Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van Elst, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg, gilt als einer der führenden Schizophrenie-Experten. Ein Interview über die Probleme mit dem Begriff und mit dem zugrunde liegenden Konzept.
Herr Prof. Tebartz van Elst, Sie sagen, dass es den Begriff und das zugrunde liegende Konzept der Schizophrenie in 100 Jahren nicht mehr geben wird. Welche Probleme existieren hier?
Das Kernproblem, welches ich bei dem Begriff Schizophrenie sehe, ist das, dass es im alltagssprachlichen Kontext so verstanden wird, als würde dieser Begriff eine Krankheit beschreiben. Das ist im strengen Sinne aber nicht der Fall. Als das Konzept vor etwa 100 Jahren von dem berühmten Psychiater Emil Kraepelin geprägt war, war es in der Tat so, dass davon ausgegangen wurde, dass sich hinter der Schizophrenie eine Einheit im klassischen Sinne verbirgt. Das Rollenmodell der Schizophrenie war die Neurosyphilis. Dabei handelt es sich um eine Infektionskrankheit mit dem Bakterium Treponema pallidum, welches neben der klassischen Geschlechtskrankheit Syphilis im weiteren Verlauf zu vielen anderen Krankheitsmanifestationen führen kann, wie zum Beispiel zu Hauterkrankungen, Herzerkrankungen, Gelenkerkrankungen, Muskelerkrankungen, Erkrankungen des Auges und schlussendlich auch Erkrankungen des Gehirns, der sogenannten progressiven Paralyse. Vor 100 Jahren stellten Patienten mit so einer progressiven Paralyse die fast größte Krankheitsgruppe in allen psychiatrischen Kliniken, die damals Nervenheilanstalten genannt wurden, dar. Als dann bedingt durch den medizinischen Fortschritt erkannt wurde, dass all diese unterschiedlichen Krankheitsbilder auf eine einheitliche Ursache, nämliche eine Infektion mit dem Bakterium Treponema pallidum, zurückzuführen sind, war das natürlich ein riesiger Fortschritt für die Medizin.
Wie ging es dann weiter?
Einige Zeit später kam dann durch die Entdeckung von Fleming das Penicillin in Gebrauch, mit dessen Hilfe dann all diese Krankheiten auch kausal und im kurativen Sinne geheilt werden konnten. Die Idee der Schizophrenie war nun die, dass es sich bei den unterschiedlichen klinischen Syndromen, die mithilfe dieses neuen Begriffes zusammengefasst wurden, nämlich im Wesentlichen die paranoiden Psychosen, die Hebephrenien und Katatonien, ganz ähnlich verhalten würde. Kraepelin hatte die Schizophrenie auch nicht so genannt, sondern Dementia praecox und ging davon aus, dass all diese unterschiedlichen Symptome durch einheitliche Ursächlichkeiten erklärt werden können, die zwar zu dieser Zeit noch nicht bekannt waren aber – so der Fortschrittsoptimismus – erkannt und dann auch behandelt werden könnten. Einige Zeit später hat der ebenfalls berühmte Psychiater Bleuler darauf aufbauend das Konzept umbenannt in die „Gruppe der Schizophrenien“.
Im weiteren Verlauf war, Kurt Schneider folgend, meist von der Schizophrenie die Rede. Seit einigen Jahrzehnten wird auch in den offiziellen Klassifikationssystemen DSM und ICD nun auch ganz bewusst nicht mehr davon ausgegangen, dass sich hinter dem allgemein definierten Schizophreniekonzept noch eine einheitliche Kausalursache verbirgt.
Im Alltäglichen ist dies aber noch anders …
Im alltäglichen Reden und Schreiben über die Schizophrenie wird der Begriff aber sprachlich meist so benutzt, als würde er noch so eine einheitliche Kausalursache repräsentieren. Das ist in meinen Augen das Kernproblem, weil die Forschung der letzten 100 Jahre gezeigt hat, dass diese stille Annahme nicht zutrifft. Wird nun heute auf der Grundlage klinischer Symptome wie etwa Halluzinationen oder Wahn oder anderer Denkstörungen eine Schizophrenie diagnostiziert, so wird insgeheim sowohl von den Ärzten als auch den Patienten und Angehörigen davon ausgegangen, als sei damit die Krankheitsdiagnose im kausalen Sinne schon erfolgt. Die Art und Weise, wie der Begriff Schizophrenie im Alltag funktioniert, führt also dazu, dass medizinisch gar nicht mehr genau genug hingeschaut wird, welche denkbaren, wenn auch seltenen Ursachen sich hinter der Schizophreniediagnose verbergen könnten.
