Wir leben in einer schnelllebigen Zeit, hetzen von Termin zu Termin, beantworten selbst in der Mittagspause noch E-Mails. Dr. Michael Kulas spricht über Entspannungs- und Konzentrationsübungen und was das Hormon Oxytocin bewirkt.
Herr Kulas, nach einem anstrengenden Arbeitstag kommt man nach Hause, kann jedoch noch nicht gedanklich abschalten. Mitunter beschäftigt einen etwas, und vielleicht denkt man schon daran, was am nächsten Tag ansteht. Was kann man tun, um zur Ruhe zu kommen?
Man kann sich einer Tätigkeit widmen, die überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was man vorher gemacht hat. In den allermeisten Fällen sind das Tätigkeiten, die mit einer körperlichen Aktivität oder einer besonderen Konzentration verbunden sind. Man kann zum Beispiel Fahrrad fahren, im Garten arbeiten oder eine Runde joggen. Wenn man sich auf die körperliche Aktivität konzentriert, verschwinden die Gedanken, die einen vorher beschäftigt haben, denn man konzentriert sich ganz auf sich. Bei Konzentrationsübungen gibt es ganz unterschiedliche Ansätze. Dabei kann man sich auf das Hören von Stimmen konzentrieren und verschiedene Verhaltensweisen beobachten. Natürlich kann man auch beides verbinden, etwa indem man Yoga-Übungen macht. Wer versuchen will schnell zur Ruhe zu kommen, kann eine sogenannte Induktion ausprobieren. Indem man bewusst ein- und ausatmet und sich für zwei bis drei Minuten konzentriert, versucht man aus der momentanen Situation herauszukommen.
Kann ich den Entspannungseffekt nicht erreichen, wenn ich einen Spaziergang beziehungsweise eine Geh-Meditation mache?
Was man letztlich macht, hängt von jedem Einzelnen ab. Es gibt Menschen, die mit Gehen nichts anfangen können. Wiederum andere müssen sich möglichst schnell bewegen, um aufgestautes Adrenalin abzubauen, die müssen bei irgendeinem Work-out anfangen zu schwitzen. Entscheidend ist, um vom Tag wegzukommen, dass man sich mit etwas beschäftigt, das die ganze Aufmerksamkeit einfordert.
Was machen Sie, um nach einem langen Arbeitstag zur Ruhe zu kommen?
Ich mache bestimmte Atemübungen und Yoga. Wenn ich Yoga mache, suche ich mir Übungen, die es mir erlauben, beide Hirnhälften miteinander zu verbinden. Was mich richtig herunterbringt, sind ganz einfache Tätigkeiten, wie zum Beispiel – typisch Mann – das Auto zu putzen. Ganz wichtig ist bei all diesen Tätigkeiten, dass man sich ganz vom Tag löst. Deshalb muss man sich auf diese Dinge ganz einlassen können.
Manchmal beschäftigen einen auch noch Probleme vor dem Einschlafen oder man wird nachts wach und beginnt weiter zu grübeln. Was kann man tun, um vor dem Einschlafen herunterzufahren?
Grundsätzlich sollte man vor dem Einschlafen wiederkehrende Rituale pflegen. Damit ich einschlafen kann, muss ich müde sein. Genauer gesagt: Es muss eine Schlafbereitschaft da sein. Wenn ich kurz vor dem Einschlafen etwas sehr Aufregendes gemacht habe, kann ich nicht bereit für den Schlaf sein. Nach einem intensiven körperlichen Work-out, bei dem ich meinen Puls auf 170 oder 180 hochjage, brauche ich mich nicht ins Bett zu legen. Im Prinzip sollte die Schlafbereitschaft dafür da sein, den ganzen Körper herunterzufahren. Gut dazu passen Entspannungs- und Atemübungen. Auch weniger anstrengende Körperübungen wie Dehnen und Strecken passen ebenfalls gut dazu.
Wie sinnvoll ist es, im Arbeitsalltag eine richtige Pause zu machen, also ohne in der Zeit E-Mails zu beantworten und Telefonate zu führen?
