Der Überraschungscoup war perfekt: Ukrainische Soldaten marschieren in der Grenzregion Kursk in Russland ein. Über die Ziele herrscht weiterhin Unklarheit, ebenso über die Folgen, die das in Moskau auslöst.

Auch eine Woche, nachdem ukrainische Truppen in der Region Kursk auf russisches Staatsgebiet vorgedrungen sind, gibt es über diese Entwicklung im Ukraine-krieg mehr Fragezeichen als Klarheiten. Wirklich überprüfbare Informationen aus diesem Teil des Krieges gibt es nur wenige. Selbst Militärexperten, die die Entwicklungen im Russland-Ukraine Konflikt schon lange begleiten und analysieren, räumten ihre Überraschung ein.
Seit dem Gegenangriff der Ukrainer wird nicht nur über deren Ziele und die damit verbundenen Risiken diskutiert, ziemlich unklar ist auch, welche Folgen dieser Angriff in Moskau nach sich ziehen wird. Zudem hat die Aktion eine weitere Diskussion über das Völkerrecht ausgelöst.
Die Verwirrungen in Russland scheinen ziemlich weitreichend zu sein. Dass die Ukraine auf russisches Gebiet marschiert und dabei auch offensichtlich ohne nennenswerten Widerstand 30 Kilometer vorankommen konnte, wie auch den Nachrichten von russischen Militärbloggern zu entnehmen war, ist ein herber Schlag für Moskau. Erst recht, dass in diesem nunmehr zweieinhalb Jahre währenden Krieg erstmals Menschen auf russischem Gebiet evakuiert werden mussten.
Moskaus Propaganda-Maschine hat sichtlich Mühe, damit umzugehen, dass Russland zumindest in diesen Tagen die Kontrolle über das eigene Staatsgebiet verloren geht, auch wenn das Gebiet noch so überschaubar sein mag. „Eine Provokation des Kiewer Regimes“, nannte der russische Präsident die Militäraktion. Die Ukraine feuere „wahllos, mit Waffen verschiedener Art, auf zivile Gebäude, Wohnhäuser und Krankenwagen“. Da waren in der Vergangenheit ganz andere Töne zu hören. Dass der Kreml dann von „Terroristen“ sprach, lag dann schon wieder eher auf der Linie, die diesen Krieg nach wie vor als „Spezialoperation“ darstellt.
Ukraines Präsident Selenskyj ließ vor seiner ersten offiziellen Äußerung einige Tage verstreichen. „Russland hat den Krieg in unser Land gebracht und soll spüren, was es getan hat“. Einer seiner Berater, Mychajlo Podoljak, ist da noch deutlicher geworden, wenn er draufsetzt, Russland würde durch die Angriffe in der Grenzregion „erkennen, dass der Krieg langsam in das russische Hoheitsgebiet hineinkriecht“. Über konkrete Ziele der Aktion gab es allerdings keine öffentlichen Äußerungen. Das wiederum befördert die Spekulation über unterschiedlichste Szenarien.
In der Nähe von Kursk steht eines der größten russische Atomkraftwerke. Sollte das das Ziel sein, möglicherweise, um in einem späteren Austausch einen Abzug der Russen aus dem besetzten AKW Saporischschja zu erreichen? Das ist seit der Besatzung außer Betrieb genommen. Russland hat ansonsten große Teile der ukrainischen Energieinfrastruktur in den zweieinhalb Kriegsjahren zerstört, Meldungen sprachen davon, dass die Ukraine nur noch über 20 Prozent der Kapazitäten vor dem russischen Überfall verfügen würde. Saporischschja ist Europas größtes AKW.
„Krieg kriecht auf russisches Gebiet“
Eine Woche nach der ukrainischen Militäraktion sorgte ein Brand in einem Kühlturm in Saporischschja kurzzeitig für Schlagzeilen. Die russischen Besatzer gaben einem Angriff der Ukrainer die Schuld daran. Ein Atomexperte erklärte aber: „Es gibt da einfach nichts, was brennen kann. Ein Kühlturm besteht im Prinzip aus Beton und einigen Stahlrohren. Das hier sieht künstlich aus“.
Oder geht es um die Kontrolle über eine Gas-Übergabestation, von russischem Gas durch die Ukraine Richtung Europa? Würde die kurzfristig geschlossen, hätte das massive Auswirkungen vor allem für die Gaspreise. Oder wollte sich die Ukraine ein (Gebiets-)Faustpfand für spätere Verhandlungen verschaffen, also seine Verhandlungsposition stärken? Oder überhaupt erst Russland dazu zwingen, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten, die diesen Namen auch verdienen würde?

Ebenso, wie über mögliche Ziele spekuliert wird, werden auch negative Kriegsfolgen für die Ukraine kritisch diskutiert. Schließlich braucht es für diesen Vorstoß Material und Personal, das logischer an anderen Frontabschnitten fehlt. Und dort ist die Ukraine seit Monaten ständig unter Druck. Die russischen Truppen kämpfen sich zäh und meterweise nach vorne, sicher unter enormen Verlusten an Menschen und Material. Entscheidende Durchbrüche sind bislang in den letzten Monaten nicht gelungen, aber die ukrainischen Truppen sind in der Defensive und im Dauerfeuer.
Mit dem Vorstoß über die Grenze gibt es zum ersten Mal seit den großen Rückeroberungen von vor zwei Jahren eine Situation, in der die ukrainischen Truppen den Ort und die das Geschehen bestimmen.
Der Vorstoß hat natürlich auch zu einer Diskussion geführt, ob die Ukraine damit womöglich gegen Völkerrecht verstößt. Schließlich sind Truppen über die Grenze marschiert. Die Diskussion mutet etwas irritierend, schließlich sind etwa 20 Prozent des völkerrechtlichen Staatsgebietes der Ukraine derzeit von russischen Truppen besetzt. Zur Verteidigung gegen einen Aggressor ist das aber wohl gedeckt. Russland habe durch seinen Angriff sein eigenes Staatsgebiet selbst zum Kriegsgebiet gemacht, argumentiert beispielsweise der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marcus Faber.
Russland selbst hat mit seinem Überfall am 24. Februar 2022 das Völkerrecht gebrochen. Nach letztem Stand sind rund 130.000 Strafverfahren wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen eingeleitet worden.