Ein Jahr nach dem endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland ist eine Entscheidung über ein Endlager für den hochradioaktiven Müll immer noch nicht in Sicht. Im Gegenteil wird es noch deutlich länger dauern.
Die Geschichte der Menschheit ist noch relativ jung. Derzeit gelten Knochen aus Marokko als die ältesten Fossilien von Homo sapiens (moderner Mensch). Sie sind etwa 315.000 Jahre alt. Vor nicht einmal einhundert Jahren (1938) haben deutsche Forscher die Kernspaltung entdeckt, Ausgangspunkt der Nutzung der Kernenergie. Und nun läuft die Suche nach einem Endlager, das die hochradioaktiven Abfälle sicher beherbergen kann – für eine Million Jahre! Ein Zeitraum, der ebenso ziemlich unvorstellbar wie ganz offensichtlich zwingend notwendig ist.
Angesichts solcher Dimensionen macht es durchaus Sinn, bei der Suche nach einem geeigneten Ort für ein Atommüll-Endlager äußerste Sorgfalt walten zu lassen. Erst recht, weil sich frühere politische Festlegungen (Gorleben) als unhaltbar herausgestellt haben.
Entscheidung erst in Jahrzehnten?
Diese Suche soll, statt wie einmal angepeilt bis 2031, nun möglichweise bis 2074 brauchen. Das würde bedeuten, dass allein die Suche nach einem geeigneten Ort für die hochriskanten Abfälle genauso lange dauern würde, wie die Atomkraft zu friedlichen Zwecken in Deutschland genutzt wurde, nämlich rund sechs Jahrzehnte. Und angenommen, es gäbe dann tatsächlich eine Entscheidung, dann ist noch völlig offen, bis wann ein solches Endlager tatsächlich auch gebaut und betriebsfertig sein könnte.
Für die Standortsuche ist das BASE zuständig. Dieses Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung wurde 2014 gegründet, drei Jahre nach dem endgültigen Ausstiegsbeschluss. Der Aufbau dieser neuen Einrichtung wurde aber gleich bis 2016 auf Eis gelegt. Zunächst sollten die Ergebnisse der sogenannten Endlagerkommission abgewartet werden. Diese Bund-Länder-Kommission hat gesellschaftliche und technische Kriterien für die Suche nach einem Endlagerstandort formuliert. Im Ergebnis steht die Festlegung, dass geologisch Salz-, Ton- oder Kristallin-Formationen in Frage kommen und dass es eine tiefengeologische Lagerung geben soll, also ein Endlager tief unter der Erde. Als zusätzliches Kriterium wurde Rückholbarkeit festgelegt. Das heißt, es sollte die Möglichkeit geben, bereits gelagerte Abfälle wieder herausholen zu können, wenn sich dazu eine Notwendigkeit ergeben sollte, die heute noch nicht absehbar ist.
Vor vier Jahren hat dann die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), die mit der Standortsuche beauftragt worden war, einen Zwischenbericht vorgelegt, in dem mögliche Gebiete für ein Endlager aufgelistet wurden, die die Kriterien dieser Mindestanforderungen erfüllen. Das Ergebnis hat überrascht. Insgesamt wurden 90 Teilgebiete identifiziert, die sich über eine Fläche von rund 250.000 Quadratkilometern erstrecken, was mehr als der Hälfte der Fläche der Bundesrepublik entspricht. Das war deutlich mehr, als von vielen vermutet wurde. Und: Der Standort Gorleben war nicht dabei. Somit wurde auch durch diese Voruntersuchungen bestätigt, dass die frühere, heftig umstrittene politische Entscheidung für Gorleben aus wissenschaftlicher Sicht eine Fehlentscheidung war.
Ein Jahr später (2021) dann die Konsequenz: Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit verkündet das Ende von Gorleben als Endlagerstätte. Staatssekretär Jochen Flasbarth: „Im Standortauswahlverfahren soll der Endlagerstandort mit der bestmöglichen Sicherheit gefunden werden. Klar ist bereits, dass der Salzstock Gorleben das nicht ist. Seit dem Zwischenbericht der BGE ist wissenschaftlich erwiesen, dass es viele geologisch besser geeignete Standorte gibt. Das Kapitel Endlager Gorleben wird ab dem heutigen Tag geschlossen“. Die Kosten für das gescheiterte Projekt bezifferte die BGE Anfang des Jahres auf über zwei Milliarden Euro.
