Im sechsten Anlauf konnte sich der ehemalige Formel-1-Pilot Pascal Wehrlein nach dem Finale der Saison 2023/2024 in London am Steuer eines Elektro-Porsche zum ersten deutschen Weltmeister der Formel E küren lassen.

Deutschland hat endlich wieder einen Weltmeister im Automobilrennsport. Darauf mussten die hiesigen Fans der schnellen Geschosse ziemlich lange warten. Denn letztmals war das Nico Rosberg anno 2016 in einem dramatischen Finale in der Königsklasse Formel 1 gelungen. Damals hatten in der Republik 7,45 Millionen Zuschauer vor den heimischen TV-Geräten bei der RTL-Übertragung mitgefiebert. Doch als Pascal Wehrlein beim Saisonfinale der FIA-Formel-E-Weltmeisterschaft 2023/2024 auf dem spektakulären Excel Circuit in den Docklands von East London am 20. und 21. Juli 2024 im Rahmen eines sogenannten Double-Header-Events endlich den erträumten Champion-Titel gewinnen konnte, hatten nur einige Hunderttausend Hardcore-Motorsport-Freunde die Mattscheibe bei der Live-Berichterstattung des Free-TV-Senders DF1 eingeschaltet. „Die Batterieserie und ihre pfeifenden Boliden sind noch immer nicht massentauglich“, so die „FAZ“ resümierend betreffs des vergleichsweise geringen Interesses der breiten deutschen Öffentlichkeit an dieser speziellen Variante des Automobilsports, die immerhin schon seit zehn Jahren größtenteils auf Stadtkursen ausgetragen wird.
Strikte technische Regelungen
Wofür es diverse Gründe gibt. Die Namen der meisten Piloten sind nur Insidern geläufig, auch wenn im Teilnehmerfeld der elf Teams mit jeweils zwei Cockpit-Insassen, die in der Saison 2023/2024 bei insgesamt 16 Rennen an den Start gegangen waren, sogar einige Fahrer mit Formel 1-Vergangenheit mitgemischt hatten: Pascal Wehrlein, Lucas di Grassi, Jean-Éric Vergne, Stoffel Vandoorne oder Nyck de Fries. Auch einige Veteranen des Deutschen Tourenwagen Masters (DTM) wie Nico Müller, Nick Cassidy oder Robin Frijns nicht zu vergessen. Aber allen Genannten fehlt die populäre Strahlkraft der aktuellen Formel 1-Helden wie Max Verstappen oder Lewis Hamilton. Noch fataler wirkt sich die Absenz automobiler Aushängeschilder wie Mercedes, BMW oder Audi aus, die allesamt nach kurzzeitigem Engagement in der Formel-E-Weltmeisterschaft wieder ausgestiegen waren. Weil sie aufgrund der strikten technischen Reglementierungen mit Einheitschassis und keiner Chance auf bessere eigene Aerodynamik-Lösungen oder einheitlichen Batterie-Vorgaben keinen ausreichenden Entwicklungsspielraum gesehen hatten, den sie eventuell für die Verbesserung von Straßenmodellen hätten nutzen können. Aus ihrer Sicht dürfen noch viel zu viele Komponenten in den Boliden, die bei einer Länge von gut fünf Metern und einer Breite von rund 1,7 Metern über eine maximale Leistung von 350 kW (= 476 PS) verfügen, eine Höchstgeschwindigkeit von 322 Kilometern pro Stunde erreichen können und rund 780 Kilogramm auf die Waage bringen dürfen, verpflichtend baugleich sein. Lediglich beim Antriebsstrang bestehend aus Motor, Getriebe und Inverter ist neben der Hinterradaufhängung und der Software ein gewisser Spielraum für eigene Innovationen vorhanden.

Attack-Mode-Regel auch bei Gen3
Auch die Verhängung von teils drakonischen Strafen bei vergleichsweise geringen Verstößen, die die Ergebnisse eines E-Prix-Events im Nachhinein erheblich verändern können, sorgten in der Vergangenheit nicht nur für Verwirrung unter den Zuschauern, sondern auch für reichlich Ärger bei den betroffenen Teams. Last but not least ist das Regelwerk auch viel zu kompliziert gestrickt und wird zudem viel zu häufig verändert. Etwas ganz Skurriles wie der sogenannte Fanboost, bei dem in Online-Abstimmungen Lieblingsfahrern ein zusätzlicher Energieschub zugeteilt werden konnte, wurde zwar mit dem Ende der sogenannten Gen2-Ära, der zweiten Fahrzeuggeneration (2018-2022), abgeschafft. Dafür gibt es aber auch in der ab der Saison 2022/2023 geltenden Gen3-Ära immer noch die meist rennentscheidende und verpflichtend einzuhaltende sogenannte Attack-Mode-Regel, die das Feld regelmäßig so richtig durchrütteln kann. Mit ihr kann das seit 2023 etwas verschlankte Fahrzeug zwar einen Energieschub erhalten, aber der Umweg abseits der Ideallinie durch die Attack-Zone mit Auslösen des Modus durch korrektes Überfahren von drei Aktivierungsstreifen ist stets mit einem Zeitverlust verbunden. Immerhin gibt es inzwischen wie in der Formel 1 bei jedem Rennen eine vorab festgelegte Rundenzahl, während früher 45 Minuten plus eine letzte Runde zurückgelegt werden mussten. Die von der FIA propagierte Idee, mit einer umweltfreundlichen Rennserie für mit Elektromotor betriebenen Formelwagen „vor allem neue, junge und nachhaltigkeitsbewusste Fans begeistern“ zu können, scheint bislang nicht so recht aufgegangen zu sein. „Die Formel E wird eine Randerscheinung bleiben, titelte der „Spiegel“ im Jahr 2021. Eine Einschätzung, die bislang nicht revidiert werden konnte. Von der Popularität, wie sie traditionsreiche Motorsportarten wie die Formel 1 oder die DTM hierzulande genießen, ist die Formel E noch meilenweit entfernt.

