Als wäre sie nie weg gewesen: Simone Biles kehrt nach zweijähriger Pause zurück – und machte Paris 2024 sogleich zu ihrer ganz persönlichen Bühne. Mit dreimal Gold und einmal Silber leistete die Ausnahme-Turnerin dabei auch sich selbst ein Stück weit Wiedergutmachung.
![In Rio erhilt Biles mit 19 Jahren gleich viermal Gold](/sites/default/files/inline-images/35_2024_Sport__Turnen_Simone_Biles_001.jpg)
Für übereifrige Taylor-Swift-Fans ist klar: Dass bei Simone Biles Finalperformance am Boden Taylor Swifts „Are you ready for it?“ (deutsch: Bist du bereit dafür?) spielte, muss ein Hinweis auf ein neues Album der amerikanischen Sängerin sein. Ob da wirklich ein Zusammenhang besteht, ist unklar, aber eines ist dafür umso klarer: Simone Biles ist „ready for it“!
Ready für den Mannschaftswettbewerb. Ready für ihre fünfte Olympia-Goldmedaille. Und Ready nach drei Jahren allen zu zeigen: Sie ist zurück – vielleicht sogar noch eindrucksvoller als zuvor. „Ich war so erleichtert“, berichtete die 27-Jährige nach dem Mannschaftsfinale auf der Pressekonferenz. „Keine Flashbacks“, sagte sie, habe sie an die vergangenen Olympischen Sommerspiele in Tokio gehabt. Dabei sollten diese zu einem einschneidenden Erlebnis in ihrem Leben werden – und im Turnsport. Bereits nach ihrer ersten Übung vor drei Jahren, einem nur mit großer Mühe ausgeführtem Sprung, hatte sie sich aus dem Teamwettbewerb in Tokio zurückgezogen. Später sprach sie davon, in diesem Moment „die Last der ganzen Welt“ auf ihren Schultern gespürt zu haben, berichtete von sogenannten „Twiesties“, einem Phänomen, bei dem die Turnerin in der Luft nicht mehr zwischen oben und unten unterscheiden kann. Ein Schwindelgefühl. Eine mentale Blockade. Bereits zuvor war bekannt, dass Biles aufgrund von Depressionen – einer Folge des sexuellen Missbrauchs, den sie durch den einstigen US-amerikanischen Mannschaftsarzt erlitten hatte – in psychologischer Behandlung sei. Später sollte ihr klares Engagement für die mentale Gesundheit von Sportlern, angestoßen auf einer Pressekonferenz nach den Spielen, viele zum Nachdenken anregen. Die Branche über den Druck, den Athletinnen und Athleten aushalten müssen. Aber auch sie, darüber ob sie weiter Turnen möchte.
„Heute hatte ich einfach Spaß“
Bis zur Weltmeisterschaft im vergangenen Herbst sollte sie nachdenken. Die dortige Teilnahme vergoldete sie sich gleich doppelt. Inklusive Qualifikation für Paris 2024. Noch kurz vor den Spielen gab sie zu: „Ich kann nicht ausschließen, dass mir das alles noch einmal passiert. Dass die Scheinwerfer alles verändern und ich den Druck nicht aushalte.“ Dennoch reiste sie an. „Ich habe meinen Tag heute mit Therapie begonnen“, sagte Biles nach ihrem ersten Olympischen Wettkampf in der französischen Hauptstadt. „Und dann sagte ich meiner Therapeutin, dass ich mich ruhig und bereit fühle. Und genau so kam es auch.“
Und wie es so kam. Mit einem für ihre Verhältnisse schon fast vorsichtigen Cheng-Sprung sicherte sie sich die höchste Wertung im Mannschaftsfinale. „Es fühlt sich wirklich befreiend an, dass alles gut ging“, sagte die Amerikanerin im Anschluss mit einem Lachen. Für Biles war es das erste Olympia Gold seit Rio 2016. „Rio war damals besonders, weil es mein erstes Gold war. Aber ich spürte damals, wie groß der Druck bei Olympia ist“, erinnert sich die Turnerin, die gleich viermal Gold aus der brasilianischen Küstenmetropole nach Hause holen konnte. „Heute hatte ich einfach Spaß mit meinem Team.“
![Es fehlen Biles noch zwei Medaillen, um mit Katie Ledecky gleichzuziehen](/sites/default/files/inline-images/35_2024_Sport__Turnen_Simone_Biles_002.jpg)
Spaß, den sie lange zuvor verloren hatte. Der Hass und die Häme, die sie nach Tokio erfahren musste, verschlechterten ihren mentalen Zustand zunehmend. Dennoch gaben genau sie der Ausnahmeathletin die Stärke, die sie für ihr Comeback brauchte. Lange habe sie sich mit der Frage beschäftigt, ob das, was in Tokio passiert sei, ein würdiges Ende ihrer Geschichte sei. Eine Geschichte, die sich liest wie ein Roman: Geboren als Tochter einer suchtkranken Mutter, vom Vater bereits früh verlassen wurde sie von Nellie und Ron Biles adoptiert. Diese erkannten bereits früh das Talent des Mädchens, förderten und unterstützten sie, wo sie konnten. Mit 19 Jahren gewann sie ihr erstes Olympia-Gold, sollte sich schließlich mit inzwischen 30 Gold, sechs Silber und fünf Bronzemedaillen zum am häufigsten ausgezeichneten Turnstar der Welt hocharbeiten. Immer mit einem Lachen auf den Lippen, obwohl sie durch die wohl dunkelste Zeit ihres Lebens ging, als sie Opfer eines der größten Missbrauchsskandale der Sportgeschichte werden sollte. Im Januar 2018 wurde dem einstigen Teamarzt der amerikanischen Turnerinnen, Dr. Larry Nassar, der Prozess gemacht, nachdem er Hunderte Turnerinnen sexuell missbraucht hatte. Beim Prozess sagte sie aus, davor und danach turnte sie weiter, als wäre alles in bester Ordnung. „Es war zu viel“, sagte sie vor drei Jahren in einem Interview mit dem „New York Magazine“. „Aber ich wollte nicht zulassen, dass er mir etwas wegnimmt. Also habe ich das so lange verdrängt, wie mein Geist und mein Körper es mir erlaubt haben.“
Bis Tokio. Doch sollte das wirklich das Ende einer Athletin sein, die sich aus gutem Grund von ihren Fans GOAT („Greatest of all time“, deutsch: Die Größte von allen) nennen lässt? Nach der nicht weniger als fünf Turnelemente benannt wurden, weil sie wahnwitzige Dinge mit ihrem Körper anstellen kann, die kaum ein anderer beherrscht? Nein. Biles wollte ihre Geschichte weiterschreiben. Wollte ein weiteres Mal nicht zulassen, dass ihr jemand etwas „wegnehme“. Nur dieses Mal ohne den Druck. Ohne Zwang.