10.000 Tonnen Müll aus Brennelementen
Der Zeitplan für die Standortsuche sah ursprünglich vor, bis 2031 Klarheit zu haben. Zunächst sollten aus den möglichen Regionen konkrete Standorte identifiziert und dann Untersuchungen erst an der Oberfläche, danach auch unterirdisch erfolgen. Der ganze Prozess ist von zahlreichen Gutachten begleitet. Eines davon hat das beauftragte Öko-Institut nun vor Kurzem vorgelegt. Dabei ging es vor allem um eine Prozessanalyse beim Standortauswahlverfahren und damit auch eine Abschätzung darüber, wie viel Zeit die notwendigen Schritte voraussichtlich in Anspruch nehmen würden.
Das Ergebnis ist ziemlich klar: Es habe sich gezeigt, „dass auf Grundlage einer umfassenden Analyse deutlich mehr Zeit für das Gesamtverfahren benötigt wird“. Gegen Ende des Gutachtens wird es dann konkret: „Das bedeutet, selbst bei einem idealen Projektablauf muss nach der gegenwärtigen Rechtslage damit gerechnet werden, dass das Verfahren erst im Jahr 2074 abgeschlossen werden kann.“
Das wiederum wird erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. Das Gutachten schlägt einige Maßnahmen vor, um den Prozess zu beschleunigen. Eine davon ist, die Zahl möglicher Standorte, die genauer untersucht werden sollen, zu begrenzen, und zwar auf Gebiete „mit dem Potenzial ‚Standort mit bestmöglicher Sicherheit‘ und mit der Aussicht auf Realisierung eines Endlagers“. Zudem sollte geprüft werden, ob der zwischen Bund und Ländern geschlossene „Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung“ auch auf dieses Verfahren angewendet werden könnte. Das Standortauswahlverfahren sollte als „Transformationsprozess“ begriffen werden.
Den Gutachtern geht es aber auch um das Knowhow. Für Erschließung, Einlagerung und Instandhaltung würden „über einen sehr langen Zeitraum Generationen an Nachwuchskräften benötigt“. Kritiker hatten bereits im Zusammenhang mit dem endgültigen Ausstieg Deutschlands aus der Nutzung der Kernenergie die Befürchtung geäußert, dass entsprechendes Knowhow in Deutschland in der Forschung wie in der Praxis verschwinden könnte.
Im Zuge des mit dem BASE gestarteten neuen Verfahren wird zumindest versucht, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Dadurch, dass wissenschaftliche Expertise den Prozess bestimmt und Transparenz und Beteiligung nicht nur Schlagworte sein sollen.
Das bringt aber naturgemäß eine Reihe von Gegensätzlichkeiten mit sich. Deshalb schlägt das Gutachten unter anderem vor, sich für den weiteren Verlauf in einer gemeinsamen „Vision“ über den Umgang mit den innewohnenden Widersprüchlichkeiten zu verständigen. Zu denen gehören beispielsweise „ein zeitlich ambitionierter Rahmen bei gleichzeitigem Anspruch an Mitgestaltung/Partizipation“ oder „der Anspruch auf vollständige Transparenz und Nachvollziehbarkeit bei gleichzeitiger Notwendigkeit geschützter Räume zur Verständigung zwischen Akteuren“ sowie „die Gestaltung der Schnittstellen zwischen den Zuständigkeiten der Akteure bei gleichzeitiger Wahrung der Unabhängigkeit und Klarheit der Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure“.
Insgesamt lagern in Deutschland aus sechs Jahrzehnten Atomstromproduktion rund 27.000 Kubikmeter hochradioaktiver Müll in derzeit 16 Zwischenlagern im ganzen Bundesgebiet. Verpackt in 1.750 sogenannte Castor-Behälter.
Schwach- und mittelradioaktive Abfälle sollen im Schacht Konrad bei Salzgitter gelagert werden. Ursprünglich waren dafür Kosten von etwa 3,8 Milliarden Euro veranschlagt, letzte Angaben von Ende vergangenen Jahres gehen inzwischen von 6,4 Milliarden Euro aus.
Der Präsident des BASE, Wolfram König, erklärte bereits vor drei Jahren bei der Entscheidung gegen den Standort Gorleben: „Das Endlager Gorleben ist Geschichte – die Aufgabe der Lösung der Endlagerfrage bleibt. Das letzte Kapitel des Ausstiegs aus der Hochrisikotechnologie muss noch gemeinsam geschrieben werden. Es handelt von guter Wissenschaft, Transparenz, Beteiligung und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung.“