Tagelang haben massive rechtsextreme Krawalle Großbritannien in Atem gehalten. Gleichzeitig sind Tausende von Menschen aus Protest dagegen auf die Straße gegangen. Die Regierung hat mit entschiedener Härte für Ruhe gesorgt.
Vor wenigen Tagen war es wieder so weit: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in Großbritannien über soziale Medien eine Nachricht. „In London sind ein Mädchen (11) und eine Frau (34) bei einer Messer-Attacke schwer verletzt worden.“ Tatort: Der bekannte Leicester Square im Theaterviertel der britischen Hauptstadt. Ein zufällig anwesender Sicherheitsmann verhinderte Schlimmeres: „Ich brachte den Täter zu Boden und trat das Messer weg.“ Er hielt den 32-jährigen Täter so lange fest, bis die Polizei eintraf.
Die Meldung war Wasser auf die Mühlen ausländerfeindlicher Kräfte. Da die Polizei zunächst nichts über die Identität des Messerstechers mitzuteilen hatte, schossen im Netz binnen Minuten unbelegte Behauptungen und Vermutungen ins Kraut. „Er war kein Weißer.“ „Man fand einen Koran in seiner Tasche.“ „Aha, wird bestimmt bald auf freien Fuß gesetzt.“
Später stellte sich heraus: Der Messestecher von London war kein blindwütiger Islamist, sondern ein Rumäne ohne feste Adresse. Tatmotiv: unklar. Erst vor Gericht nach der Anklage wegen versuchten Mordes und Besitzes eines Gegenstands mit Klinge wird man wohl erfahren, warum es zur Stichattacke gekommen ist.
Was den Vorfall so brisant machte, war, dass Großbritannien gerade eine tagelange Welle noch nie gesehener rechtsextremer, einwanderungsfeindlicher Ausschreitungen erlebt hat. Dabei kam es – nach Absprachen über den verschlüsselten Messaging-Dienst Telegram– in mehreren englischen, walisischen und nordirischen Städten zu Brandschatzungen, Plünderungen und Angriffen auf Moscheen und Migrantenunterkünfte. Die Polizei stand oft hilflos daneben, nahm fast 1000 Menschen fest. Premierminister Keir Starmer musste sich persönlich einschalten und den nationalen Krisenstab Cobra einberufen.
Falschmeldungen als Auslöser
Auslöser der Gewalt waren Falschmeldungen in sozialen Medien nach einem tödlichen Messerangriff auf drei kleine Mädchen bei einer Tanz- und Yoga-Veranstaltung mit Taylor Swift-Motto in der mittelenglischen Küstenstadt Southport. Der Täter sei ein kürzlich eingetroffener muslimischer Migrant, wurde in Windeseile verbreitet. Als hätten sie darauf gewartet, nutzten Rechtsextreme die Fakenews und schlugen drauflos. Sie stoppte nichts, auch nicht, als herauskam, dass der 17-jährige Tatverdächtige als Sohn von Afrikanern in Großbritannien geboren war.
Wer während dieser wilden Tage nach Großbritannien guckte, rieb sich die Augen. Erst wenige Wochen ist es her, dass die sozialdemokratische Labour Party bei der nationalen Wahl einen Kantersieg hingelegt hat. Eine Ära neuen Aufbruchs schien anzubrechen. Doch dann sah die Welt Bilder von Hass und Gewalt.
Aufmerksame Beobachter sind dennoch nur mäßig überrascht. Analysiert man das Wahlergebnis vom 4. Juli und die 411 Labour-Mandate im 650-Sitze-Unterhaus genau, stellt man fest, dass die übergroße Parlamentsmehrheit nur dem britischen Wahlsystem geschuldet ist. Dabei gibt es nur eine Stimme im Wahlkreis und der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt („The winner takes it all“). Das verzerrt nur zu oft die wahren Mehrheitsverhältnisse der Wählerschaft.
In Wirklichkeit haben nur 34 Prozent der Wähler im Vereinigten Königreich ihr Kreuz bei Labour gemacht. Rund 26 Prozent wollten die Konservativen des bis dahin regierenden Rishi Sunak am Ruder lassen. Auf Platz drei aber kam mit 15,3 Prozent auf Anhieb die neue Partei „Reform UK“ des Rechtspopulisten Nigel Farage, die aber nur fünf Sitze ergatterte.

Was sagt uns das? Die Anhänger politischer Positionen rechts von den traditionellen Konservativen ist in Großbritannien nicht kleiner als in Deutschland. Der Unterschied: Während die AfD infolge des Mehrheitswahlrechtes repräsentativ in Parlamenten sitzt, fühlen sich die neuen Rechten im Lande Ihrer Majestät König Charles III. politisch nicht vertreten. So kommt es bei Ihnen zum Gefühl, Underdogs zu sein.
