Die Olympischen Spiele in Paris haben den Abwärtstrend des deutschen Spitzensports nochmals bestätigt. Es gibt Ansätze für eine Trendwende. Doch einen wirklichen Schub gibt es wohl nur als Olympia-Gastgeber.

In seiner Jugendzeit hatte Olaf Scholz mit Sport nur wenig am Hut. Er sei „sehr unsportlich“ gewesen, sagte der Bundeskanzler kurz vor dem Super-Sport-Sommer mit der Heim-Europameisterschaft im Fußball und den Olympischen Spielen in Paris: „Das Einzige, was ich geschafft habe, ist Schwimmen.“ Das habe ihn immerhin zu einer 4 im Zeugnis verholfen. Ein „ausreichend“, aber laut Scholz eben auch: „Ein Zeichen für große Unsportlichkeit.“ Im Alter nahm seine Begeisterung für Sport zu, vor allem das Laufen hat Scholz für sich als körperliche Ertüchtigung entdeckt. Später kam noch das Rudern dazu. Und so waren die zwei Besuche der Sommerspiele in Paris für den SPD-Politiker womöglich nicht nur lästige Pflicht. Der Bundeskanzler gratulierte Frankreich zu einer perfekten Gastgeberrolle („Es sind tolle Spiele“), bekräftigte seine positive Haltung gegenüber Olympia in Deutschland („Das plant die Bundesregierung“) – und suchte auch die Nähe zu den Athleten. Er posierte in der Turnhalle mit der erst 17 Jahre alten Darja Varfolomeev und ihrer Goldmedaille in der Rhythmischen Sportgymnastik. Er feierte im Deutschen Haus die Kajak-Fahrerinnen für ihr Silber. Und er hörte den Sportlern zu. „Das waren tolle Gespräche“, sagte Scholz. Manche waren auch schonungslos ehrlich und deswegen weniger angenehm für den Spitzenpolitiker.
Scholz-Besuch sorgt auch für Kritik
Von Kajak-Fahrer Tom Liebscher-Lucz bekam Scholz bei dessen Besuch im Stade nautique in Vaires-sur-Marne in einem persönlichen Gespräch gar ein paar kritische Worte zu hören. „Ich würde ihn gern nicht nur bei Olympia, sondern auch mal bei einer WM oder DM sehen. Stattdessen wird uns das Geld weiter gekürzt, wenn wir Erfolge feiern“, sagte Liebscher-Lucz hinterher. Der Dresdner holte in Paris gemeinsam mit Max Rendschmidt, Jacob Schopf und Max Lemke die Goldmedaille im Vierer – doch nur ein paar lobende Worte und ein Selfie wollte sich das Quartett vom Bundeskanzler nicht abholen. Dem viermaligen Olympiasieger Rendschmidt war es gar „egal“, dass Scholz und dessen Frau Britta Ernst die Kanu-Wettbewerbe vor Ort besucht hatten. „Wichtig ist nicht, dass Politiker nur fürs nächste Wahlergebnis hier sind, sondern dass Familie und Freunde da sitzen“, sagte Rendschmidt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Aufgabe der Politiker wie Scholz sei es, die Voraussetzungen für einen erfolgreicheren Spitzensport zu schaffen: „Er soll lieber Entscheidungen für den Sport treffen. Die Liebe zum Sport wird immer dann entdeckt, wenn es Medaillen gibt.“
Medaillen für Deutschland gab es auch in Frankreich – doch mit 33 waren es so wenige wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Mit 12 Gold-, 13 Silber- und 8 Bronzemedaillen rangierte das deutsche Team in der Gesamtwertung auf Platz zehn. Auch das ist ein historisch schlechtes Ergebnis. Zur ehrlichen Analyse gehört auch, dass vor allem die Reiter mit ihren vier Olympiasiegen und einer Silbermedaille in den Gärten von Versailles sowie die Kanuten mit sechsmal Edelmetall im Rennsport und Slalom die deutsche Bilanz retteten. In vielen anderen Sportarten wurde der Abstand zur Weltspitze eher größer als kleiner. Die Ringer und Schützen enttäuschten, auch die Segler und Tischtennisspieler blieben ohne die erwartete Medaille. Im Fechten ist Deutschland international längst abgehängt. Barcelona (82 Medaillen), Atlanta (65), Sydney (56), Athen (49), Peking (41), London (44), Rio de Janeiro (42), Tokio (37) und nun Paris (33) – der Negativtrend ist unverkennbar und wird auch von den deutschen Sportfunktionären nicht geleugnet.
