Trotz der steinzeitlichen Taliban-Herrschaft in Afghanistan gehören bei den Sommerspielen in Paris auch drei Frauen zum Olympia-Team des Landes. Am Signal der Botschaft durch die Teilnahme der Mannschaft trotz des Sportverbots für Frauen am Hindukusch scheiden sich die Geister.

Drei Athletinnen sind bei den ausklingenden Olympia-Wettbewerben zumeist einen zweiten Blick wert gewesen. Das Trio stahl der Konkurrenz in der Hauptstadt der Laufstege allerdings nicht etwa durch modelhaftes Aussehen die Show. Vielmehr wunderten sich so manche Zuschauer aus einem anderen Grund über die Sprinterin Kamia Yousufi sowie die radfahrenden Schwestern Fariba und Yuldoz Hashimi. Die Sportlerinnen eiferten für Afghanistan mit ihren internationalen Rivalinnen im olympischen Geist um die Wette.
Aus dem öffentlichen Leben verbannt
Moment mal, mag sich der eine oder andere Besucher gefragt haben: Afghanistan? Richtig: Afghanistan. Jenes Land in einer unwirtlichen Gebirgsregion in Asien, in dem radikalislamische Taliban vor drei Jahren zum zweiten Mal die Herrschaft gewaltsam an sich rissen und seitdem Frauen und Mädchen praktisch völlig aus dem öffentlichen Leben verbannt sind. Wo nach der steinzeitlich anmutenden Auslegung des islamischen Rechts durch das bislang von keinem Land der Welt anerkannte Schreckensregime in der Hauptstadt Kabul dem weiblichen Teil der Bevölkerung neben dem Zugang zu Bildungseinrichtungen und Arbeit eben auch die Ausübung von sportlichen Aktivitäten strengstens verboten ist.

Wie aber schafften es die drei Afghaninnen trotz dieser menschenrechtsverachtenden Restriktionen dennoch ins nur doppelt so große Olympia-Team ihrer Heimat? Der Schlüssel zur Antwort ist die nicht selten willkürliche Logik des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). „Die sechs in Paris teilnehmenden Athletinnen und Athleten repräsentieren das Afghanische Olympische Komitee AOC und nicht Behörden der Taliban“, ließen die Spiele-Organisatoren kurz vor der Eröffnungsfeier von Paris auf der Seine auf mehrfache Medienanfragen verlauten. Dieses Kniffes bedienen sich die Herren der Ringe zur Verhinderung eines Umgangs mit politisch isolierten Regimen immer wieder gern.
So ernannten zwar auch die Taliban im September 2021 kurz nach ihrer Machtübernahme einen neuen Präsidenten für das Olympia-Komitee aus ihrer willfährigen Gefolgschaft - aber das IOC und sein deutscher Präsident Thomas Bach erkennen weiterhin nur den Chef und den Generalsekretär der abgesetzten AOC-Führung als Ansprechpartner an. Alleine nur die beiden im Exil lebenden Funktionäre seien für das IOC die maßgeblichen Kontaktpersonen „für die Vorbereitung und Teilnahme des afghanischen Olympia-Teams“, hieß es am IOC-Sitz in Lausanne weiter.

Bei dem Duo laufen denn auch seit drei Jahren alle Fäden und Informationen über konkurrenzfähige Aktive mit afghanischem Pass im Ausland zusammen. Yousufi war jedoch schon länger im Blickfeld: Die Leichtathletin war 2021 bei den Corona-Spielen in Tokio die einzige Frau in Afghanistans Mannschaft und damit entsprechend der paritätischen IOC-Gleichberechtigungsdoktrin auch gleich Fahnenträgerin ihres Heimatlandes. Nur Tage nach der Schlussfeier und Yousifis Heimkehr eroberten die Taliban die Macht am Hindukusch, und die Leichtathletin brachte ihre Freiheit und sich über den Iran in Australien in Sicherheit.
„Gestohlene Träume und Hoffnungen“
Bei ihrer Nominierung für Paris gut drei Jahre später machte Yousufi aus ihrem Selbstverständnis als sprintende Aktivistin kein Hehl: „Mädchen und Frauen in Afghanistan sind ihrer Grundrechte beraubt worden. Ich nehme für die gestohlenen Träume und Hoffnungen aller afghanischen Frauen teil, die nicht das Recht und die Möglichkeit haben, als freie Menschen Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen, und nicht einmal einen Park betreten dürfen.“
Auch die beiden nach Italien geflohenen Hashimi-Schwestern in Afghanistans Olympia-Aufgebot betonten nach ihrer Berufung für die Sommerspiele, „mit der Olympia-Teilnahme die Kraft der afghanischen Frauen zeigen“ zu wollen.
Davon wollte Afghanistans Generaldirektion für Leibeserziehung und Sport der Taliban-Ideologie folgend vor den Spielen in Frankreich selbstredend rein gar nichts wissen. „Wir haben“, ließ das staatliche Sportamt mitteilen, „wir haben keine Informationen darüber, dass Athletinnen unseres Landes zu diesen Wettbewerben eingeladen worden sind. Den drei afghanischen Athleten wünschen wir gutes Gelingen.“
Zynischerweise stellte ein Amtssprecher den Paris-Start des afghanischen Athletinnen-Trios ausgerechnet mittels der überkommenen Glaubenssätze der Hindukusch-Herrscher als Fake News dar: „In Afghanistan wurde Sport für Frauen eingestellt. Wie kann eine Frau in die Nationalmannschaft kommen, wenn sie keinen Sport treibt?“