Und das ist aus medizinisch-wissenschaftlicher Perspektive das Hauptproblem des Schizophreniebegriffs, wie er in der klinischen und gesellschaftlichen alltäglichen Praxis funktioniert und sich auswirkt.
Gibt es noch weitere Probleme?
Er ist ein Schimpfwort in der Alltagssprache. Er führt zu Stigmatisierung der Betroffenen und manchmal auch der Angehörigen. Er ist ungenau und benennt nicht, was klinisch gemeint ist. So waren die Begriffe des 19. Jahrhunderts Hebephrenie, Katatonie und Paranoia rein deskriptiv viel genauer als der Sammelbegriff Schizophrenie. Auch sprachlich finde ich den Begriff Schizophrenie im Sinne einer gespaltenen Seele vor dem Hintergrund des heutigen Sprachgebrauchs nicht gelungen.
Daher plädiere ich für die Abschaffung des Schizophreniebegriffs aber auch des dahinterliegenden Konzepts und würde für eine Nutzung deskriptiverer Syndrombegriffe plädieren. Den Psychosebegriff finde ich zwar etwas besser, aber auch nicht wirklich gut. Ich würde eher begrifflich beschreiben, was symptomatisch im Vordergrund steht, und von halluzinatorischen Syndromen, von paranoiden Wahnerkrankungen, von katatonen Syndromen oder Negativ-Syndromen reden. Dann würden die Begriffe wenigstens das beschreiben, was symptomatisch gemeint wird.
Unter „Schizophrenie“ können sich viele nichts vorstellen, oft wird es mit Stimmenhören und mit Wahn in Verbindung gebracht. Was fällt noch alles unter diesen Sammelbegriff?
Zum Schizophreniekonzept gehören symptomatisch kognitive Symptome wie Konzentrationsstörung, Aufmerksamkeitsstörung, Gedächtnisstörungen bis hin zu einem völlig zerfahrenen und unorganisierten Sprechen und Denken. Patienten können aber auch formal im Denken geordnet sein und nur inhaltlich unter wahnhaftem Denken leiden. Damit sind unangemessene Urteilsbildungen im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit und Umwelt gemeint. Solche wahnhaften Denkinhalte können leicht zu erkennen sein, etwa wenn ein Mensch glaubt, er sei Napoleon. Sie können aber auch sehr schwer objektiv beurteilbar sein – etwa, wenn sich jemand verfolgt fühlt. Da können die Behandler dann oft nicht klar erkennen, ob das vorgetragene Problem der faktischen Wirklichkeit entspricht oder nicht. Weitere Symptome der Schizophrenie sind affektive Symptome wie eine emotionale Verflachung, ein Nachlassen des Ehrgeizes und des Antriebes, ein sozialer Rückzug. Schließlich gehören auch motorische Symptome wie etwa ein motorisches Einfrieren, ein Verstummen der Sprache (Mutismus) oder auch bizarre motorische Bewegungsmuster zum Spektrum der schizophrenen Symptome. Der Begriff repräsentiert also keineswegs nur Stimmenhören in Form der berühmten akustischen Halluzinationen und Wahn, sondern auch eine Reihe von anderen Symptomen. Die klinischen Zustandsbilder können zum Teil sehr unterschiedlich aussehen.
Was ist der Unterschied zwischen Schizophrenie und Psychose?
Der Begriff Psychose und Schizophrenie wird in der Laien- und Fachsprache häufig überlappend verwendet. Der Psychosebegriff ist ähnlich uneinheitlich definiert wie der Schizophreniebegriff. Psychosen sind im Grunde inhaltlich das Gleiche wie die oben geschilderten schizophreniformen Syndrome. Klassische Psychosen wären etwa eine paranoide Psychose, bei der ein Mensch Stimmen hört, die über ihn reden, mit ihm reden, Befehle geben und bei denen er sich abgehört fühlt, er das Gefühl hat, andere Menschen könnten seine Gedanken lesen, diese wegnehmen oder ihm eingeben und ihn verfolgen. Treten solche Symptome im Zusammenhang mit Drogenkonsum auf, so würde man das eine drogeninduzierte Psychose nennen. Treten sie als Folge epileptischer Gehirnaktivität auf, so wäre es eine epileptische Psychose. Findet man keine Ursachen dafür, so würde man das eine Schizophrenie nennen. Ein anderes Beispiel wäre eine manische Psychose, bei der ein Mensch Größenideen entwickelt, sich euphorisch und ganz toll fühlt, das Gefühl hat, alles Mögliche leisten zu können, keinen Schlaf mehr braucht, schneller spricht, kaum noch zu bremsen ist, eine vermehrte Libido und sexuelle Aktivität entwickelt und etwa einen grandiosen Wahn entwickelt, er sei der Retter der Menschheit und dazu berufen, Übermenschliches zu leisten. Das wäre ein klassisches Beispiel einer manischen Psychose im Zusammenhang mit einer manisch-bipolaren Störung.
