Man findet es überall: im Eis der Arktis, in der Tiefsee, auf den höchsten Bergen, in der Wüste und in unseren Körpern. Plastik. Allein wir in Deutschland produzieren jedes Jahr 6,3 Millionen Tonnen Kunststoffmüll. Die Hälfte davon sind Einwegverpackungen.
Die harten Fakten zuerst: Obwohl Kunststoff so leicht ist, ergibt die Menge 20-mal das Gewicht des Kölner Doms. Allein Coca Cola produziert rund 88 Milliarden Plastikflaschen im Jahr. Jede Minute sind das 167.000. Aneinander gereiht würden sie 31-mal zum Mond und zurück reichen, wie der Plastik-Atlas der Heinrich-Böll-Stiftung berichtet.
Plastikflut stoppen
Und es wird immer mehr. Seit der Jahrtausendwende hat sich der weltweite Plastikmüll-Berg fast verdoppelt. Das Weltwirtschaftsforum WEF rechnet damit, dass in 20 Jahren doppelt so viel Plastik auf den Markt kommen wird wie heute.
Was können wir gegen die Plastikflut tun? Unverpackt einkaufen, mehr wiederverwerten, feste Seife und Shampoo am Stück statt Gel aus der Einweg-Flasche nutzen? Ideen gibt es viele, aber sie reichen nicht aus, um die Plastikflut einzudämmen. Retten kann uns – wenn überhaupt – nur die Summe aus vielen Einzelschritten.
Montagmorgen in der Eulenklasse der Diesterweg-Grundschule in Bielefeld. Nicht die beste Zeit, um Viertklässler für Müllvermeidung zu begeistern. Doch es klappt. Die Kinder hören aufmerksam zu. Lehrerin Evelyn Vince-Bilstein hat zwei Versuche vorbereitet. Die Kinder filtern brackig-braunes Wasser in ein Glas. So erfahren sie, wie eine Kläranlage funktioniert. Das gefilterte Wasser ist klar und scheint sauber. Aber filtern Sand und Vlies auch Mikroplastik heraus? Die meisten Kinder wissen Bescheid. „Das kommt da durch, das ist so klein“, antwortet ein Junge selbstbewusst. Die anderen sehen es ebenso. Der nächste Versuch zeigt, dass die Kinder das richtig einschätzen. Sie wringen und reiben ein Stück Fleecestoff. Dann legen sie den Fetzen ins Wasser und filtern es. Mit der Lupe sehen die Kinder die Fleecereste, die ihr Filter nicht aufgefangen hat. „Und wo landen die Fasern dann?“, fragt die Lehrerin und bekommt von einem der Kinder sofort die Antwort: im Fluss – und der fließt dann ins Meer.
Nach Angaben des Umweltbundesamts gelangen bei jedem Waschen eines Fleece-Kleidungsstücks bis zu 2.000 Kunststofffasern über das Abwasser in die Flüsse und Meere. Kläranlagen fangen die Fasern nicht auf. Natürlich wissen die Kinder auch, dass Meeres- und andere Tiere das Mikroplastik fressen und es schließlich über die Nahrungskette zum Menschen zurückkommt.
In Kekulés Gesundheitspodcast des Mitteldeutschen Rundfunks zitiert der Mediziner Alexander Kekulé mehrere Studien aus verschiedenen Ländern. Diese weisen Mikroplastik in fast allen menschlichen Organen nach. Die Kunststoff-Partikel im Körper vervierfachen das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle.
In Deutschland kommt knapp ein Drittel des Mikroplastiks in der Umwelt aus dem Abrieb von Autoreifen. Der Regen spült es über die Kanalisation in die Flüsse. Elektroautos bringen hier keine Entlastung – im Gegenteil. Weil sie wegen der Batterien noch schwerer sind als Benziner und Diesel, produzieren sie noch mehr davon. Das Mikroplastik aus den Reifen beinhaltet Rückstände vieler giftiger Chemikalien, die die Industrie beimischt. Schätzungen zufolge kommen jedes Jahr weltweit drei Milliarden neue Reifen auf die Straße. 800 Millionen Stück werden zu Müll, der vielerorts verbrannt wird – eine weitere Quelle für Mikroplastik in der Umwelt.
