Zum 100. Todestag von Franz Kafka bringen Anette Daugardt und Uwe Neumann am 21. August ihre neue Produktion „Brief an den Vater“ auf die Bühne des Globe Berlin. Macht und Ohnmacht in Eltern-Kind-Beziehungen ist das bestimmende Thema des Stücks.

Es ist eine merkwürdige Gestalt, eine Figur wie aus einem Kafka- Roman. Der Mann trägt einen nicht fertig gestrickten roten Pullover und spielt auf einer Tuba. Die tiefen Töne begleiten den Auftritt einer Frau, die ein Geburtstagsvideo für ihren Vater aufnimmt.
„Wir versuchen, mit einigen wenigen, aber kräftigen Pinselstrichen die so symbolhafte Welt Kafkas in einen heutigen Kontext zu übersetzen, mit merkwürdigen, besonderen und auch absonderlichen Figuren, denen man auch heute irgendwo in Berlin begegnen könnte, gezeichnet von Familientragödien, von allen möglichen Ängsten, zerrüttet von Machtkämpfen und Gewaltexzessen. So wie man ihnen wahrscheinlich auch vor hundert Jahren, um den Ersten Weltkrieg herum, hätte begegnen können“, fasst Uwe Neumann „Brief an den Vater“, das neue Stück von ihm und seiner Partnerin Anette Daugardt, zusammen. Anlässlich des 100. Todestages des Schriftstellers ist es im Globe Berlin zu sehen.
Kafkas Welt im heutigen Kontext
Als Vorlage diente ein Schreiben, das Franz Kafka 1919 verfasst hat. Den – niemals abgeschickten – Brief schrieb der Schriftsteller, nachdem er aufgrund einer nicht standesgemäßen Verlobung den Unmut seines Vaters auf sich gezogen hatte. Der 103 Seiten umfassende Text wird bis heute für psychoanalytische und biografische Studien über Kafka genutzt. Sie bieten zugleich universelle Einsichten in die Dynamik von Eltern-Kind-Beziehungen.
„Die Auseinandersetzung mit dem Vater ist ein Duell auf Leben und Tod. Der Sohn hat eigentlich keine Chance in diesem Kampf. Er ist zu schwach, zu klein, zu flachbrüstig, aber da er sich wie David gegen Goliath in diese Schlacht stürzt, mit all seiner Klugheit, seinem Scharfblick, seiner Hartnäckigkeit, mit seinem grotesken Humor – hat er vielleicht doch so etwas wie den Hauch einer Chance“, erklärt Anette Daugardt das Werk.
In „Brief an den Vater“ spielt sie eine Frau in mittleren Jahren, die das Geburtstagsvideo für ihren Vater dazu nutzt, um mit ihm abzurechnen. Nach und nach gewinnt sie die argumentative Übermacht und damit die Deutungshoheit über den Mann, den sie in ihrem bisherigen Leben als erdrückend stark und überlegen empfunden hat.
Anette Daugardt und Uwe Neumann präsentieren diesen spannenden Kampf aus verschiedenen Blickwinkeln. Seit 2003 bringt das Paar als „KantTheaterBerlin“ zeitgenössische Stücke und Klassiker in eigenen, modernisierten Fassungen zur Aufführung. „Im Zentrum steht stets der Mensch in seiner Positionierung zur Norm, zum vermeintlich Normalen“, sagt Uwe Neumann. Und da dies auch damit zusammenhänge, ob man als Mann oder Frau geboren wurde, hat das Duo vor einigen Jahren beschlossen, in ihren Stückbearbeitungen die Geschlechterrollen zu tauschen.
Tuba symbolisiert die Vaterfigur
Für „Brief an den Vater“ hat Uwe Neumann, der Posaune spielen kann, ein weiteres Instrument gelernt. „Die tiefen Töne der Tuba, die die übermächtige Vaterfigur symbolisiert, bilden das emotionale Fundament für das Stück. Die Musik kommentiert das, was die Frau sagt, befeuert sie an manchen Stellen, unterbricht sie an anderen.“ Zwischendurch spielt er Teile aus den Erzählungen „Die Verwandlung“, „Der Geier“ und „Der Schlag ans Hoftor“, die verschiedene Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Vater noch mal auf die Spitze treiben.

Als „eine Produktion, die Kafka zu Wort kommen lässt, wie es ihm gebührt“, bezeichnet Theaterleiter Christian Leonard das Stück. „Wortkunst ist eine wichtige Säule des Globe Berlin-Programms neben Schauspiel und Musik. Es liegt uns am Herzen, den Reichtum unserer Sprache mit sorgfältig ausgewählten literarischen und poetischen Formaten zu pflegen und zu feiern. Daher arbeiten wir kontinuierlich mit dem KantTheaterBerlin zusammen.“
Wie gewohnt zeichnen sich Daugardt und Neumann nicht nur für den Text, sondern auch für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich. Zwei Farben spielen dabei wichtige Rollen. Die Farbe Rot symbolisiert die Leidenschaft zur Wahrheit, zum Denken, hat aber auch eine zerstörerische Kraft, die um jeden Preis Macht gewinnen will. Die Farbe Weiß steht für das unschuldige Streben nach Wahrheit.
Stühle liegen verstreut auf der Bühne, fast alle in einer sonderbar gekippten, aus dem Gleichgewicht geratenen Position. „Wie ein bürgerliches Familienidyll, das völlig auseinandergebrochen, aus dem Takt gekommen, explodiert ist“, beschreibt Anette Daugardt das Bild, das – so wie die gesamte Inszenierung – eindringlich von Macht und Ohnmacht erzählt.