Auf jeden Fall ist es gut, zwischendurch Pausen zu machen. Im Übrigen ist im deutschen Arbeitszeitgesetz geregelt, dass bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden bis zu neun Stunden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mindestens 30 Minuten Pause zustehen. Wenn Sie mehr als neun Stunden arbeiten, besteht sogar ein Anspruch auf eine Pause von 45 Minuten.
Natürlich stellt sich die Frage, wie man eine solche Pause füllt. Für eine gute Lösung halte ich, wenn man sich von seinem Arbeitsplatz räumlich entfernt und versucht, den Kopf freizubekommen. Man kann in der Pausenzeit zum Beispiel Übungen machen, bei denen man versucht, beide Hirnhälften zu synchronisieren.
Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Es gibt etwa eine Yoga-Übung, die ich selbst öfter anwende. Dabei nehmen Sie den Daumen und drücken den Ringfinger und kleinen Finger herunter und spreizen den Mittel- und Zeigefinger waagerecht ab. Auf der anderen Seite formen Daumen und Zeigefinger einen Kreis, Mittel-, Ring- und kleiner Finger werden abgespreizt. Wenn Sie das im Wechsel mit beiden Händen gleichzeitig machen, beginnen sich die Hirnhälften zu synchronisieren. Wenn Sie das zehnmal gemacht haben, kann das den Geist richtig erfrischen.
Kann Autosuggestion dabei helfen, zu entschleunigen?
Das muss man zunächst sehr viel üben. Natürlich kann man durch Autosuggestion herunterfahren. Es gibt Formen der Selbst- oder Eigenhypnose. Auf das Gleiche zielt die vorhin erwähnte Induktion, bei der ich mich durch bewusste Atmung auf einen Punkt konzentriere. Wenn man so will, ist die Induktion der Beginn der Autosuggestion.
Können auch Gedankenreisen eine Form der Selbstbeeinflussung sein?
Auch das kann man machen. Allerdings reicht es nicht, sich dafür hinzusetzen, die Augen zu schließen und sich einen bestimmten Ort vorzustellen. Denn so werden Sie nicht herunterkommen. Entscheidend ist, dass Sie dazu Atem- und Konzentrationsübungen machen.
Auch der Vagusnerv spielt eine wichtige Rolle für Körper und Geist. Können Sie erklären, wie man diesen Nerv so stimulieren kann, um sich selbst zu beruhigen?
Alle Atemübungen, die das vegetative Nervensystem zur Ruhe bringen, sind Vagus-Übungen. Das sind Übungen, die man relativ einfach durchführen kann.
Welche aktiven Entspannungstechniken kann man sich unter allgemeinmedizinischer Anleitung aneignen?
Zwar habe ich vor einigen Jahren autogenes Training in meiner Praxis angeboten und auch erfolgreich eingesetzt. Ich habe das im Rahmen meiner Psychotherapeuten-Ausbildung gelernt und eingeübt. Doch irgendwann habe ich damit aufhören müssen, denn diese Entspannungsmethode ist sehr zeitaufwendig. Sicher gibt es den einen oder anderen Kollegen im Saarland, der das kann und auch anbietet. Aber das ist nicht die Regel unter den praktizierenden, niedergelassenen Allgemeinmedizinern hierzulande.
Gibt es noch weitere Angebote der Entspannungstechnik?
Darüber hinaus gibt es die progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Außerdem können Patienten von Ärzten und Therapeuten zur Autosuggestion angeleitet werden. All diese Dinge können Sie machen, doch es ist immer die Frage, was praktikabel ist und was ich tun kann. Grundsätzlich hat natürlich Wärme eine entspannende Wirkung auf Muskulatur und Geist. Allerdings sollte die Wärme nicht zu hoch sein, das heißt ein Gang in die finnische Sauna mit 90 Grad ist nicht unbedingt die richtige Lösung, sondern eher der Aufenthalt in einem Dampfbad oder in einer Biosauna. Das kann man aber nicht jeden Tag machen. Auch Waldbaden ist eine tolle Entspannungsübung. Der Effekt des Waldbadens beruht darauf, dass wir bei einem Spaziergang im Wald die von Bäumen frei gesetzten ätherischen Öle, die sich mit der Luft verbinden, aufnehmen. Man hat festgestellt, dass beim Waldbaden bereits nach 15 Minuten der Puls rapide sinkt. Auch über Düfte, etwa über eine Kerze mit Vanilleduft, können Sie sich entspannen.
