerstoff über das Blut transportiert wird. Ein ähnlicher Effekt setzt auch nach einem Höhentrainingslager ein. „Ich weiß nichts darüber. Ich dachte immer, das ist das, was aus dem Auspuff der Autos kommt. Vielleicht bin ich einfach ungebildet“, sagte Pogacar auf die Gerüchte angesprochen.
Es sei wichtig, „mit Adleraugen auf diesen Radsport zu schauen“, sagte der frühere Radstar Jan Ullrich, der Doping unlängst zugegeben hatte: „Allerdings sollten wir ihn uns auch nicht kaputtmachen lassen. Es ist ein wunderbarer Sport, und die jungen Sportler sollten eine Chance bekommen.“ Das treffe vor allem auf Pogacar zu, den der Tour-Gewinner von 1997 für einen „Ausnahmefahrer“ wie einst Merckx hält.