Negativtrend ist unverkennbar

„Es gibt Handlungsbedarf auf vielen Ebenen, das haben wir als DOSB auch angepackt“, sagte Präsident Thomas Weikert vom Deutschen Olympischen Sportbund. „Wir benötigen mehr Trainer und wir benötigen eine bessere Besoldung der Trainer“, benannte Weikert eines der großen Defizite im deutschen Spitzensport: „Das ist ein Thema, das ich seit Jahren versuche voranzubringen. Es ist mir noch nicht ganz gelungen.“ Genauso wie eine bessere Bezahlung der Sportler selbst. Dies ist ein zentraler Punkt im Athletenkreis, denn die meisten Olympiastarter können von ihrem Sport allein nicht leben. Auch die Sponsorengelder reichen für sie meistens nicht aus. Ein Großteil der in Paris gestarteten deutschen Sportler hat Geld von der Stiftung Deutsche Sporthilfe erhalten. Die Grundförderung hier beträgt 800 Euro im Monat. Glücklich können sich diejenigen schätzen, die eine Anstellung bei der Bundeswehr oder der Polizei bekommen haben. Dort werden sie für ihre Leistungssport-Aktivitäten weitestgehend freigestellt, erhalten aber dennoch Sold beziehungsweise Gehalt.
Über Prämien allein lässt sich das Leben eines Leistungssportlers in der Regel nicht finanzieren. Für den Olympiasieg schüttete die Sporthilfe 20.000 Euro aus, für Silber 15.000 und für Bronze 10.000. Auch die Plätze vier bis acht werden entlohnt, der Olympia-Achte erhält 1.500 Euro auf sein Konto überwiesen. Inflationsausgleich? Gibt es nicht. Seit einem Jahrzehnt sind die Prämien gleich. Doch selbst das wäre im internationalen Vergleich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Hongkong (690.000 Euro) und Singapur (686.000) schütten neben einer immens hohen Gold-Prämie auch noch lebenslange monatliche Zahlungen in Höhe von rund 3.700 Euro aus. Auch in europäischen Ländern wie Italien (178.000), Spanien (93.000) und Frankreich (80.000) ist die Prämie für einen Olympiasieg deutlich höher.
Es sei „sicherlich richtig, dass in vereinzelten Sportarten zu wenig Geld bezahlt wird“, gab Weikert zu: „Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Athleten besser alimentiert werden.“ Größere finanzielle Unabhängigkeit bedeutet mehr Fokus auf den Sport und erhöht die Chancen auf Erfolge, weiß der DOSB-Chef. Vielleicht noch nicht für Olympia 2028 in Los Angeles, aber vier Jahre später im australischen Brisbane. „Das ist ein langer Weg, die Gespräche mit der Politik laufen“, sagte Weikert. Der Leichtathletik-Weltverband schuf dagegen bereits Fakten: Erstmals entlohnte ein Sportfachverband seine Olympiasieger, für Gold in den 48 Leichtathletik-Disziplinen von Paris gab es jeweils 50.000 Dollar (rund 46.000 Euro).
