Deutschlands erfolgreichste Spielerin seit Steffi Graf wollte einmal noch alle Emotionen einer Ikone auf dem Platz erleben: Angelique Kerber sagte: „Au revoir!“

Ein unbeschwertes Gläschen Wein zum Abschied unterm Eiffelturm. Ein versöhnliches „Santé“ an die gewichtigen Sandplätze der Anlage von Roland-Garros, die ihr so oft die Leichtigkeit genommen hatten. Endlich gönnte sich die dreimalige Grand-Slam-Siegerin aus Kiel etwas. Sofort nach dem letzten Match ihrer Karriere streifte die 36-Jährige in der Umkleide die starre Disziplin ab, die ihr in 20 Jahren als Profi oft schwer auf den Schultern gelastet hatte: Eisbad statt Eisbecher. Dehnen, Strecken, Muskeln pampern. Ob Sieg oder Niederlage, stets das nächste Match vor Augen.
Ihr neuer Fokus: Noch ein paar Tage Paris genießen. Dann packte die junge Mutter für einen kleinen Urlaub ihre Koffer für sich und Baby Liliana. Kind und Gepäck nahm sie mit. Doch: „Ich habe mein Herz hier in Paris gelassen“, sagte sie noch auf dem Court im Eurosport-Interview. „Besser hätte man sich ein letztes Match nicht vorstellen können. Ich werde diese Olympischen Spiele nie vergessen.“ Ebenso wenig diese letzte Partie in Paris, die Unterstützung der Fans. „Ich habe alles hier auf dem Platz gelassen. Ich war immer stolz, für Deutschland zu spielen“, sagte die ehemalige Fed-Cup-Spielerin nach drei Sätzen im Viertelfinale des olympischen Tennisturniers. Mit müden Augen, komplett ausgepowert, nach mehr als drei Stunden auf dem Platz. In denen sie drei Matchbälle gegen die Nummer sieben der Welt abgewehrt hatte. Das Ende kurzfristig noch einmal ausgeschlagen hatte, bevor Angies Reservetank komplett leer war. „Paris und ich konnten uns nie anfreunden. Aber ich glaube, jetzt können wir in Frieden gehen“, bilanzierte die Silbermedaillen-Gewinnerin von Rio ihr gelungenes, olympisches Abschieds-Spektakel. Und ihre Versöhnung mit der Stadt, in der sie 2012 ihre große Karriere mit dem ersten von 14 Titeln begonnen hatte. Allerdings nur bei einem kleinen Turnier, nicht bei den French Open.
Späte Versöhnung mit Paris

Sichtlich erfrischt, setzte die ehemalige Nummer eins der Welt Stunden später in der ARD nach: „Ich habe mich definitiv in dieser Woche mit Paris versöhnt. Paris und ich, das ist eine Geschichte mit Happy End.“ Zum glücklichen Ende hatte Angelique Kerber schließlich doch noch den Sand besiegt. Wenn auch nicht ihre chinesische Gegnerin Zheng Qinwen. Die hatte schon in einer Spielpause des Viertelfinales auf dem großen Sandplatz siegesgewiss gelächelt. Verfrüht. Weil Zheng Qinwen selbst noch zurücklag und die Fans: „Angie, Angie“ skandierten. Weil diese sich mit fast 21 Jahren Profierfahrung und angeborenem Kämpferherz nach Rückschlägen immer wieder an die 21-Jährige heranarbeitete, über die Jüngere stolz hinauswuchs.
Bis zum letzten Tiebreak ihres Profidaseins. Am Ende des dritten Satzes, in dem Kerber noch einmal einen ausgeglichenen Spielstand erfochten hatte. Bevor sie 6:8, komplett ausgelaugt, unterlag. „Ja, müde war ich“, gestand sie später. Eine kleine Genugtuung, dass Qinwen später Gold holte. Zwei Aufschläge, zu denen Angie nicht das bessere Ende erfocht, beendeten die Träume des Golden Girl der 2010er-Jahre auf eine weitere olympische Medaille. Diese letzten Momente ihrer zwei Jahrzehnte währenden Karriere und den Triumph ihrer chinesischen Kontrahentin beschrieb die Deutsche so: „Dann hat sie einfach gut gespielt. Okay, vielleicht ein wenig glücklicher am Ende.“
Um Gefühle ging es Angie, als sie sich dazu entschloss, nach der Babypause zurückzukehren. Zurück in die Trainings- und Wettkampfmühle, obwohl sie alles erreicht hatte, was sich eine Spielerin wünschen kann: Mit drei Grand-Slam-Siegen in Australien und Wimbledon sowie 34 Wochen als Nummer eins der Tenniswelt. Mit vierzehn Titeln und Trophäen in den Regalen ihrer Erinnerungsgeschichte. Einmal noch Wimbledon, einmal noch Olympische Spiele. Dem Pariser French-Open-Gelände endlich zeigen, was sie draufhat. Auch auf Sand. Eineinhalb Jahre, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hat. Kämpferisch. Nicht aufgeben. „Komm jetzt“, feuerte sie sich wieder und wieder an.
Doch nach ihren dritten Olympischen Spielen sollte Schluss sein. Das gab Angie via Instagram bekannt. An der Seite von Rafael Nadal und Andy Murray begleitete sie die Auslosung für Olympia 2024. Bevor sie mit einer Wildcard im Nationendress noch einmal alles gab, um eine Medaille für Deutschland zu gewinnen. Zum dritten Mal bei Olympia nach London 2012 und Rio 2016. Mit 17 Jahren, bei ihrem Fed-Cup-Debüt, hatte Angelique ebenso schüchtern wie bestimmt verkündet, eines Tages ganz oben an der Tennis-Weltspitze stehen zu wollen. 2011 zog sie ins Halbfinale der US Open ein. Als 92. der Weltrangliste. Kerber gab trotz aller Dellen in ihren Karrierewellen nicht auf, richtete sich mehrfach neu aus. Mit 28 Jahren war sie so alt, wie noch keine andere Spielerin vor ihr, als sie Nummer eins der Welt wurde. Egal. Nur wenige halten durch und kommen so weit.

