Bei Renovierungsarbeiten entdeckten Wissenschaftler per Zufall ein lange verloren geglaubtes Kunstwerk. Der 1149 geweihte Kreuzritter-Hochaltar wurde in einem der größten Heiligtümer des Christentums, der Grabeskirche in Jerusalem, wiedergefunden.

Die mitten in der Jerusalemer Altstadt befindliche Grabeskirche, die auch als Kirche vom Heiligen Grab bekannt ist, zählt zu den größten Heiligtümern des Christentums. Ihre frühesten baulichen Bestandteile gehen auf die erste Verehrungsstätte Jesus zurück, welche im Auftrag des römischen Kaisers Konstantin an der überlieferten Stelle der Kreuzigung und des Grabes Jesus Christus ab dem Jahr 326 errichtet und im Jahr 335 geweiht wurde. Die Verehrungsstätte lag damals wahrscheinlich noch außerhalb der Stadtmauer. Nach der muslimischen Eroberung Jerusalems im Jahr 639 wurde im Jahr 1009 der Befehl zur Zerstörung der Grabeskirche erteilt. Vom Heiligen Grab blieben nur noch Bruchstücke erhalten, was im Abendland große Empörung auslöste. Ab dem Jahr 1048 konnte dank der Förderung durch Kaiser Konstantin IX. der Wiederaufbau der Grabeskirche in Angriff genommen werden. Nach der blutigen Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter 1099 wurde der Bereich östlich der Rotunde über dem Grab Christi durch einen Kirchenbau im spätromanischen Stil erweitert, in dessen Zentrum ein kunstvoller Hochaltar erbaut wurde. Die Weihe der erneuerten Grabeskirche legte man auf den 15. Juli 1149 – ein symbolisches Datum, weil an diesem Tag genau 50 Jahre seit dem Sieg der Kreuzritter vergangen waren.
Prächtiger Marmoraltar

Der prächtige Marmoraltar sollte in den folgenden Jahrhunderten immer wieder in Pilgerberichten auftauchen, doch seit dem Jahr 1808 galt er als verschollen. „Wir kennen aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert Pilgerberichte über einen prächtigen Marmoraltar in Jerusalem. Im Jahr 1808 kam es zu einem großen Feuer im romanischen Teil der Grabeskirche. Seitdem war der Kreuzritter-Altar nicht mehr da – zumindest dachte man das die längste Zeit“, so Dr. Ilya Berkovich, Historiker am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Ihm gebührt das Verdienst, gemeinsam mit dem Jerusalemer Bezirksarchäologen Amit Re’em von der Israelischen Behörde für Altertümer, einen wesentlichen Teil des Altars wiederentdeckt zu haben. Die beiden Wissenschaftler hatten schon früher mehrmals bei interessanten Entdeckungen in Jerusalem zusammengearbeitet und sich dabei als Spezialisten für die Auffindung von Relikten erwiesen, die ihren Kollegen entgangen waren. Worauf der 1981 in Moskau geborene und 1987 nach Israel ausgewanderte Dr. Berkovich, der sich inzwischen den Ruf eines internationalen Experten für das Lateinische Königreich Jerusalem erworben hat, jüngst schmunzelnd hingewiesen hat. Schließlich hatte das Forscherduo im Jerusalemer Abendmahlsaal gotische Skulpturen ausfindig machen können. „Da hat auch keiner gedacht, dass noch etwas unentdeckt ist“, so Dr. Berkovich. „Aber der Altar ist unsere größte Entdeckung.“
Dabei muss sich geradezu zwangsläufig die Frage aufdrängen, wie es möglich sein kann, dass in einem so intensiv erforschten Bauwerk wie der Grabeskirche und noch dazu in einem öffentlich zugänglichen Bereich, den täglich Tausende von Besuchern durchschreiten, etwas so Wertvolles wie ein riesiges Altar-Relikt jahrhundertelang übersehen werden konnte. „Dass ausgerechnet an dieser Stelle etwas so Bedeutsames so lange unerkannt herumliegen konnte, kam für alle Beteiligten völlig unerwartet. Niemand hat erwartet, hier noch etwas zu entdecken. Es ist phänomenal“, so Dr. Berkovich. Eine mögliche Erklärung lässt sich aus dem komplizierten Verwaltungsmodus der Grabeskirche ableiten, weil sich dabei sechs christliche Konfessionen die Aufgaben teilen und dabei ihre jeweiligen Hoheitsrechte geradezu gnadenlos verteidigen. Jegliche bauliche Veränderungen, geschweige denn aufwendige Forschungsarbeiten sind in der Regel wegen des Einstimmigkeitsprinzips absolut unmöglich. Irgendeine Partei wird immer ihr Veto einlegen. Wie grotesk am Status quo in der Grabeskirche festgehalten wird, mag das Beispiel einer schon seit dem 19. Jahrhundert über dem Haupteingang stehenden Holzleiter belegen. Deren Standort war im Jahr 1853 als unverrückbar festgelegt worden – aus diesem Grund darf die Leiter bis heute nicht mehr bewegt werden. Daher ist es alles andere als verwunderlich, dass es auch im Inneren der Grabeskirche so manches gibt, was längst mal entsorgt oder zumindest eingehend überprüft werden müsste. „In der Grabeskirche ist so etwas wie ein Steinsalat“, so Dr. Berkovich.
Von Touristen mit Graffiti übersät
Nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn der Baubestand grundlegend gefährdet ist, haben die zuständigen Konfessionen bislang ihr gemeinsames Okay für nötige Maßnahmen gegeben. So im Oktober 2016, als die Ädikula, wie die Grabeskapelle bezeichnet wird, einzustürzen drohte und daher dringend restauriert werden musste. Damals war im Rahmen der Arbeiten Forschern sogar erlaubt worden, erstmals seit dem Jahr 1555 die Grabplatte aufzuheben und Bodenproben zu entnehmen. Dabei war auch noch eine zweite, tiefer gelegene Marmorgrabplatte mit eingraviertem Kreuz zum Vorschein gekommen, welche als Abdeckung eines, für die Region eher untypischen, Einzelgrabes eingeordnet wurde.

