Cordt Winkler (43) aus Berlin erkrankte während seines Studiums und durchlebte insgesamt vier psychotische Akutphasen. Mit FORUM spricht er über seine Symptome, Erfahrungen mit Medikamenten und Psychotherapie, sein heutiges Leben und sein Festival für Psychoseerfahrene – das „Mad Camp“.

Herr Winkler, während Ihres Studiums haben Sie gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Welche Veränderungen gab es da?
Zunächst waren es nur kleine Unsicherheiten im Alltag. Ich konnte mich nicht mehr auf alltägliche Kleinigkeiten im Haushalt konzentrieren, wie zum Beispiel die Zubereitung eines Kaffees, die mir plötzlich schwergefallen ist. Beim Weg zur Uni habe ich mich unwohl und beobachtet gefühlt und über Small Talk-Konversationen lange nachgedacht, sodass ich mich schnell überfordert gefühlt habe. Ich hatte insgesamt den Eindruck, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt. Diese erste Phase, die sich bei manchen Personen langsam anschleicht, nennt man auch Prodromalphase und sie kann sich über einen Zeitraum von vielen Monaten, manchmal gar Jahren erstrecken. Hier ist es wichtig, sich möglichst schnell Hilfe zu suchen, sei es über seine Hausarztpraxis, eine Institutsambulanz oder Früherkennungszentren, die es in größeren Städten gibt.
Welche Probleme im Alltag hatten Sie noch?
Ich habe mich nach und nach immer mehr zurückgezogen und hielt es ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr aus, unter Leute zu gehen. An die Teilnahme an Seminaren in meinem Studium war nicht mehr zu denken. Ich habe mich immer mehr zu Hause verkrochen, hatte Schwierigkeiten mich zu konzentrieren und habe bemerkt, wie meine Gedanken immer merkwürdiger wurden. Außerdem habe ich bestimmten Ereignissen eine besondere Bedeutung beigemessen. Man könnte auch von Denkstörungen, Paranoia und Beziehungsdenken sprechen.
Wann erfolgte schließlich eine Diagnose?
Während dieser Anfangs- beziehungsweise Prodromalphase dachten Ärzte zunächst, es handele sich um eine leichte Depression und ich bin nach einer Weile wieder herausgeraten, war erneut fähig, meinen Alltag zu bewältigen. Einige Monate später kam es zur ersten Psychose, die mir von einer Psychiaterin in einer Institutsambulanz diagnostiziert wurde. Erst bei einer erneuten psychotischen Episode war von einer Schizophrenie die Rede, versehen mit dem Hinweis, dass es sich damit auch um eine Schublade handele, die mir die notwendige Unterstützung seitens des Gesundheitssystems ermöglicht. Inwieweit eine Person mit dem Begriff Schizophrenie etwas Hilfreiches anfangen kann oder lieber von Psychosespektrum spricht, ist noch einmal eine andere Frage.
Wie hatte sich Ihr bisheriges Leben durch Ihre Erkrankung verändert?
Ich habe mich für diese Diagnose geschämt und habe sie beim Kennenlernen mit neuen Freunden, Bekannten und Kollegen zunächst für mich behalten. Die verinnerlichte Selbstabwertung kann für viele psychoseerfahrene Personen einer zweiten Krankheit gleichkommen und wird oftmals als äußerst belastend erlebt. Diese Form der Stigmatisierung, die nicht von außen kommt, sondern vielmehr die erwartete Haltung des sozialen Umfelds mitdenkt, war für mich in manchen Situationen belastender als die eigentliche Erkrankung, da sie sich auf meinen Selbstwert und meine Identität ausgewirkt hat. Man spricht auch von Selbst-Stigmatisierung.
Wie wurden Sie damals behandelt? Und welche Erfahrungen haben Sie mit Medikamenten und Psychotherapie gemacht?
Zu Beginn habe ich ein Neuroleptikum, man spricht auch von Psychopharmaka oder Antipsychotika, eingenommen, um aus der Akutphase herauszufinden. Wichtig ist es dabei, solche Medikamente in einer möglichst niedrigen Dosis zu nehmen, da die Nebenwirkungen sehr zahlreich und belastend sein können. Außerdem sollte man diese nicht abrupt absetzen, sondern langsam ausschleichen, da man ansonsten, so wie ich, in eine erneute Psychose geraten kann. Eine Psychotherapie habe ich erst Jahre später begonnen und damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Evidenz, zum Beispiel von kognitiver Verhaltenstherapie, ist sehr gut belegt. Der Einbezug von bestimmten Verhaltensweisen und Lifestylefaktoren hat für mich ebenfalls eine große Rolle gespielt, genauso wie mein Sozialleben.