Abrieb von Autoreifen
Zweitgrößte Quelle für Mikroplastik in der Umwelt ist in Europa das Kunststoffgranulat, das die Industrie unter anderem zu Verpackungen verarbeitet. Verliert ein Schiff das Material, verteilt es der Wind weiträumig. Die Wellen des Meeres zerreiben es ebenso wie weggeworfene und verwehte Verpackungen und anderen Kunststoffmüll zu Mikroplastik. Auch Folien, die immer mehr Landwirte auf ihren Feldern einsetzen, geben Mikroplastik ab, das in die Böden einsickert und über Wasser, Wind und die Pflanzen in die Lebensmittel gelangt.
Die Kinder in der Eulenklasse der Diesterweg-Schule überlegen, was sie gegen die Plastikflut tun können. Man könne eine eigene Tasche zum Einkaufen mitnehmen oder Dinge kaufen, die in Papier statt in Plastik verpackt sind, empfiehlt ein Mädchen. Ein Junge erzählt, dass seine Eltern Zahnputztabletten im Pappkarton statt Zahnpastatuben kaufen. Seife und Shampoo, ergänzt ein anderer, gebe es unverpackt am Stück statt als Gel in Einwegflaschen. Und eine andere erinnert sich, dass ihre Mutter in einem plastikfreien Laden eingekauft habe. Dieser Unverpackt-Laden hat nach der Corona-Pandemie aufgegeben. Angesichts der Inflation kauften mehr Leute Lebensmittel beim Discounter. Da ist es billiger.
Solange das klima- und umweltschädliche Verhalten für die Verbraucher billiger ist, wird sich trotz aller Aufklärung kaum etwas ändern. Nur die Politik kann beispielsweise über Zuschüsse und Abgaben das umweltgerechte Verhalten fördern und Verschwendung verteuern. Auch beim Plastik-Recycling geht es kaum voran.
Bevor die Kunststoffverpackungen aufbereitet werden können, müssen sie korrekt im Gelben Sack oder der Gelben Tonne entsorgt werden. Die Müllfahrzeuge schaffen die Gelben Säcke in weitgehend automatisierte Sortieranlagen, wie die in Hürth bei Köln oder in Eitting bei München. In einer riesigen Halle sortieren Maschinen den Kunststoffmüll aus den Gelben Säcken der Region. Betriebsleiter Martin Reichert zeigt die neue Blackscan-Anlage: Ein Laser erkennt hier schwarzen Kunststoff, den ältere Anlagen unerkannt in den Restmüll lenken. Obwohl die Sortieranlagen immer besser werden, sind die Wiederverwertungsquoten beim Plastikmüll überschaubar. Nach Zahlen des Umweltbundesamts wird etwa die Hälfte des deutschen Plastik-Verpackungsmülls wiederverwertet. Andere Schätzungen rechnen mit einem Drittel oder noch weniger. Und nur etwa fünf Prozent dieses Materials wird zu gleichwertigem Kunststoff aufbereitet. Downcycling nennen Fachleute wie der Kunststoffforscher Michael Nase die Verschlechterung des Plastiks im Recyclingprozess.
Aus Verpackungsfolien wird zum Beispiel Granulat hergestellt, das nach ein bis zwei weiteren Einsätzen in der Müllverbrennung oder auf Deponien im Ausland landet. Dort zerfällt es zu Mikroplastik, das Wind und Flüsse im ganzen Land verteilen und ins Meer tragen. Hinzu kommt, dass die Lebensmittelindustrie wegen der Hygienevorschriften nur wiederverwertetes Plastik verwenden darf, das vorher ausschließlich mit Lebensmitteln in Berührung gekommen ist. Doch schon die Sortieranlagen vermischen das Material aus vielen verschiedenen Quellen.
Recycling scheitert auch am Preis: Neu-Plastik bekommen die Verpackungshersteller billiger als Recyclingware. Michael Nase und andere Fachleute schlagen deshalb vor, Neu-Kunststoff über eine Abgabe zu verteuern. Mit den Einnahmen könnte man wiederverwendete Kunststoffe bezuschussen.
