Der Mutterschutz für Frauen nach einer Fehlgeburt ist in Deutschland derzeit stark eingeschränkt. Professor Dr. Jörg Loth, Vorstand der Krankenkasse IKK Südwest, erläutert die Probleme der bestehenden Regelung und die notwenigen Veränderungen zur besseren Unterstützung betroffener Frauen.
Herr Prof. Dr. Loth, welche gesetzlichen Bestimmungen gelten aktuell in Deutschland für den Mutterschutz nach einer Fehlgeburt?
Der Anspruch auf Mutterschutz nach einer Fehlgeburt ist an sehr starre Kriterien gekoppelt. Liegt beispielsweise eine Fehlgeburt vor der 24. Schwangerschaftswoche vor oder wiegt das Baby weniger als 500 Gramm, besteht kein Mutterschutzanspruch. Die aktuelle Rechtslage ist hochproblematisch, da viele betroffene Frauen somit durch das Raster fallen. Bei einem so sensiblen Ereignis im Leben einer Frau und ihrer Familie darf weder eine starre Gramm- noch eine Wochenzahl über die Anerkennung des Mutterschutzes entscheiden und damit festlegen, wer sich als Mutter fühlen darf und wer nicht.
Wie viele Frauen sind von einer Tot- oder Fehlgeburt betroffen?
Es gibt keine offizielle Statistik über die Anzahl von Fehlgeburten. Schätzungen zufolge erfolgt im Durchschnitt im Krankenhaus auf 20 Geburten eine Fehlgeburt. Eine Analyse unserer Versichertendaten in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland hat dies gezeigt. Es ist jedoch anzumerken, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt, da Fehlgeburten ein gesellschaftliches Tabuthema sind.
Warum stellt die aktuelle Regelung ein Problem für die Betroffenen dar?
Viele Kinder werden auch bei einer Fehlgeburt normal entbunden. Mütter durchleben demnach die körperlichen und psychischen Strapazen der Geburt. Daher wäre es also logisch, den betroffenen Müttern die Möglichkeit einer Schutzfrist einzuräumen, um körperlich und psychisch das Erlebte verarbeiten zu können. Unsere Auswertung der Versichertendaten hat ergeben, dass mehr als 60 Prozent der Frauen nach einer Fehlgeburt psychisch erkranken. Diesen Frauen mutet man derzeit zu, bereits am nächsten Tag nach einer Fehlgeburt wieder arbeiten zu gehen. Das kann nicht sein. Hinzu kommt: es ist nicht vermittelbar, dass eine telefonische Krankschreibung zum Beispiel bei einer Atemwegserkrankung jederzeit möglich ist, bei einer Fehlgeburt eine solche Regelung nicht besteht. Die betroffenen Mütter sind aktuell auf das Verständnis und die Unterstützung ihres behandelnden Arztes angewiesen.
Was plant die Bundesregierung, um den Mutterschutz zu verbessern?
Es gibt einen eindeutigen Konsens über alle Regierungsfraktionen hinweg, diesen Missstand zu beheben. Dies wurde bei einem gemeinsamen parlamentarischen Abend der Innungskrankenkassen mit Vertretern des Bundestags im Frühjahr dieses Jahres in Berlin deutlich. Was uns sehr freut: Auch die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger sowie die Abgeordneten unterstützen unsere Initiative. Der saarländische Landtag hat im April einstimmig beschlossen, dass die Landesregierung eine gesetzliche Änderung initiiert. Am 5. Juli hat der Bundesrat auf Initiative des Saarlandes die Bundesregierung schließlich aufgefordert, den Mutterschutz für von Fehl- oder Totgeburten betroffene Frauen durch eine Gesetzesänderung auszuweiten und hat sich damit inhaltlich unserer Forderung vollumfänglich angeschlossen. Ich bin daher sehr zuversichtlich, dass der Bundestag diese Gesetzesänderung in naher Zukunft verabschiedet.
Sehr engagiert wird das Vorhaben eines gestaffelten Mutterschutzes durch eine ehemals betroffene Mutter, Natascha Sagorski, vorangebracht. Insbesondere durch die von ihr im letzten Jahr im Bundestag eingebrachte Petition ist bereits einiges in Bewegung gekommen.
Welche gesetzlichen Änderungen möchte die IKK Südwest erwirken?
Unsere Forderung für die betroffenen Mütter und Familien besteht darin, einen flexiblen Mutterschutz einzuführen, der nicht an eine starre Anzahl von Gramm oder Wochen gebunden ist. Wir haben daher vorgeschlagen, den Mutterschutz nach einer Fehlgeburt gestaffelt zu gestalten. Das bedeutet, dass der Mutterschutz umso länger dauern sollte, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten war. Konkret kann eine Staffelung derart erfolgen, dass der Mutterschutz nach der sechsten Schwangerschaftswoche zwei Wochen andauert und nach der 14. Schwangerschaftswoche vier bis sechs Wochen beträgt. Ab der 24. Schwangerschaftswoche gilt dann die bereits bestehende und etablierte Regelung zum Mutterschutz. Ich erachte unsere Forderung als einen längst überfälligen Schritt zur Gleichbehandlung betroffener Mütter und ihrer Familien.
Jetzt ist es schon ungewöhnlich, dass sich eine Krankenkasse dafür stark macht …
Wir sehen es als unsere Verantwortung für unsere Versicherten und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den bestehenden Mutterschutz fairer zu gestalten, insbesondere in Bezug auf die Ungleichbehandlung von Frauen mit Fehlgeburten. Das psychische und körperliche Leid der Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten haben, ist enorm. Daher setzen wir uns gemeinsam dafür ein, diese Belastung so weit wie möglich zu minimieren. Dabei unterstützen wir auch den Verein Sterneneltern Saarland e.V., bei dem betroffene Frauen Unterstützung erhalten, um einen solchen Schicksalsschlag rund um den Verlust eines Kindes bewältigen zu können. Der Verein wurde bereits 2016 mit dem Selbsthilfepreis ausgezeichnet.
Wie hoch werden die Mehrkosten, die durch diese Neuregelung entstehen, geschätzt?
Wir haben berechnet, dass die finanziellen Belastungen für die Solidargemeinschaft bei der Einführung des gestaffelten Mutterschutzes bei einer Inanspruchnahme von 50 bis 70 Prozent bei etwa 15 bis 20 Millionen Euro jährlich liegen. Lassen Sie mich diese zusätzliche Belastung in Relation setzen: Sie entspricht rund 0,005 Prozent des Bundeshaushalts oder 0,007 Prozent des Gesamtetats der Gesetzlichen Krankenversicherung. So oder so ist das ein Betrag, der angesichts der Bedeutung des Themas akzeptabel ist.