Gab es Rückfälle?
Zunächst einmal hatte ich nach der ersten Psychose meine Medikation eigenmächtig abgesetzt und bin bald wieder in eine Krise geraten. Daraus habe ich gelernt und habe beim nächsten Versuch die Reduktion der Medikamente gemeinsam mit meiner Ärztin besprochen und gemeinsam einen Fahrplan dafür entwickelt. Auch das hat nicht funktioniert, sodass ich insgesamt vier psychotische Akutphasen erleben musste, über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren verteilt. Ich hatte bizarre Wahnvorstellungen, dachte, ich sei Bundeskanzler oder hätte die Weltformel erlebt. Neben diesen größenwahnsinnigen Ideen, war ich auch davon überzeugt, sterben zu müssen, sodass es teils sehr bedrohliche Zustände waren. Nach einigen Wochen habe ich durch medikamentöse und andere Therapien während Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern wieder herausgefunden.
Wie geht es Ihnen heute und was machen Sie beruflich?

Ich habe nach einigen Jahren begonnen, mich aktiv mit dem Phänomen Psychose auseinanderzusetzen und ein Buch darüber geschrieben, „ICH ist manchmal ein anderer“, über mein Leben mit Schizophrenie. Das hat mir sehr geholfen, Distanz zu diesen Erfahrungen zu gewinnen. Einige Jahre später habe ich mich zum Genesungsbegleiter weitergebildet und habe einige Zeit an der Berliner Charité im sogenannten Home Treatment gearbeitet, wo Patienten eine Behandlung in den eigenen vier Wänden ermöglicht wird und die Behandelnden zu ihnen nach Hause kommen. Mittlerweile arbeite ich als Patientenadvokat und Produktentwickler bei dem Start-up Recovery Cat, das eine digitale Therapiebegleitung im Rahmen einer browserbasierten App entwickelt.
Müssen Sie noch Medikamente nehmen?
Nach meiner letzten Psychose vor mehr als zehn Jahren habe ich für einige Jahre eine stabile Dosis eines Neuroleptikums eingenommen. Mittlerweile reduziere ich schrittweise die Medikation und bin auf einem sehr niedrigen Level angekommen. Es ist ein Experiment, in den nächsten Jahren herauszufinden, ob es komplett ohne funktioniert und ich stabil bleibe. Die Lebensqualität leidet sehr unter einer hohen Dosierung. Ich habe vielfältige Erfahrungen mit Gewichtszunahme, Antriebsschwäche, sexueller Dysfunktion, unkontrollierten Bewegungen der Füße und Hände sowie diversen anderen Nebenwirkungen sammeln müssen. Daher verstehe ich gut, dass sich einige Patienten bewusst gegen die Einnahme von Psychopharmaka entscheiden und andere Wege gehen.
Ihr Vater war auch an Schizophrenie/Psychosen erkrankt. Sie haben die Erkrankung und Behandlung Ihres Vaters miterlebt, der auch einmal bei Ihnen zu Hause mit einer Zwangsjacke von Sanitätern abgeholt wurde. Würden Sie sagen, dass sich Umgang und Behandlung mit Erkrankten heute verbessert haben, mehr auf Augenhöhe stattfinden?
In meinem Buch beschreibe ich die Herausforderung, als Angehöriger eines mit Schizophrenie diagnostizierten Vaters, plötzlich selbst von dieser Erkrankung betroffen zu sein. Wenn man einen Blick auf die Versorgungssituation der 80er-Jahre wirft, gibt es einigen Grund optimistisch in die Zukunft zu sehen, da sich tatsächlich einiges geändert hat. Damals gab es nur die großen Landeskrankenhäuser, wo Patienten wie mein Vater lediglich verwahrt und mit allen Mitteln ruhiggestellt wurden. Daraus hatten sich oft sogenannte Teufelskreise entwickelt und Patienten wie mein Vater sind unzählige Male erneut in psychotische Krisen geraten, da diese nicht durch Gespräche behandelt wurden. Auch für Angehörige und das gesamte Umfeld einer erkrankten Person handelt es sich oftmals um eine große Belastung und sehr viel stilles Leid. Glücklicherweise gibt es mittlerweile etwa Angehörigenorganisationen wie den BApK, den Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, der wichtige Arbeit leistet.