Von den zunehmenden Einnahmen müssten auch die Athleten profitieren, meinte Geschäftsführer Jon Ridgeon von World Athletics, denn: „Sie sind die Stars der Show.“ Das ist der Weg, findet auch Maximilian Klein. Der stellvertretende Geschäftsführer von „Athleten Deutschland“ bekräftigt, dass Spitzensport „kein alimentiertes Hobby“ sei, „sondern ein Berufsfeld mit enormen Risiken, Kosten und Entbehrungen. Wenn wir als Gesellschaft Höchstleistungen bejubeln möchten, benötigen wir ein leistungsfähiges Fördersystem.“ Weikert erkennt dies an, betont aber auch: „Im Moment ist es einfach so, dass wir uns um die Ausbildung kümmern müssen und die finanziellen Mittel schlicht knapp sind.“
CDU-Chef Merz mischt mit
Immerhin sieht der Haushalt der Bundesregierung eine Erhöhung des Sport-Etats um 49 Millionen auf 331 Millionen Euro vor. Darin vorgesehen ist ein Plus um 28 Millionen Euro für die Spitzensportförderung. Doch ein wenig mehr Geld wird das Problem nicht lösen, warnte Klein: „Derzeit ist das deutsche Sportfördersystem nur bedingt in der Lage, das Potenzial der Athleten so zu entwickeln, dass sie in der Breite der Disziplinen international wettbewerbsfähig sind.“ Jörg Bügner, Sportvorstand im Deutschen Leichtathletik-Verband, drückte es noch drastischer aus: „Wir schreiben Excel-Tabellen, die anderen trainieren – und das kann nicht sein.“ Zu einem ähnlichen Schluss kommt das Institut der deutschen Wirtschaft Köln. „Die deutsche Sportförderung ist ineffizient und verfehlt ihr Ziel, den Spitzensport nachhaltig zu stärken“, sagte IW-Ökonomin Melinda Fremerey. Für immer weniger Medaillen werde immer mehr Geld ausgegeben, die Zielhaftigkeit der Maßnahmen sei ebenso kritisch zu bewerten wie die unzureichende Zentralisierung. Das Geld werde zu breit gestreut und dadurch ineffektiv eingesetzt. Abhilfe könnte die geplante neue Leistungssportagentur schaffen, die die Verteilung der Fördergelder unabhängig und effizienter gestalten soll.

Das Institut der deutschen Wirtschaft sprach auch der Nachwuchsförderung ein schlechtes Zeugnis aus. Hier sieht auch Weikert einen wichtigen Ansatzpunkt. „Wir beginnen viel zu spät mit dem Sport“, sagte er und verglich: „Wenn ich mir Frankreich anschaue, da gibt es jeden Tag eine Schulstunde Sport. Da müssen wir auch hin.“ Schon im Kindergartenalter müsse man die Kinder „spielend an den Sport heranführen“, so Weikert, „da haben wir erhebliche Defizite“. Der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz betonte ebenfalls die Wichtigkeit der Unterstützung des Breitensports und eines verbesserten Schulsports. „Heute entscheidet sich im Breitensport, wen wir morgen als deutsche Olympiasieger sehen“, sagte Merz. Von der Bundesregierung forderte er deshalb ein Konzept – auch mit Blick auf die mögliche Olympia-Bewerbung.
Die an Highlights reichen Sommerspiele von Paris haben in Sport-Deutschland die Sehnsucht nach der Olympia-Gastgeberrolle nochmals verstärkt. Die spektakulären Bilder und großen Emotionen seien hoffentlich „ein bisschen ansteckend“, meinte Bundeskanzler Scholz. Während die Bundesregierung eine Bewerbung für 2040 bevorzugt, schließt der DOSB auch 2036 nicht aus. Eine Absichtserklärung für eine deutsche Bewerbung ist bereits unterzeichnet, die finanzielle Unterstützung zugesichert. Olympia in Deutschland würde dem Sport hierzulande einen riesengroßen Schub geben, den keine andere Maßnahme allein zu geben vermag. Doch die Konkurrenz ist groß, rund ein Dutzend anderer Länder hat sich für 2036 und 2040 in Stellung gebracht.