Dass sich das IOC vor diesen Hintergründen im Vorfeld von Paris intensiv um die Klarstellung bemühte, keinen einzigen Vertreter der Taliban in Paris als Gast zu betrachten, versteht sich beinahe von selbst. Doch selbstverständlich ist auf der sportpolitischen Bühne nur das Allerwenigste. Afghanistan zählt dabei zu den komplexesten Themenkreisen und wird – wenig verwunderlich – ausgesprochen kontrovers diskutiert. Denn an der Botschaft der Teilnahme einer afghanischen Mannschaft an Olympischen Spielen scheiden sich die Geister.
Das ist zunächst einmal das IOC selbst. Während der Ringe-Orden Afghanistan nach der ersten Machteroberung der Taliban 1996 wegen der nachfolgenden Entrechtung der weiblichen Bevölkerung von den Sommerspielen 2000 in Sydney noch ausgeschlossen hatte, setzt Bachs Organisation inzwischen auf eine Doppelstrategie: Vordergründig wickelt das IOC das Alltagsgeschäft mit der demokratisch legitimierten AOC-Spitze ab, hinter den Kulissen bestehen allerdings inoffizielle Kontakte und Kooperationen, „um die Zugangsbeschränkungen für Frauen und Mädchen im Sport aufzuheben“, wie ein IOC-Sprecher im Frühjahr bestätigte.
Auch wenn dieser naiv erscheinende Plan bis Paris nicht aufgegangen ist und die Taliban „nicht gerade beeindruckende Maßnahmen“ zur Verbesserung der Frauenrechte im Sport für sich reklamieren, will das IOC den Dialog mit Kabul in Einklang mit ebenfalls gemäßigten Positionen der Vereinten Nationen (UNO) in der Frage des afghanischen Sports aufrecht erhalten: „Wir glauben nicht, dass die Isolation der afghanischen Sportgemeinschaft die richtige Herangehensweise ist.“
Eine völlig konträre Haltung dazu hat die afghanische Regimegegnerin und ehemalige Olympia-Teilnehmerin Friba Rezayee. Die ehemalige Judoka fordert vehement den Ausschluss Afghanistans von Olympischen Spielen.
Keine der Starterinnen lebt im Land selbst

Zwar ist Rezayee bewusst, dass in erster Linie afghanische Aktive die Leidtragenden wären, doch hält die Menschenrechtlerin diese Konsequenz für das kleinere Übel: „Keine der drei Frauen, die Afghanistan vertreten, lebt und trainiert im Land und könnte auch nicht dorthin reisen, ohne ihr Leben zu riskieren. Zwei der drei männlichen Athleten, ein Sprinter und ein Schwimmer, sind ebenfalls aus dem Exil angereist. Nur der dritte, ein Judoka wie ich, trainiert in Afghanistan. Indem das IOC ihnen erlaubt, für Afghanistan zu starten, untergräbt es nicht nur das eigene Engagement für die olympischen Werte, sondern verleiht auch dem nicht anerkannten Regime der Taliban Legitimität“, erläutert die frühere Sportlerin ihren Standpunkt.
Rezayee beruft sich zusätzlich auf die Olympische Charta: „Die Ausübung von Sport“, heißt es in den Leitsätzen der Olympischen Bewegung, „ist ein Menschenrecht. Jeder Mensch muss die Möglichkeit zur Ausübung von Sport ohne Diskriminierung jeglicher Art und im olympischen Geist haben.“ Tatsächlich sind schon Länder für weniger eindeutige Verstöße gegen die Charta von Olympia ausgeschlossen worden.
Auf Unterstützung von Afghanistans erstem und bisher auch einzigen IOC-Mitglied kann Kabul nicht hoffen – es ist eine Frau: Die frühere Basketball-Nationalspielerin Samira Asghari kehrte von ihrem Auslandsstudium nach der Rückkehr der Taliban nicht mehr in ihre Heimat zurück und bemüht sich im Exil um eine verbesserte Lebenssituation für afghanische Frauen und Mädchen.