In der Saisonpause von 2015 auf 2016 stemmte Angie ungemein viele Hanteln und andere Gewichte, um unschlagbar stark zu werden. Mit unübersehbar gekräftigten Armen und Schultern startete die Tochter eines Tennislehrers in ihr Sensationsjahr. In den vorangegangenen Monaten war die Linksaufschlägerin in sich gegangen. Hatte beim Tauchen beschlossen, dass unerbittliche Fokussierung künftig ihr Spiel bestimmen sollte. Dass der Frust keine Chance als Spielzerstörer mehr haben durfte.
In der Supersaison ihrer Karriere, 2016, zog Kerber locker und zum ersten Mal ins Wimbledon-Finale ein. Das gab ihr noch mehr Auftrieb. Auch das Traditionsturnier schüchterte Angie nicht mehr ein. Serena Williams verdarb ihr damals noch den Triumph: Egal. Während andere sich für ihre Punktspiele schonten, holte die 28-Jährige bei den Olympischen Spielen in Rio Silber. Zwischendrin gewann sie beim WTA-Turnier in Stuttgart ihren neunten Titel auf der Profitour. Es lief: Zum Saisonauftakt 2016 hatte Angie ihren ersten Grand-Slam-Titel in Australien geholt, im Herbst dann die US-Open-Trophäe. Kerber wurde erstmals und insgesamt für 34 Wochen zur Nummer eins der Welt. Die Kielerin dominierte lange Zeit das Damentennis, war mit 63 gewonnenen Matches die WTA-Spielerin 2016 sowie beste deutsche Sportlerin des Jahres. Die Sahne aufs goldene Jahr 2016 gönnte sich Angelique Kerber – leicht verzögert – 2018: „Mein schönster Sieg war Wimbledon, davon habe ich immer als Kind geträumt.“
Australien bleibt in Erinnerung
Jahre später setzt Kerber auf eine eindeutige Trennung von ihrem bisherigen Lebensschwerpunkt. Denn, wer im Tenniszirkus zur goldenen Kuppel hochschwingen will, muss sich ständig selbst in den Mittelpunkt stellen. Muss sich von Disziplin dirigieren lassen. Nicht von einem kleinen Wesen, das Bedürfnisse hat, die keinen Aufschub dulden.
Angie traf ihre Wahl. Sie lautet: Weg vom Weltklassetennis. „Ich war tatsächlich ein bisschen erleichtert, nach dieser Entscheidung“, verriet die 36-Jährige in der ARD nach ihrem Abschiedsmatch. „Es ist vieles von mir abgefallen.“ Sie habe alles für Deutschland bei Olympia geben wollen. Zufrieden mit ihrer Leistung, sagt sie „Au revoir“. „Dass ich auf so einem hohen Niveau noch mal spielen konnte, das war für mich eine Bestätigung: So schlecht ist es noch gar nicht.“ Mit Entschlossenheit. So erkämpfte Angie ihre größten Erfolge. So verabschiedete sich die Kielerin, norddeutsch bestimmt.

Am sechsten Tag von Tennis-Olympia hatten sich alle deutschen Spielerinnen und Spieler verabschiedet. Keiner erreichte das Halbfinale. Obwohl einige Chancen hatten. Auch im Doppel und Mixed. So knapp oft die Matches ausgingen, so schwierig wird die Aufarbeitung werden. Auch mit Blick auf die finanzielle Unterstützung durchs Innenministerium fürs deutsche Tennis. So ganz ohne Olympia-Medaille. Angie war nah dran.
„Aux Champs-Élysées“, sangen die Zuschauer in den Pausen von Angies Olympia-Show. Von der Prachtstraße, die Helden auf sich zieht. „Die Atmosphäre auf dem Platz, das war ein absoluter Wahnsinn. In meinem letzten Spiel noch einmal alles zu zeigen, das macht mich wirklich stolz.“ Sätze, wie diese sagte Kerber oft nach ihrer Niederlage im Viertelfinale von Paris. Der Niederlage, die eigentlich ein Sieg war. Ein guter Zeitpunkt, abzutreten.
Das Gefühl für den richtigen Moment. „Australien 2016 war mein erster Sieg, das war ganz besonders“, erinnerte sich die scheidende Topspielerin. Damals startete Angelique Kerber ihre große Titelsammlung. Jetzt geht sie. Zunächst ins nah gelegene Appartement, in dem ihre Tochter während der Olympischen Spiele auf Angie wartete: „Das wird jeder verstehen, der Kinder hat, dass ich es nicht ohne sie aushalte.“ – „Danke, Angie“: Auch so ein häufig gehörter Satz, dieser Tage, nach dem letzten Turnier von Golden Girl Angelique in Paris.