Die meisten Menschen, die unter Psychosen leiden, leiden nach medizinischen Kriterien eben auch an einer Schizophrenie oder an Schizophrenie-Spektrum-Störungen, weil die Begriffe nicht wirklich voneinander getrennt werden, sondern überwiegend synonym verwendet werden.
Welche verschiedenen Schweregrade gibt es?
Die Verläufe der schizophreniformen Psychosen sind sehr vielgestaltig. Es gibt Verläufe, bei denen man nur eine Episode erleidet, die vollkommen ausheilt. Es existieren auch solche Verlaufsformen, bei denen es mehrfach im Leben zu ähnlichen psychotischen Episoden kommt. Schließlich gibt es Verlaufsformen, bei denen die einzelnen Episoden unvollständig ausheilen und Restsymptome zurückbleiben. Man nennt dies in der Fachsprache Residuum oder Residualsymptome. Und schließlich gibt es auch Verläufe, bei denen sich die klinische Symptomatik langsam progredient entwickelt und nicht verschwindet. Die Verlaufsformen der schizophreniformen Syndrome ähneln sehr denen der MS, bei denen ebenfalls all diese Verlaufstypen beobachtet werden können.
Es gibt aber sicher auch Menschen, die früher irgendwann mal in ihrem Leben eine psychotische Episode hatten, die völlig ausheilte und die in der Folge ein nach außen unauffälliges Leben führen. Diese werden dies bei der gegebenen Stigmatisierung der Schizophrenien unserer Gesellschaft aber sicher nur ihren intimsten Freunden mitteilen und nicht am Kaffeetisch erzählen.
Wie werden Schizophrenie-Symptome behandelt?
Die klassische medikamentöse Behandlung der psychotischen Symptome erfolgt durch sogenannte antipsychotische Medikamente. Da steht mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Medikamente, die zum Teil auch ganz unterschiedlich wirken, zur Verfügung, die immer wieder die doch sehr bedrängenden Symptome zum Verschwinden bringen können. Wie immer können diese Medikamente je nach konkretem Wirkstoff auch Nebenwirkungen verursachen. Hier muss man im Einzelfall schauen, wie gut die Medikamente wirken und ob sie Nebenwirkungen verursachen oder nicht. Wenn es andere erkennbare Ursachen gibt für die psychotischen Symptome – etwa EEG-Befunde wie bei einer Epilepsie oder im Hirnwasser Hinweise auf autoimmunologische Prozesse des Gehirns – dann können natürlich auch andere kausalere Therapiemethoden gewählt werden. Als Beispiel kann man Teratome nennen, an sich gutartige Tumore, die, insgesamt selten, bevorzugt bei jungen Frauen auftreten. Diese können in seltenen Fällen dazu führen, dass Antikörper gegen das eigene Gehirn produziert werden und diese dann eine mehr oder weniger klassische psychotische Symptomatik verursachen. In solchen Fällen kann man die Krankheit durch die Entfernung des Teratoms, vergleichbar einer Blinddarmoperation, heilen. Das ist aber natürlich insgesamt eher eine Ausnahme.
Denken Sie, dass sich die Sicht und Behandlung in den nächsten zehn, 20 Jahren bei Schizophrenien erheblich verbessern werden?
Ich persönlich erhoffe mir zumindest davon, dass viel differenzierter und viel symptombezogener auf die Phänomene geschaut wird, die man heute unter dem Begriff Schizophrenie zusammenfasst, dass dadurch ein umfassenderes und besseres Verständnis dessen entwickelt wird, was da wirklich bei den betroffenen Menschen passiert. Die allermeisten Menschen mit schizophreniformen Symptomen leiden sehr darunter und sind völlig harmlos. Ich persönlich glaube auch, dass die Erkenntnis, dass heutzutage etwa in Form der immunologischen Psychosen immer mehr und mehr Beispiele erkannt werden, bei denen die psychotischen Symptome Folge einer entzündlichen Hirnerkrankung sind, dass dadurch das Krankheitsbild entmythologisiert wird und vielmehr als Hirnfunktionsstörung begriffen wird, die uns alle treffen kann, früher oder später in unserem Leben. Ich denke, dass man die Phänomene möglichst wissenschaftlich betrachten sollte und dass dadurch der mystische Dunstschleier, der nach meiner Wahrnehmung den Begriff Schizophrenie im alltäglichen Sprechen umhüllt, weggeblasen werden kann.