Angestachelt wird die Ablehnung eines multikulturellen Großbritannien durch die Tatsache, dass einzelne Gegenden längst wie Klein-Delhi oder Neu-Islamabad wirken. Dort leben Menschen fremder Kulturkreise so geballt mit heimatlichen Sitten und Gebräuchen zusammen, dass der „typische“ Engländer sich nicht mehr wiederfindet.
Insbesondere Muslime sind bei vielen „Biobriten“ nicht beliebt. Ihr Zustrom erfolgte schon in den 1950er Jahren aus britischen Kolonialgebieten. Inzwischen ist der Islam mit über vier Millionen Menschen die zweitgrößte Religion in allen vier Ländern des Vereinigten Königreichs. Viele leben den Glauben abgeschottet so, dass sie mit den Sitten einer aufgeklärten Gesellschaft kollidieren. Islamistische Prediger sind lautstark und sichtbar, was Gegenreaktionen auslöst.
Dem in dritter Amtszeit regierenden Londoner Bürgermeister Sadiq Khan (Labour) wird immer wieder unterstellt, er sei „von Islamisten kontrolliert“, obwohl es dazu keinen Anlass gibt. Ex-Innenministerin Suella Braverman (Konservative) behauptet gar: „Die Islamisten beherrschen das Land.“ Wahr ist, dass pro-terroristische Demonstranten seit dem Gaza-Krieg massenhaft Woche für Woche mit antisemitischen und gewaltverherrlichenden Parolen oder Emblemen durch die Straßen ziehen können und Abgeordnete bedrohen.
Einwanderung bleibt Großbritanniens großes Thema. Tatsache ist: Seit dem Austritt aus der Europäischen Union steigt die Zahl der Einwanderer aus Übersee. Laut Statistikbehörde ONS kamen im vorigen Jahr rund 180.000 Asylsuchende auf die Insel, viele illegal in wackligen Schiffen oder lebensgefährlichen Schlauchbooten über den Ärmelkanal.
Ähnlich wie sein Vorgänger Sunak will Starmer gegen den Zustrom vorgehen, wenn auch nicht mit Zwangsaussiedlungen nach Ruanda hart am Rande des Menschenrechts, sondern unter vermehrtem Einsatz von Küstenschutzschiffen. Rund 99 Millionen Euro an Finanzmitteln hat er dafür angekündigt. Beobachter bezweifeln, ob er damit Erfolg haben wird. Schon pfeifen Spatzen vom Dach, bei der nächsten Wahl könnten die Mannen von Farage mit ihren einfachen Schlagworten den Durchmarsch machen und die gerade gnadenlos gescheiterten Konservativen als zweite tonangebende Partei ablösen.
Es gärt ein Klima des Zorns
Dabei hatte es mit Starmer und der neuen Labour-Regierung aus europäischer Sicht alles so gut angefangen. Der 61-jährige Hausherr in der 10 Downing Street will das Verhältnis seines Landes zu Festland-Europa bessern, das der einstige Premierminister Boris Johnson, ein Konservativer, mitverursacht hat. Dazu will er das Handelsabkommen mit der Europäischen Union nachverhandeln.
„Es geht nicht darum, in die EU zurückzukehren, aber es ist auf jeden Fall ein Neustart,“ sagt der einstige Kronanwalt. Starmer will in stürmischen Zeiten auch militärisch neue Geltung erlangen. Dazu hat er mit Deutschland und Frankreich eine umfassende Verteidigungskooperation vereinbart.
Doch außenpolitische Positionierungen dürften nicht der entscheidende Faktor dafür sein, ob das frische Kabinett in London Erfolg haben wird. Vielmehr werden die Wahlbürger vor allem hinschauen, ob das Regierungsziel „Mehr Wohlstand“ eintreten wird und die hochgeschnellten Lebenshaltungskosten sinken. Der Durchschnittsbrite ist in der konservativen Ära um rund 12.000 Euro ärmer geworden. Dazu kommt: Der zentrale Regierungsapparat ist unproduktiv, die Kommunen haben kein Geld für Infrastrukturmaßnahmen, das Gesundheitssystem ist marode. All das belastet den Alltag der Menschen.
Aus diesem Unmutsmix hat sich auch der gewalttätige Protest gespeist. Viele wollen keine weiteren Staatsausgaben zur Bewältigung von Migration. Es gärt ein Klima des Zorns gegen „die da oben“, in dem Verdächtigungen, Hass und Gewalt wabern. Nun bleibt abzuwarten, ob Starmer seine teilweise sehr links eingestellten Minister dazu bringen wird, auch die politisch weit nach rechts abgedrifteten Bürger zu adressieren.