Die mentale Arbeit hat sich ausgezahlt
Befreit und bereit. So turnte sich die nur 1,42 Meter große Sportlerin nicht nur durchs Mannschaftsfinale, bei dem sie und ihre Teamkolleginnen Jordan Chiles, Hezly Rivera, Jade Carey und Sunisa Lee sich mit 5,502 Zählern Vorsprung gegen Italien (165,494) und Brasilien (164,497) durchsetzen konnten, sondern qualifizierte sich auch für vier weitere Einzelfinals. Mit einer historischen Möglichkeit: Wenn sie fünfmal Gold in Paris holen könnte, wäre sie mit insgesamt neunmal Olympia-Gold auf der Liste der erfolgreichsten Olympioniken mit der ehemaligen sowjetischen Turnerin Larissa Latynina und US-Schwimmikone Katie Ledecky gleichgezogen.
Ganz gereicht hat es dafür nicht. Neben dem Gold im Mannschaftsmehrkampf konnte sie sich auch den Einzelmehrkampf sowie das Sprungfinale vergolden, am Boden erturnte sie Silber, am Schwebebalken reichte es aufgrund eines Sturzes nur für Rang fünf. Doch das alles spielt für Biles nur eine untergeordnete Rolle: „Nach all den Jahren hat sich die mentale Arbeit ausgezahlt und ich freue mich riesig, wieder auf dieser Bühne zu stehen“, strahlte sie auf einer der Pressekonferenzen. Twiesties und Leistungsdruck haben sie in Paris in Ruhe gelassen – und all die, die ihr nach Tokio Schwäche unterstellten auch. „Die sind jetzt ziemlich still, das ist schon seltsam“, scherzt die US-Turnkönigin.
![Dr. Larry Nassar hat Hunderte Turnerinnen sexuell missbraucht, darunter auch Simone Biles](/sites/default/files/inline-images/35_2024_Sport__Turnen_Simone_Biles_003.jpg)
Eine besondere Rolle sollte der Turnerin dann auch beim feierlichen Abschluss der Olympischen Sommerspiele 2024 zuteil werden. Bei der dreistündigen Zeremonie überreichte sie die olympische Fahne an Schauspieler Tom Cruise, der dabei helfen soll, diese von Paris nach Los Angeles zu transportieren. Besonders ins Auge fiel dabei aber ein medizinischer Schuh, den Biles an ihrem linken Fuß trug. „Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, um sicherzugehen“, beschwichtigte Biles im Anschluss. Bei der Quali hatte sie sich an der linken Wade verletzt. Deswegen nicht anzutreten oder halblang zu machen, war für sie aber kein Thema. „Nur ein bisschen Muskelkater“, tat sie es ab.
Ein neues, ihr würdiges Kapitel ihrer Geschichte hat Biles in Paris auf jeden Fall geschrieben. Aber ist es auch das Ende? Auf der Pressekonferenz nach ihrem Sprungfinale sagte sie auf die Frage, ob dies der letzte Sprung gewesen sei, den man von ihr gesehen habe: „Es war definitiv mein letzter Yurchenko-Doppelhecht.“ Ein Sprung, bei dem eine Radwende auf dem Sprungtisch durchgeführt wird, die mit einem doppelten Rückwärtssalto in der Landung auf beiden Füßen endet. Es ist eines der Turnelemente, die Biles erfunden hat und die auch als „Biles II“ bekannt ist. Keine andere Frau und nur wenige Männer können dieses Element turnen. „Ich werde langsam wirklich alt. Aber die nächsten Olympischen Spiele finden zu Hause statt, man kann also nie wissen“, so die Athletin, die bereits in Paris die älteste Olympiasiegerin im Turnen seit 1964 wurde. Im Anschluss mahnte sie dennoch auf der Plattform „X“: „Ihr müsst wirklich aufhören, Athleten zu fragen, was als Nächstes kommt, nachdem sie bei den Olympischen Spielen eine Medaille gewonnen haben.“
Ob Biles also auch in Los Angeles 2028 durch die Lüfte fliegen und den Medaillenrekord anpeilen wird, bleibt offen. Vielleicht ohne Yurchenko-Doppelhecht, dafür aber wieder zu einem Taylor-Swift-Song.