Spielt der Fingerpicking-Gitarrist Tommy Emmanuel, steht einem vor Staunen der Mund offen. Kaum ein anderer nimmt es mit der stilistischen Vielfalt und seiner Exaktheit auf. Demnächst tritt der preisgekrönte 69-Jährige in Dillingen auf.
Herr Emmanuel, Sie sind in vielen Genres zu Hause: Klassik, Jazz, Steel Guitar, Folk, Metal, Blues, sogar afrikanische Klänge. Welche Art von Musik reizt Sie im Moment ganz besonders?
In den letzten Monaten habe ich mir gute Musik von den Beatles, den Eagles, Ed Sheeran, John Mayer und einige neue Taylor-Swift-Songs angehört. Manchmal gehe ich aus und höre jemanden, der Django Reinhardts Sachen spielt. Ich bin kein Musik-Snob, ich mag einfach gute Songs. Die Leute denken, ich lerne 24 Stunden am Tag Gitarre, aber das stimmt nicht! Ich interessiere mich immer für jemanden, der einen guten Song schreibt.
Hat Taylor Swift so gute Songs, dass Sie sie bei Ihren Konzerten spielen würden?
Oh mein Gott, sie ist brillant. Aber ich will nicht ihre Songs spielen, ich bin eher fasziniert von ihren Ideen, ihrer Produktion, ihrer Kreativität. Ich will von Taylor Swift lernen, denn sie macht die ganze Welt an. Jeder möchte ihre Songs spielen, singen oder hören. Sie ist ein sehr starkes Statement. Sie tut einfach das, was sie nicht lassen kann. So mächtig sind Musik und Kunst. Als Taylor Swift ein kleines Mädchen war, kam sie nach Hause und ihre Mutter fragte, ob in der Schule alles in Ordnung sei, und sie sagte: „Nun, ich habe einen Song darüber geschrieben“, setzte sich hin und sang dieses Stück über ihren Schultag. Das ist ungewöhnlich. Swift wird von innen dazu gedrängt, das zu tun.
Wie war das bei Ihnen?
Als ich ein kleiner Junge war, wollte ich die ganze Zeit Gitarre spielen, und ich habe es einfach weiter getan. Und dann habe ich angefangen, davon zu träumen, auf der ganzen Welt zu spielen, und diesen Drang konnte ich dann nicht mehr aufhalten.
Sehen Sie sich eher als Songschreiber oder als Musiker?
Ich bin in erster Linie ein Gitarrist, ich bin verrückt nach der Gitarre. Und ich liebe es, mit anderen zu interagieren und zu spielen. Ich bin weit davon entfernt, mir vorzustellen, dass ich der größte Gitarrist bin. All das ist mir völlig egal. Es basiert auf nichts. Es ist Blödsinn, wenn Leute sagen, Jimi Hendrix sei der Beste. Das hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Jimi war wunderbar und hat die Welt verändert, aber wenn man „Little Wing“ hören will, ziehe ich Stevie Ray Vaughns Version vor. Weil er es besser gespielt hat. Aber das ist nur meine persönliche Meinung. Mit 20 war ich ein Chet-Atkins-Jünger. Die Jazz-Leute rümpften die Nase und sagten: „Wie kannst du diesen Schrott mögen? Du musst Musiker wie Joe Pass hören!“ Ich mochte Joe Pass auch, aber ich hatte nicht das Gefühl, ihn zu verehren, wie diese Leute es taten. Ich schätzte Joe, und ich wollte alles von ihm klauen. Das Gleiche habe ich mit Chet Atkins gemacht.
Auf Ihrer aktuellen Platte „Accomplice Two“ spielen Sie unter anderem mit Larry Campbell, der lange mit Dylan gearbeitet hat. Spricht er eine ähnliche musikalische Sprache wie Sie?
Larry ist einfach ein toller Typ. Wir spielen gerne zusammen, weil wir so unterschiedlich sind. Er kommt von der Folkmusik und hat mit Bob Dylan und Levon Helm gearbeitet. Und er ist ein guter Songwriter. Larry mag, was ich mache, und ich mag seine Sachen.
Ist Bob Dylan für Sie als Gitarrist interessant?
Ich mag einige seiner Songs. Seine Kompositionen sind manchmal total genial. Ich erinnere mich, dass ich mir mal ein Fünf-CD-Box-Set von Billy Joel gekauft habe. Meine damalige Freundin machte es auf und legte eine CD in den Player. Dann ertönte dieses Lied „Make You Feel My Love“. Und ich meinte: „Oh mein Gott, Billy Joel hat ein Meisterwerk geschrieben!“ Und sie sagte: „Es ist ein Dylan-Song!“ Ich konnte es nicht glauben. Er überrascht einen immer wieder.
Ist Bob Dylan auch ein guter Gitarrist?
Nein! Er spielt, was für ihn gut genug ist. Ist er so gut wie Tony Rice? Nein. Ist er so gut wie Joe Satriani? Nein! Aber er ist so gut wie Bob Dylan, und das ist alles, was zählt.
Erklären Sie doch mal Ihre Liebe zu den Beatles, die ja keine typische Gitarrenband waren.
Aber in ihrer Musik geht es um Melodien und Groove-Ideen. Wie kann man etwas Besseres schreiben als „Day Tripper“. Es ist das Beste, was ich je gehört habe. Ich liebe die Beatles so sehr, ihre Musik ist so zeitlos und so gut geschrieben. Ich kann es nicht erwarten, sie jeden Abend zu spielen. Sie ist einfach wunderschön.
Wie finden Sie neue Arten, Beatles-Songs zu spielen?