Roman Maletz sieht das ähnlich. Er forscht am Institut für Abfall- und Kreislaufwirtschaft der Technischen Universität Dresden zum Kunststoffrecycling. Sein Vorschlag: Bund, Länder oder die EU sollten Verpackungsherstellern für die Verwendung von Recyclingplastik aus Europa einen Zuschuss bezahlen. Das habe bei der Einspeisevergütung für erneuerbaren Strom auch schon unbürokratisch funktioniert. Unternehmen rechnen betriebswirtschaftlich. Sie verwenden den billigsten geeigneten Rohstoff. Und das ist derzeit der Neu-Kunststoff.
Recyclingkunststoffe sollten dann auch aus Europa kommen und nicht als Billigimport aus Fernost. Letztere enthalten oft Giftstoffe, wie Kunststoff- und Recyclingexpertin Caroline Schweig vom gleichnamigen Hamburger Ingenieurbüro berichtet. In China und vielen anderen Ländern gäbe es – anders als in Europa – kaum Vorschriften für Zusatzstoffe in Plastik.
Scharfe Auflagen für Plastik
Im Herbst kommt eine neue Verpackungsverordnung der Europäischen Union. Diese gibt strengere Quoten für Recyclingmaterial vor. Unternehmen werden verpflichtet, bei der Herstellung eine Mindestmenge an Recyclingmaterial zu verwenden. Roman Maletz hält das nur für die zweitbeste Lösung: Die Plastikindustrie will vor allem neue Kunststoffe verkaufen. Im Zuge der Energiewende wird der Erdölverbrauch weltweit zurückgehen. Daher sucht auch die Ölindustrie neue Absatzmärkte. Schon heute fließen rund 14 Prozent der weltweiten Rohölförderung in die Plastikherstellung. In Antwerpen baut das Unternehmen Ineos derzeit eine neue Kunststofffabrik. In den 80er-Jahren verhinderte die US-Kunststoffindustrie ein Plastikverbot in mehreren amerikanischen Städten, indem sie versprach, das Material zurückzunehmen und wiederzuverwerten. Gehalten hat sie sich daran nicht.
Weiteres Problem: Recycling funktioniert auch in Deutschland nur mit sortenreinen Kunststoffen. Um verschiedene Funktionen zu erfüllen, mischen die Hersteller verschiedene Plastiksorten zu einer Verpackung. Sogenannte polare Kunststoffe benötige man, so Fachmann Michael Nase, um den Sauerstoff aus der Packung auszusperren. Vor Wasserdampf schützen unpolare Kunststoffe. Um beide in einer Packung miteinander zu verbinden, nutze die Industrie einen „Haftvermittler“. Damit erfülle die Verpackung ihren Zweck, lässt sich aber nicht mehr in ihre Ausgangsbestandteile zerlegen. Sammelt man diese Mischkunststoffe wieder ein, kann man daraus bestenfalls Blumenkübel, Parkbänke oder minderwertiges Granulat herstellen, mit dem nach weiterem Gebrauch nichts mehr anzufangen ist.
Schon die Sortieranlagen sind mit den Mischkunststoffen überfordert, wie Martin Reichart erklärt. Er leitet die Sortieranlage des Unternehmens Pre Zero im bayerischen Eitting. Diese kann die meisten sortenreinen Kunststoffe getrennt erfassen, aber keine Kunststoffgemische. Sortenreine Kunststoffe lassen sich dagegen ganz gut wiederverwerten. Das Recycling der Getränkeflaschen aus Polyethylenterephthalat – kurz PET – nennt Michael Nase einen „Erfolgsschlager“. Sie bestünden im Schnitt zur Hälfte aus Recyclingmaterial. Grund: Die Supermärkte sammeln die leeren PET-Flaschen getrennt von anderem Plastik über ihre Pfandautomaten. So bleibt das Material lebensmittelsicher. Wolle man mehr wiederverwertbares Plastik, könne man, so Nase, auch anderes Plastik sortenrein über Automaten einsammeln. Als Beispiele nennt er Joghurtbecher, Shampooflaschen und weitere Verpackungen, die nur aus einer Sorte Kunststoff bestehen. Dagegen wehrt sich allerdings der Einzelhandel. Er müsste Leute bezahlen, die das Material im Geschäft sortieren. Kleinen Läden fehlt dafür oft auch der Platz.