Wie viel Zeit sollte sich jeder für eine aktive Entspannungs- oder Konzentrationsübung nehmen?
Wenn Sie es schaffen, eine solche Übung während der Arbeitszeit zweimal für jeweils fünf Minuten zu machen, sind Sie schon sehr weit. Ganz weit vorn sind Sie, wenn Sie zusätzlich noch am Abend die Übung zehn Minuten wiederholen. Je öfter sie über den Tag eine Entspannungsübung machen, desto besser für das persönliche Wohlbefinden. Zu welcher Tageszeit Sie die Übung machen, ist individuell ganz verschieden. Man muss ausprobieren, wann es einem am besten passt. Man kann zum Beispiel nicht jedem Menschen sagen: „Treib abends Sport“. Das ist natürlich Unsinn, denn viele können es abends nicht, sie müssen es morgens machen.
Wenn die Cortisol- und Adrenalinspiegel erhöht sind, fühlen wir uns oft angespannt und reagieren auch gereizt. Warum ist es besser, in einem Zustand der Überlastung Sport zu treiben, als sich zum Beispiel auf die Couch zu legen und ein Glas Wein zu trinken?
Wenn ich mich körperlich bewege, kann ich Adrenalin abbauen. Wenn ich mich hingegen hinsetze, dann konserviere ich gleichsam das hohe Level.
Viele Menschen haben zwar keinen Partner, dafür ein Haustier mit dem sie zusammenleben. Können uns auch Umarmungen und Berührungen zur Ruhe kommen lassen?
Körperlicher Kontakt löst ein Hormon aus, nämlich Oxytocin. Das sogenannte Kuschel- und Bindungshormon hat eine beruhigende Wirkung auf uns. Oxytocin ist jenes Hormon, das bei Säuglingen freigesetzt wird, wenn sie an der Brust der Mutter trinken. Das passiert genauso, wenn Sie als erwachsener Mensch körperlichen Kontakt mit einem anderen Menschen etwa zu Ihrem Kind oder Ihrem Partner haben. Körperlicher Kontakt versetzt uns immer in einen Zustand großer Ruhe und Zufriedenheit. Auch wenn wir Haustieren übers Fell streicheln, kann uns das beruhigen und zufrieden machen. Allein durch die Wärme, die Haustiere abgeben. Die meisten Haustiere haben eine wesentlich höhere Körpertemperatur als der Mensch. Wenn sich mein Hund abends auf meine Füße legt, wirkt das wie eine Baldrian-Tablette (lacht).
Warum haben wir es eigentlich verlernt, auf Signale des Körpers zu achten?
Das hat etwas mit der Schnelllebigkeit unserer Zeit zu tun. Jede Minute, die wir nicht aktiv für irgendetwas verbrauchen, erscheint uns verloren. Deshalb tun wir gut daran, uns bewusst zu werden, dass wir unsere Energie nur eine bestimmte Zeit am Tag verwenden können. Wir sollten uns davon freimachen, dass wir fünf Wochentage zwölf, 13, 14 Stunden trotz mehr oder weniger langen Pausen noch wirklich leistungsfähig sind. Das ist ein ganz großes Dilemma, denn unsere auf Effektivität und Produktivität ausgerichtete Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ganz anders eingestellt. Der Spruch „Leistung ist Arbeit in der Zeit“ verdeutlicht dieses Denken. Jeder von uns sollte sich Zeit für sich selbst nehmen. Es gibt etliche Möglichkeiten, wie man diese Zeit verbringen kann.