Möglicherweise kann der WM-Sieg von Pascal Wehrlein ja daran künftig etwas ändern. Es war sein sechster Anlauf auf den Titelgewinn, wobei seine früheren Versuche weitestgehend unter dem Radar der hiesigen Öffentlichkeit abgelaufen waren. Wehrlein wurde am 18. Oktober 1994 in Sigmaringen als Sohn eines deutschen Vaters und einer aus Mauritius stammenden Mutter geboren. Ähnlich wie Michael Schumacher begann er seine Motorsportkarriere auf der Kartbahn und wechselte schon 2010 in den Formelsport im Rahmen des ADAC-Formel-Masters über, das er 2011 für sich entscheiden konnte. Damals wurde er schon als größte deutsche Nachwuchs-Hoffnung im Motorsport gehandelt. Nach weiteren Erfolgen in der Formel-3-Euroserie und der europäischen Formel-3-Meisterschaft gelang ihm 2013 der Sprung in die DTM, nachdem er seine Unterschrift als Vertrags- und Testfahrer bei Mercedes geleistet hatte. Zwei Jahre später konnte er im zarten Alter von 20 Jahren zum jüngsten DTM-Champion aller Zeiten aufsteigen. Das war sein Ticket für den Einstieg in die Formel 1, in der er jeweils eine Saison lang für die beiden chancenlosen Teams Manor (2016) und Sauber (2017) am Steuer gesessen hatte und auf 39 Grand Prix-Teilnahmen sowie insgesamt sechs WM-Punkte gekommen war.
Formel E als „Randerscheinung“
Danach konnte der Modellathlet, 70 Kilogramm Körpergewicht bei einer Größe von 1,75 Metern, kein Formel 1-Cockpit mehr ergattern und kehrte daher für Mercedes zur DTM zurück. Nach einer enttäuschenden Saison mit lediglich dem achten Platz in der DTM-Gesamtwertung und einem Engagement als Mercedes-Formel 1-Testfahrer trennten sich die Wege zwischen Wehrlein und den Silberpfeilen. Statt wie manche Kollegen nun sein berufliches Heil in der FIA-Langstrecken-Weltmeisterschaft oder im Rally-Sport zu suchen, wandte sich Wehrlein der Formel E zu. Was eine enorme Umstellung war: „Die Formel E-Autos sind am schwierigsten zu fahren“, so sein Statement beim Einstieg ins indische Motorsportteam Mahindra Racing in der Saison 2018/2019. Ein zweiter Platz in Santiago de Chile sollte neben einer Anstellung als Ferrari-Formel 1-Testfahrer sein persönliches Jahreshighlight werden. Da die zweite Saison 2019/2020 bei seinem indischen Rennstall eine Pleite gewesen war, wechselte er als Werksfahrer zu Porsche, genauer gesagt ins TAG Heuer Porsche Formel-E-Team.
Weltmeistertitel mit knappem Vorsprung

Porsche war 2019 mit seinem Porsche 99X Electric in die Formel E eingestiegen. Bei seinem vierten Rennen für Porsche gelang Wehrlein in Rom der erste Podestplatz, in der Folgesaison 2021/2022 konnte er seinem Arbeitgeber den Sieg beim E-Prix in Mexiko bescheren. Noch erfolgreicher mit drei Rennsiegen und insgesamt vier Podiumsplatzierungen verlief die Saison 2022/2023. Den möglichen WM-Titel verspielte er vor allem mit zu wenig konstanten Leistungen im Qualifying. In der jüngst beendeten Saison 2023/2024 konnte er mit seiner zum persönlichen Markenzeichen gewordenen Startnummer 94 diese Qualifying-Schwäche komplett ablegen und mit drei Siegen in Mexiko, Misano und London sowie insgesamt fünf Podestplätzen den so lang ersehnten WM-Triumph endlich erzielen. Wobei die Entscheidung zugunsten Wehrleins so knapp ausgefallen war, wie sie nur konnte: Seinen 198 Punkten standen 192 Punkte seine ärgsten Rivalen, des Neuseeländers Mitch Evans im Jaguar-Cockpit, gegenüber. Vor den beiden Races des Londoner Saisonfinales hatten mit Evans und dessen Landsmann Nick Cassidy sogar zwei Jaguar-Piloten vor Wehrlein das Ranking angeführt. Doch ausgerechnet auf der Messehallenpiste mit einer Kombi von Indoor- und Outdoor-Streckenabschnitten, wo der Porsche bei früheren Rennen keine Schnitte bekommen hatte, gelang Wehrlein ein Sieg im Samstagrennen und ein zweiter Platz beim abschließenden Sonntag-Event. Das genügte zum WM-Sieg, weil Cassidy nach einem Rempler aufgeben musste und Evans seine Probleme mit dem Attack-Modus hatte. In der Hersteller- und Teamwertung musste sich Porsche allerdings mit dem zweiten Platz hinter Jaguar begnügen. Nach einem kurzen Familienaufenthalt in London kehrte Wehrlein mit seiner eidgenössischen Partnerin und seinem Töchterchen Soleya in seine Wahlheimat, das Schweizer Städtchen Kreuzlingen am Bodensee, zurück. Um sich in nächster Zeit vor allem beim Wakeboarden und später beim Snowboarden zu entspannen.