Andere Künstler, die Beatles-Stücke spielen, klingen nicht wie ich. Ich habe einen Weg gefunden, es unterhaltsam und ein bisschen kraftvoll zu machen, indem ich mich da richtig reinsteigere. Mittlerweile habe ich viel mehr Beatles-Songs arrangiert. Mein Medley ist wie eine gute Variante von Covid-19: Die Melodiekrankheit verbreitet sich und geht überall hin. Ich habe Möglichkeiten gefunden, Lieder wie „I Feel Fine“, „Please Please Me“ oder „When I’m Sixty-Four“ auf meine Weise zu spielen. Die funktionieren so gut für mich. Ich könnte jede Show nur mit meinen eigenen Songs gestalten. Aber wenn ich „Lady Madonna“ oder „Day Tripper“ interpretiere, ist das für das Publikum erstaunlich, weil sie alles auf einmal hören. Wenn sie nicht wussten, was ich in dem Song davor gemacht habe, wo ich etwas noch Komplizierteres gespielt habe, dann wissen sie spätestens jetzt, was mich ausmacht.
Wie streng sind Sie mit sich selbst?
Ich bedränge mich immer selbst, wie ein schreiender Militär-Sergeant: „Komm schon, Mann, worauf wartest du noch? Auf geht‘s!“ Denn wenn mich gehen lasse, ohne mich zu disziplinieren, dann gehe ich vielleicht angeln oder wasche mein Auto. Wenn ich auf die Bühne gehe, bin ich bereit und werde versuchen, alles zu geben, was ich kann. Manchmal, wenn mir ein Stück schwer fällt, kann ich mich während des Spielens selbst anschreien. Am schlimmsten ist es, wenn ich mir erlaube, an etwas anderes zu denken als an das jeweilige Lied. Ich kann das wirklich, und das ist eigentlich schlecht.
Kommen beim Spielen Ihre Gedanken idealerweise zum Stillstand, wie bei der Meditation?
Während ich spiele, behalte ich jede Millisekunde meiner Musik im Auge. Ich muss wissen, dass die Gitarrenstimmung wirklich perfekt ist und der Klang und das Timing so gut sind, wie ich es hinbekommen kann. Wenn ich weiß, dass alles richtig ist und ich meine Arbeit mache, kann ich mich zurücklehnen, die Augen schließen und es auch genießen.
Bereitet Ihnen das Üben genauso viel Freude wie das Livespielen?
Ja, natürlich. Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis: Ich übe nie mit null Energie, niemals. In meinen Gedanken bin ich immer auf der Bühne. Denn das hilft mir, das, was ich tue, sehr ernst zu nehmen. Ich versuche, mit echter Absicht zu üben. Es geht nicht nur um Wiederholung.
Braucht man eine Obsession, eine absolute Leidenschaft, um als Gitarrist wirklich voranzukommen?
Auf jeden Fall. Man braucht das zu 1.000 Prozent. Wenn dir auf der Bühne am Ende jemand die Gitarre nicht abnimmt, hast du keine Chance, dein Abendessen einzunehmen. Du legst besser das Instrument weg und isst, bevor du zusammenbrichst. So musst du drauf sein, wenn du gut werden willst. Du musst engagierter sein als jeder andere.
Wie oft erleben Sie perfekte Konzerte?
Nie. Ich habe noch nie ein perfektes Konzert erlebt. Die Leute in den Meisterkursen fragen mich, ob ich immer gut drauf bin oder auch mal schlechte Abende habe, was ja nur menschlich ist. Und das ist so wahr. Jeden Abend, an dem ich live spiele, habe ich die Einstellung, dass es magisch und schön werden wird. Und manchmal kämpfe ich und habe das Gefühl, dass die Magie nicht wirklich da ist. In diesem Fall ist es besser, über ein gutes Repertoire zu verfügen und die Songs so gut wie möglich zu spielen. Denn selbst an einem schlechten Abend von dir wird das Publikum immer noch Spaß haben.
Für Ihr Album „Terra Firma“ von 1995 nahmen Sie ein AC/DC-Medley auf. Was reizt Sie an deren eher einfachen
Kompositionen?
Gerade das ist es, was ich mag: Es sind klassische Rock’n’Roll-Songs. Ich liebe diese Art von Musik. AC/DC sind fabelhaft.
Das „Australian Guitar Magazine“ hat 2012 seine Liste der 50 besten australischen Gitarristen veröffentlicht. AC/DCs Angus Young stand an der Spitze, dicht gefolgt von Ihnen. Aber sind Sie nicht ein viel besserer Techniker als Angus?
Oh, ich weiß es nicht. Sehen Sie, genau deshalb darfst du dich mit niemandem vergleichen. Wie kann man Jeff Beck mit Andrés Segovia oder Angus mit mir vergleichen. Das ist unmöglich. Diese Ranglisten basieren ja auf dem Voting der Leute.
Kennen Sie und Angus sich eigentlich persönlich, also von Landsmann zu Landsmann?
Natürlich. Ich habe in den Mittsiebzigern seine Gitarre repariert, als er noch ein junger Mann war und AC/DC gerade anfingen. Ich arbeitete damals in einem Musikgeschäft und habe Gitarren wiederhergerichtet. Angus kam eines Tages an und sagte: „Ach, meine Gitarre klingt nicht sehr gut!“ Also öffnete ich seinen Koffer und sah die verrotteten Saiten und die Tonabnehmer, die in den Korpus gerutscht waren. Alles war mit Zigarettenasche und Whiskey bedeckt. Einfach furchtbar. Ich nahm dann Angus‘ Gitarre auseinander, reinigte alles, zog neue Saiten auf und setzte sie wieder zusammen. Es war ein tolles Instrument. Angus dachte, ich sei ein Genie, aber alles, was ich tat, war, die Gitarre zu säubern und sie wieder zusammenzusetzen. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen, da er in den Niederlanden lebt. Aber er ist ein toller Typ.