Seine Blockaden und Alleingänge bringen die EU wiederholt an Grenzen. Mit seinen jüngsten „Friedensmissionen“ könnte Victor Orbán den Bogen überspannt haben. Über Motive und Ziele wird spekuliert. Vielleicht sind sie simpler, als die Propaganda vermuten lässt.
Beachtliche 200 Millionen Euro Zwangsgeld und eine Million zusätzlich für jeden weiteren Tag. Die finanziellen Sanktionen, die der Europäische Gerichtshof gegen Ungarn verhängt hat, sind heftig. In der Begründung ist die Rede von einem „schweren Verstoß gegen den Grundsatz der Solidarität“, von einer „erheblichen Bedrohung für die Einheit des Unionsrechts“, einem „beispiellosen und außergewöhnlich schwerwiegenden Verstoß gegen EU-Recht“. Ungarn weigert sich mit fast schon konstanter Dreistigkeit seit Jahren, EU-Asylrecht umzusetzen. Das Urteil erfolgte Mitte Juni.
Ein paar Wochen später, Ende Juli, der nächste Schritt: Ungarn hat das Recht auf Unterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine weitgehend beschnitten. Das zumindest geht aus einer Anfrage von EU-Abgeordneten hervor. Demnach sollen ukrainische Flüchtlinge aus Regionen, in denen keine Kämpfe stattfinden, keinen Anspruch mehr auf staatliche Unterkunft haben. Parteiübergreifend fordern die Abgeordneten von Sozialisten, Grünen, Liberalen und Linken Klärung, ob diese ungarische Anordnung einmal mehr gegen EU-Regeln, etwa zum vorübergehenden Schutz verstößt.
Gleichzeitig hat Ungarn überraschend seine Grenzen für eine ganz andere Gruppe geöffnet, nämlich Gastarbeiter aus Russland und Belarus. Deren Aufenthalt wird durch die sogenannte „nationale Karte“ so sehr erleichtert, dass manche darin eine Türöffnung für Spione befürchten. Die Regelung könnte „schwerwiegende Schlupflöcher für Spionageaktivitäten“ schaffen, notiert der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, in einem Schreiben an EU-Ratspräsident Charles Michel.
Rückblende: Zwei Wochen vorher war Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán überraschend bei Russlands Staatschef Putin im Kreml aufgetaucht. Es war der Beginn seiner selbsternannten „Friedensmission“, die ihn dann weiter zu Chinas Staatschef Xi Jinping und anschließend zu US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump führte.
Überspannt Orbán den Bogen?
In Brüssel und den meisten europäische Hauptstädten ist man von Orbán einiges gewöhnt. Diese „Friedenstour“ hat dann aber nochmal einiges getoppt. Zumal Ungarn – turnusgemäß – seit Juli für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Nun musste Brüssel aller Welt erklären, dass Orbáns Egotrip auf keinen Fall im Namen der EU sei.
Wovon sich jemand wie Orbán nicht beeindrucken lässt, im Gegenteil. Er lieferte anschließend einen Reisebericht ab, der nichts anderes enthielt als die orginalgetreue (und bekannte) Position aus Moskau und Peking, um dann noch für Trump zu werben: „Ich kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass er kurz nach seinem Wahlsieg nicht bis zu seiner Amtseinführung warten wird, sondern sofort bereit sein wird, als Friedensvermittler aufzutreten. Dafür hat er detaillierte und fundierte Pläne“, so Orbán.
Im Rest der EU war man schon lange in Sorge darüber, dass Ungarn in diesen Zeiten und dieser Situation die Ratspräsidentschaft innehat, das Land, dessen Regierungschef eine EU-Blockadehaltung zu seinem Markenkern kultiviert hat.
Im Vorfeld gab es Überlegungen, ob das zu verhindern oder zu umgehen sei, die letztlich aber nicht weiter verfolgt wurden. Das mag der eine oder andere im Nachhinein bedauern. Jedenfalls haben Orbáns Aktivitäten schon in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft heftige Diskussionen um angemessene Reaktionen ausgelöst. Die sollen einerseits deutlich machen, dass sich Orbán zunehmend isoliert (allenfalls der slowakische Regierungschef Robert Fico fährt auf einer ähnlichen Linie), andererseits soll und darf das nicht dazu führen, dass in der EU für den Rest des Jahres kaum noch etwas geht.
Die Nerven sind angespannt. In Brüssel und Straßburg herrscht überwiegend die Einschätzung vor, dass Orbán den Bogen überspannt, sich vom Dauerquertreiber zu einem echten Problem entwickelt und das Geschäft von Putin und Trump betreibt. Den Autokraten kann es nur recht sein, Orbán als Kronzeugen für ein zerstrittenes Europa und Einfallstor für Zwist und Unruhe zu haben.
