„Wesentliche Bedürfnisse“ ist Künstlerroman und Wendegeschichte zugleich. Res Sigusch erzählt darin von verpassten Gelegenheiten, scheinbarem Versagen und dem Spannungsfeld zwischen kreativer Freiheit und institutionellen Anforderungen.
Frau Sigusch, es heißt, Berlin sei eine Stadt, die „Kunst atmet“. Nehmen Sie das auch so wahr?
Ja und nein. Einerseits stimmt es, dass es hier so viel zu sehen, zu erleben gibt, was die Kunst- und Kulturszene betrifft. Andererseits habe ich selbst manchmal den Eindruck, ich kann außerhalb Berlins besser schreiben. Denn gerade hier gibt es immer so herrliche Ablenkungen, die mich vom Schreiben abhalten. Was ich an meinem Umfeld wiederum schätze, ist, dass hier viele Autoren leben, mit denen ich mich regelmäßig austausche und ja, gemeinsam „Kunst atme“.
Oder kommen doch alle nur wegen des Sekts und der Kontakte zu den Vernissagen, wie es in Ihrem aktuellen Roman „Wesentliche Bedürfnisse“ heißt?
Sicherlich stellt der Roman den Kunstbetrieb teils überspitzt dar. Er stellt die Absurditäten des Marktes, die Machtgefälle innerhalb des Betriebs, die Kategorien von Erfolg und Versagen aus. Aber er behandelt auch die Freundschaft und die Verbindung, die wir übers Kunstschaffen zu anderen und zu uns selbst herstellen können. So gesprochen ist es eigentlich nicht verwerflich, auf eine Vernissage wegen des Sekts zu kommen – wer unterhält sich nicht gern mit Menschen, die Ähnliches interessiert, umgeben von guter Kunst?
Bitte stellen Sie uns Professor Benjamin Leiser, die Hauptfigur, vor.
Benjamin Leiser ist 50 Jahre alt, gutaussehend und hat eigentlich alles, was man im Leben braucht. Als Kunstprofessor verdient er gut, er hat Studierende um sich, die zu ihm aufblicken, lebt eine lockere Liebschaft, die ihn zu nichts verpflichtet, und pflegt langjährige Freundschaften. Trotzdem ist er unzufrieden, etwas brodelt in ihm, seit nun mehr 30 Jahren.
Welche Rolle spielt Konstantin Mai, ein junger Kunststudent, in seinem Leben?
Benjamin lernt Konstantin auf einer Vernissage kennen – bei besagtem Sekt. Er fühlt sich an jemanden aus seiner Vergangenheit erinnert, als er Konstantin begegnet, und dadurch brechen lang verdrängte Bedürfnisse in ihm wieder auf: Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Familie. Er wählt Konstantin zum Sohn, den er nie hatte, aber immer wollte, und erinnert sich durch ihn an alles, was er eigentlich im Leben wollte.
Im Verlauf der Geschichte erfindet Benjamin Leiser den Maler Michael Mai, signiert eigene, alte Bilder mit dessen Namen und erschafft eine Doppelidentität, was ein Redner als „eine in die Praxis überführte Institutionskritik“ bezeichnet. Schwingt dabei auch Ihre Institutionskritik mit?
Es ist immer eine heikle Sache, den Raum zu kritisieren, in dem man sich bewegt. Man vergisst leicht, wie toll es auch ist. Denn ich tue ja nichts lieber, als zu schreiben und mich in diesem Betrieb zu bewegen. Zugleich existieren Strukturen, die Ungleichheiten produzieren, etwa der Gender Pay Gap im Kulturbetrieb. Oder auch die subtileren Töne, die zwischen den Akteuren schwingen, sei es Neid, Bevorzugung oder Ignoranz. Benjamin hat all das selbst erlebt, als er mit 19 angefangen hat, Kunst zu studieren – was er nach einem Semester bereits wieder aufgegeben hat. Jetzt versucht er, 30 Jahre später, doch noch Maler zu werden, doch noch Ansehen zu erlangen – allerdings auf fragwürdigen Umwegen, weil ihm nichts anderes übrigbleibt, so denkt er. In einem Betrieb, in dem viele um wenige Plätze rangeln, frage ich mich, wie wir wohlwollender miteinander umgehen können.