Vor rund zehn Jahren wurden erstmals Risse in der Grabeskirche festgestellt, die danach ständig größer geworden waren. Da das Gebäude daher als einsturzgefährdet deklariert worden war, konnten sich die Parteien schließlich auf weitreichende Renovierungsmaßnahmen einigen. Dabei mussten sogar einzelne Gebäudeteile abgetragen und danach Stein für Stein wieder aufgebaut werden. Um dabei keine Fehler zu machen und den Überblick zu behalten, wurden sämtliche in der Grabeskirche befindliche Steinobjekte nummeriert und einer eingehenden Überprüfung unterzogen. Darunter war auch eine mehrere Tonnen schwere Steinplatte, die in einem hinteren Korridor der öffentlich zugänglichen Kirche in einer, von der griechisch-orthodoxen Kirche als Gefängnis Christi bezeichneten Kapelle an der Wand gelehnt hatte. Warum und wann sie dort achtlos platziert worden war, konnte bislang nicht geklärt werden. Sie war von Touristenhand mit Graffiti geradezu übersät worden. Doch als sie mithilfe eines Krans angehoben wurde, präsentierte sie auf ihrer Rückseite kunstvolle Verzierungen. Für den zuständigen israelischen Archäologen Amit Re’em Grund genug, zum Telefonhörer zu greifen, um seinen bewährten Forschungspartner Dr. Berkovich nach Jerusalem zu bitten und anschließend die Ergebnisse des Sensationsfundes im traditionsreichen Fachjournal „Eretz-Israel“ zu publizieren.