Bei der Frage nach Motiven und Zielen Orbáns wird regelmäßig auf die innenpolitische Situation verwiesen. Bilder von roten Teppichen mit militärischen Spalieren sollen von der Situation im Land ablenken. Zoltán Ranschburg vom Thinktank Republikon analysierte (im ZDF-Interview): „Ungarn ist nach 14 Jahren Orbàn, nach falschen Weichenstellungen und überbordender Vetternwirtschaft und Korruption, so gut wie pleite“.
Bei der Europawahl hat Orbáns Regierungspartei Fidesz die Quittung bekommen, war mit rund 44 Prozent zwar wieder stärkste Kraft; es war aber das schlechteste Ergebnis seit Langem.
Außerdem wird auf die nach wie vor große Abhängigkeit Ungarns von russischen Ölimporten verwiesen. Bei den EU-Sanktionen gab es für Ungarn eine Ausnahme, um mehr Zeit zu haben, sich unabhängiger zu machen. Diese Zeit hat Ungarn aber nicht genutzt. Im Gegenteil: Ungarn setzt auf Atomkraft, genauer: auf AKW des russischen Energiekonzerns Rosatom.
Während sich viele über Orbáns „Friedensmission“ in Moskau echauffierten, erklärte bei diesem Anlass – wenig beachtet– Putin, dass der Bau an dem „gemeinsamen Vorzeigeprojekt“ weitergehe. Die Verträge darüber haben Russland und Ungarn 2014 abgeschlossen, im Jahr der Krim-Annexion. Die ungarischen Behörden haben die Baugenehmigung im August 2022 erteilt – ein halbes Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Schon jetzt liefern die vier aus der Sowjetzeit stammenden Reaktoren „Paks I“ über 40 Prozent des ungarischen Stroms, mit den neuen russischen Reaktoren („Paks II“, geplante Inbetriebnahme 2032) würde sich der Anteil auf über 80 Prozent erhöhen. Die auf über zwölf Milliarden geschätzten Gesamtkosten werden zum allergrößten Teil über russische Kredite finanziert.
Die Rolle der EU ist dabei nicht so eindeutig. Während ansonsten Orbáns Alleingänge immer auf heftige Kritik stoßen, lässt man Ungarn in diesem Fall offensichtlich gewähren. Möglicherweise ist das auch das Entgegenkommen, um Ungarns Blockade an anderen Stellen aufzubrechen.
Putins beiläufige Anmerkung zeigt womöglich einen der wirklichen Hintergründe des „Friedensbesuchs“. Und auch beim anschließenden Treffen in Peking könnte Ungarns Hoffnung auf chinesische Investitionen ein treibendes Motiv gewesen sein. Die Vermutung scheint aufgrund der Hinweise für etliche Experten schlüssig.
Werben um Investitionen
Neben den ökonomischen Interessen treibt Orbán aber wohl auch ein politisches Kalkül. So vermutet der Politologe Andras Racz, Experte für ungarisch-russische Beziehungen, derzeit Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), gegenüber der Deutschen Welle: „Entweder ist Orbàn verrückt geworden, oder er ist überzeugt, dass die Ukraine den Krieg verlieren wird und möchte sich rechtzeitig auf die Gewinnerseite stellen.“
Auch die Anbiederungen an Trump bis hin zur Adaption seines Slogans („Make Europe Great Again“ als Slogan von Ungarns Ratspräsidentschaft) könnten getrieben sein vom Wunsch, auf der mutmaßlichen Siegerseite autokratisch Gleichgesinnter zu stehen. Beim Treffen mit Trump (11. Juli) war US-Präsident Biden noch im Rennen und alles schien da noch auf einen Wahlsieg Trumps hinauszulaufen.
Die Frage, wie mit Orbán umgehen, treibt Brüssel schon lange um, und wird, so steht zu vermuten, noch um weitere Kapitel bereichert. Aushalten oder Ausgrenzen? Die Verärgerung jedenfalls ist enorm und nimmt zu, je mehr Orbán die Grenzen weiter austestet. In Brüssel wird deshalb immer wieder an ein richtig scharfes Schwert erinnert, das sogenannte „Artikel-Sieben-Verfahren“ (Rechtsstaatsmechanismus). Bei Gefahr einer Verletzung grundlegender EU-Werte können (finanzielle) Sanktionen verhängt werden, bei schwerwiegenden Verstößen ist sogar die Aussetzung des Stimmrechts möglich. Damit wäre Orbáns wichtigstem Druckmittel (Veto bei Einstimmigkeitsprinzip) der Wind aus den Segeln genommen. Aber die Hürden dafür sind aus guten Gründen sehr hoch gelegt.