Auch Texte des fiktiven Künstlers tauchen auf. Darin geht es um „den Kunstbetrieb, das System Erfolg versus Versagen, und ob das überhaupt jemals mit der Freiheit des Kunstschaffens zusammengehen kann“. Haben Sie darauf eine Antwort?
Das werde ich dann mit 80 rückblickend und mit der hoffentlich errungenen Altersweisheit beantworten können. Im Moment kann ich sagen: Ich spüre das Spannungsfeld zwischen kreativer Freiheit und den Anforderungen der Institution Literaturbetrieb. Ich treffe durch die Veröffentlichung meines Debüts erstmals auf viele Meinungen zum Roman. Diese Stimmen nehme ich mit an den Schreibtisch und ich bemühe mich immer wieder darum, im Schreiben Leere zu schaffen – wie Mladen Stilinović gesagt hat: Wir brauchen Faulheit, Lethargie, Nichtstun, Impotenz, um Kunst schaffen zu können. Das steht einem Markt, der effizient, verkaufsorientiert und schnelllebig ist, diametral gegenüber.
Sie zählen zu den 23 Berliner Autoren und Autorinnen, die in diesem Jahr das Arbeitsstipendium für Literatur in deutscher Sprache des Kultursenats erhalten haben. Ermöglicht Ihnen diese Unterstützung künstlerische Freiheit?
Oh ja, enorm! Dieses Jahr konnte ich dank des Stipendiums am zweiten Buch arbeiten und mir ebenjene Leere ermöglichen, die ich brauche, um zu schreiben. Das ist sehr viel wert.
Freiheit ist auch ein wichtiges Thema für Benjamin Leiser – und ebenso der Mauerfall. Wie ist es Ihnen gelungen, sein persönliches Erleben des 9. November 1989 zu beschreiben, obwohl Sie erst vier Jahre danach geboren wurden?
Ich habe dafür einige Interviews geführt. Meine Eltern sind in der DDR geboren, das hat mich doch sehr geprägt. Ich habe mir von ihnen und vielen anderen von der Wende erzählen lassen. Es war sehr bewegend, über den 9. November zu sprechen. Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut, ich weiß auch nicht warum. Mich hat der Mauerfall schon immer fasziniert, was für ein Tag – immerhin in der Fiktion war ich jetzt auch dabei.
Sie haben nicht nur diverse Fachrichtungen im Bereich der Schriftstellerei studiert, sondern auch Philosophie. Ist Ihr Werk auch davon geprägt?
Gute Frage, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wahrscheinlich schon. Ich muss gestehen, ich habe im Bachelor immer lieber die Philosophieseminare besucht als die Literaturkurse, obwohl Literatur mein Hauptfach war. Ich habe vor allem Leibphilosophie und Emotionstheorie studiert, bestimmt konnte ich daraus für die Zeichnung von Figuren einiges mitnehmen.
Die Frage nach den wesentlichen Bedürfnissen mutet philosophisch an. Faulheit ist eines davon, Fiktion ein anderes – zumindest steht das so in Ihrem Buch. Verraten Sie uns Ihre eigenen wesentlichen Bedürfnisse?
Ich bin dabei, sie zu entdecken – vielleicht ist das, wenn wir Glück haben, etwas, was wir im Leben erfahren dürfen: Was uns wirklich wichtig ist, wo unsere Zeit hinfließen soll, was uns Freude bringt. Schreiben ist definitiv eines meiner wesentlichen Bedürfnisse. Eigentlich ist der Kern des Romans auf einen Satz geschrumpft ja dieser: Mach es jetzt, später ist es, naja, zu spät.