Sie kennen die Erkrankung aus Betroffenen- und aus Angehörigensicht. Wie geht man am besten mit Menschen in der akuten Krankheitsphase um?
Die Rolle der Angehörigen ist äußerst komplex, da sie selbst Gefahr laufen, in eine Krise zu geraten und oftmals stark belastet sind. Gleichzeitig ist es wichtig zu differenzieren, da es große Unterschiede macht, ob ich der Sohn, der Partner oder aber die Mutter einer erkrankten Person bin. Mir hat es immer sehr gut getan zu erleben, dass Menschen wirklich für mich da sind, ich ihnen vertrauen kann und sie mir, wie etwa mein Partner, dadurch ein hohes Maß an Stabilität im Leben geben. Als Angehöriger läuft man zudem Gefahr, selbst in die Rolle der professionellen Helfer zu geraten, da man meist einen starken Druck verspürt, helfen zu wollen. Sich die eigene Ohnmacht einzugestehen und oftmals zu erleben, dass Unterstützung nicht oder sehr spät kommt, kann sehr bitter sein. Wenn eine Person zum Beispiel eine medikamentöse Therapie ablehnt, ist es gut zu wissen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, etwa im Rahmen von Soteria-Stationen, den Methoden des Offenen Dialogs, der das soziale Umfeld mit einbezieht, von Ergo-, Kunst- und Sporttherapie, um ein paar Alternativen zu nennen.
Sie veranstalten das „Mad Camp“ – ein Festival für psychoseerfahrene Menschen, Angehörige und Fachpersonen. Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich merke immer wieder, dass es sehr schwierig ist, in unserer Gesellschaft wirklich offen mit dieser Erkrankung umzugehen. Ich selbst entschied mich etwa für einen Künstlernamen, als ich mein Buch veröffentlichte, da ich mit negativen Reaktionen gerechnet habe. Sich Kollegen im Beruf, Bekannten oder Freunden anvertrauen zu können, ist leider nicht selbstverständlich. Auch in den Medien erleben wir immer wieder in so mancher Berichterstattung viele Vorurteile und Klischees, die zur Stigmatisierung beitragen. Ein Treffen im Rahmen eines Festivals über ein Sommerwochenende mit reichlich Gelegenheit sich in einem angenehmen Rahmen vertrauensvoll auszutauschen, erschien mir daher als eine wichtige Möglichkeit, um einen Rahmen für Veränderung zu bieten.

Sie betrachten Ihre Erkrankung mit Humor. Ihre Devise lautet „Glad to be mad“. Inwiefern kann dies helfen?
Ich bin nicht stolz auf meine Diagnose. Wenn ich aber eine solche Diagnose lediglich als eine Katastrophe sehen würde, die mein Leben ruiniert hat und die ich nicht annehmen kann, ist es schwierig, einen guten Umgang mit einer ordentlichen Qualität und einem bedeutungsvollen Leben zu finden. Ein wenig Humor sowie der Fokus auf die Stärke meiner gelebten Erfahrungen, die ich nun einmal sammeln musste, lässt mich anders darauf blicken. Dadurch schaffe ich es zu erkennen, dass ich einiges erreicht habe und zum Beispiel stolz darauf sein kann, einen guten Umgang mit einer großen Herausforderung gefunden zu haben.
Was müsste sich Ihrer Ansicht nach noch für Betroffene verbessern?
Der Trend zu Vereinfachungen und der Suche nach Sündenböcken in unserer Gesellschaft, etwa bei Gewaltverbrechen, ist leider unübersehbar. Die Forderung, Menschen, die einem nicht lieb und in ihren Aktionen schwer verständlich sind, einfach wegzusperren, ist daher eine gefährliche Tendenz, die mir zunehmend Sorge bereitet. Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer wie die Methoden des Open Dialogue oder auch das Weddinger Modell, das auf Gespräche setzt. An solchen Kliniken werden anstatt Sicherheitsbeamten lieber Genesungsbegleiter mit eigenem Erfahrungswissen eingestellt. So wird eine angstfreie Atmosphäre geschaffen, die oftmals die Anwendung von Zwangsmaßnahmen überflüssig werden lässt.
Weitere Informationen: www.cordtwinkler.com