Jedes Recycling setzt allerdings voraus, dass Verbraucherinnen und Verbraucher ihren Müll korrekt trennen. In Bielefeld zeigt die Ausstellung „Oder kann das weg“, wie man Müll vermeiden, reduzieren und sinnvoll trennen kann. An einer Station sortieren die Besucherinnen und Besucher wie der zehnjährige Leo symbolisch Abfall. Damit sich niemand die Hände schmutzig macht, haben die Ausstellungsmacher saubere Attrappen gebaut. Die meisten Kinder wissen Bescheid. Leo hat ohne Zögern die Müllsymbole richtig zugeordnet: Papier, Kartons, Tetrapaks, Glas, Plastikfolien und mehr.
Müll korrekt trennen
Michael Nase hat noch ein paar Tipps: Becher und andere Verpackungen solle man einzeln in den Gelben Sack oder die Gelbe Tonne werfen und nicht ineinander stecken. Auch sei es wichtig, die Aludeckel von jedem Becher komplett abzuziehen. Auf den Böden der Becher sind die Kürzel der Kunststoffe aufgedruckt, aus denen sie hergestellt wurden. Das Zeichen O steht für „Others“, also „andere“. Das ist meist Material, das sich nur schlecht oder gar nicht wiederverwerten lässt. Mehrere Zeichen auf dem Becherboden zeigen an, dass es sich ebenfalls um schlecht recycelbare Mischkunststoffe handelt. Wer die Wahl hat, sollte die lieber im Regal liegen lassen.
Immer wieder brechen in den Sortieranlagen Feuer aus, weil Verbraucher Akkus oder Batterien in die Gelben Säcke geworfen haben. Diese dürfen deshalb nur in Wertstoffhöfen der Städte und Gemeinden oder den entsprechenden Sammelkisten im Handel entsorgt werden. Plastik enthält bis zu 16.000 verschiedene Chemikalien. „Ein Viertel davon ist als gefährlich eingestuft“, erklärt Biologin und Mikroplastikexpertin Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut AWI für Polar- und Meeresforschung. „Von etwa 10.000 dieser Chemikalien haben wir keine Daten.“ Über Mikroplastik gelangen die Stoffe in die Nahrungskette und so in den menschlichen Körper.
Zahlreiche Anbieter werben damit, dass sie ihre Produkte ganz oder teilweise aus Plastikmüll herstellen. Wildplastic zum Beispiel fertigt nach eigenen Angaben Müllbeutel aus Müll, den andere zum Beispiel aus dem Meer gefischt oder an Stränden aufgesammelt haben (wildplastic.com). Ähnlich arbeitet der Textil- und Schuhhersteller Ecoalf. Fischer sammeln in mehreren Ländern Plastikmüll aus dem Meer, das Ecoalf teilweise für die Herstellung von Kleidung und Schuhen verwendet. Für sein Engagement ist das Unternehmen mit dem Nachhaltigkeitssiegel „B Corp“ zertifiziert (ecoalf.com). Hinter dem Unternehmen steht die gleichnamige spanische Stiftung fundacionecoalf.org. Noch konsequenter ist das Cradle-to-Cradle (von der Wiege zur Wiege)-Konzept des deutschen Ingenieurs und Chemikers Michael Braungart. Er verlangt, dass die Industrie ihre Produkte so konzipiert, dass sie nie zu Abfall werden müssen. Einige Unternehmen gehen diesen Weg schon. (c2c.ngo und www.epea.com)
Im November wollen die Vereinten Nationen (UN) einen internationalen Vertrag zur Eindämmung der Plastikflut, den UN Plastics Treaty, auf den Weg bringen. Nach Einschätzung des AWI und vieler weiterer Fachleute haben Lobbyisten den Vertragstext schon so verwässert, dass die Plastikberge weiter wachsen werden. Die UN befürchten, dass bis 2050 mehr Plastik als Fische in den Ozeanen schwimmen wird. Im Pazifik treibt schon heute ein Plastikmüllstrudel, so groß wie Europa. Der Great Pacific Garbage Patch wächst weiter.