Schon nach ersten Untersuchungen und dem Abgleich mit einer knappen Beschreibung des Dekors der Platte in einer Abschrift über den Bau der Grabeskirche, die von dem Franziskanermönch und Archäologen Vigilio Corbo 1981 veröffentlicht wurde, war den beiden Forscher klar, dass es sich um einen Teil des verloren geglaubten Kreuzritter-Altars handeln musste, nämlich die künstlerisch verzierte Frontseite namens Paliotto. Vigilio Corbo konnte in den 1960er-Jahren nur einen kurzen Blick auf das Meisterwerk werfen. Aber die Grabplatte konnte auch durch frühere Pilgerberichte, etwa die des Toskaners Niccoló da Poggibose aus dem Jahr 1347, verifiziert werden, der die Breite mit rund 3,5 Metern angegeben hatte. Nach Aussage der Forscher ist die Platte zu gut zwei Dritteln erhalten. Laut einer von den Wissenschaftlern durchgeführten Rekonstruktion handelte es sich bei dem Altar um einen truhenartigen Aufbau, bestehend aus vier aufrecht stehenden viereckigen Platten, die von einer Tischplatte, Mensa genannt, bedeckt waren. „Mit einer ursprünglichen Breite von mehr als 3,5 Metern haben wir hier den größten mittelalterlichen Altar entdeckt, der derzeit bekannt ist“, so Dr. Berkovich.
Für die Datierung in die Kreuzritter-Zeit unterzogen die Forscher die Details der Ornamente einer eingehenden Untersuchung und konnten dabei unter anderem Übereinstimmungen mit einem Kunstwerk in der Capella Palatina in Palermo aus dem 12. Jahrhundert feststellen. Laut den Wissenschaftlern beherrschten damals nur wenige europäische Zunft-Meister in Sizilien und vor allem in Rom diese spezielle Fertigungstechnik von Marmordekorationen. Da die Beziehungen zwischen dem normannischen Königreich und Jerusalem damals angespannt waren, kam daher für die Entstehung des Altars nur eine Verbindung mit Rom samt der Zustimmung des Papstes infrage. Das kirchliche Oberhaupt dürfte daher wohl einen seiner fähigsten Kunsthandwerker nach Jerusalem geschickt haben, auch wenn dafür bislang kein historischer Beleg aufgefunden werden konnte. „Der Papst würdigte damit die heiligste Kirche der Christenheit“, so Dr. Berkovich. Der Künstler beherrschte offenbar die Technik des sogenannten Kosmatesk, die vor allem im päpstlichen Rom von Generation zu Generation weitergegeben wurde, meisterhaft. Nur in Ausnahmefällen beauftragte der Papst die sogenannten Kosmaten mit kunsthandwerklichen Arbeiten außerhalb der Stadt Rom.
Altarplatte nun neu ausgerichtet
„Bis zu diesem Zeitpunkt wussten wir nur von einem Beispiel von Kosmatesk außerhalb von Italien, und das ist die Westminster Abbey in London“, so Dr. Berkovich. Bei Kosmatesk handelt es sich um eine Marmor-Einlegetechnik aus feinen Elementen, wie sie im mittelalterlichen Rom gebräuchlich war. Es war eigentlich eine handwerkliche Notlösung, weil den römischen Meistern damals nur ganz geringe Mengen an Marmor zur Verfügung standen. Um mit den daraus gewonnenen Marmorsplittern auch größere Flächen dekorieren zu können, mussten die Teilchen mit größter Präzision auf steinernen Unterlagen in geometrischen Mustern oder schillernden Ornamenten angebracht werden. „In Rom wurde Marmor meist aus antiken Gebäuden ausgekratzt. Die Kosmatesk-Künstler hatten ein praktisches Problem: Sie hatten eine begrenzte Menge Marmor in allen möglichen Farben. Man baute große, geometrische Figuren wie zum Beispiel Kreise oder Sterne, aus sehr, sehr kleinen Teilen. Im Mittleren Osten und in Byzanz konnte man Marmor viel leichter bekommen“, so Dr. Berkovich.

Der Paliotto des Jerusalemer Altars wurde mit zwei Ausführungen eines seinerzeit typischen Motivs namens Quincunx verziert, das beispielsweise auch in der römischen Kirche Santa Maria in Aracoeli verwendet wurde. Es handelt sich dabei um ein geometrisches Muster aus fünf, kreuzförmig angeordneten Kreisen, die von einem einzigen verschlungenen Band gebildet werden. Vier Kreise sind dabei quadratisch beziehungsweise rechteckig angeordnet, ergänzt um einen mittigen, fünften Kreis. Das Motiv steht unter anderem für die Unendlichkeit der Schöpfung Gottes. Zudem spielen die fünf Kreise auf die Wunden Christi und das Wappen des Kreuzfahrerkönigreiches Jerusalem an. Im Nachgang der aktuellen Studie wurde die mit einem Stahlrahmen versehene Altarplatte, nun allerdings mit der künstlerischen Verzierung in Richtung der Besucher, „im selben hinteren Korridor in der Kirche vom heiligen Grab“ aufgestellt, so Dr. Berkovich. Der Wissenschaftler hat angekündigt, weitere Nachforschungen in den päpstlichen Archiven anstellen zu wollen, in der Hoffnung, weitere Details über die Entstehungsgeschichte des Altars und möglicherweise sogar über die Identität ihres Schöpfers ans Tageslicht befördern zu können. Der wiederentdeckte Hochaltar kann laut Dr. Berkovich eine bislang unbekannte Verbindung zwischen Rom und Jerusalem belegen, was auch für die europäische Kunstgeschichte bedeutsam sei. Im wissenschaftlichen Kollegenkreis wurde der Sensationsfund lobend gewürdigt, beispielsweise vom österreichischen Archäologen Prof. Friedrich Schipper von der Universität Wien und der Theologischen Hochschule in Heiligenkreuz: „Der neue Beitrag des israelisch-russisch-österreichischen Wissenschaftlers Ilya Berkovich mit seinem israelischen Kollegen Amit Re’em über einen architektonischen Fund und Befund in der Grabeskirche, der Anastasis, in Jerusalem, zeigt einmal mehr, dass selbst bei einem solch prominenten, monumentalen Zentrum des Glaubens aller christlichen Kirchen und Konfessionen, das wie kaum eine andere religiöse Stätte über jahrhundertelang Scharen von Pilgern wie auch Forschern anzieht, immer wieder Überraschungen zutage kommen. Wir erhalten nun ein klareres, plausibles Bild davon, wie der erste kreuzfahrerzeitliche Altar ausgesehen haben könnte und wie er somit kultur- und kunstgeschichtlich einzuordnen ist.“