In Schulen spiegeln sich die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Erwartungen, was Schule dabei alles leisten soll, sind deutlich gestiegen. Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot über Ansprüche, Rahmenbedingungen und die Rolle von Schulen in der Gesellschaft.
Frau Streichert-Clivot, in Schulen ist vieles in Bewegung. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Überschriften über das neue Schuljahr?
Ich glaube, wir stehen in einer Zeit der Veränderungen und der Transformation. Die Herausforderungen nehmen nicht ab, sie sind da und allgegenwärtig. Veränderungsbedarfe kommen in immer kürzeren Abständen auf Schulgemeinschaften zu – auf Lehrkräfte, Eltern, aber natürlich auch auf Schülerinnen und Schüler. Es herrscht eine sehr hohe Dynamik im System. Dabei sind die Grundziele der Bildungspolitik gleichgeblieben: Wir wollen eine gerechte Bildungsstruktur aufbauen, Bildungsgerechtigkeit leben, sodass jedes Kind die gleichen Chancen hat und unterstützt wird, damit es am Ende der Schullaufbahn sein Leben selbstbestimmt leben kann. An diesem Ziel hat sich nichts geändert, aber die Welt hat sich geändert. Die Einflüsse von außen in das System einer Schule, aber auch einer Kita, nehmen zu. Und die Erwartung der Gesellschaft, dass sich Bildungseinrichtungen um die Bewältigung dieser Probleme kümmern, ist meines Erachtens so hoch wie noch nie.
Sind Schulen mit diesen Erwartungshaltungen überfrachtet?
Ich glaube manchmal, dass die Erwartungen an die Bildungseinrichtungen und deren Akteure so hoch sind, dass sie auch selbst das Gefühl entwickeln, den Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellt, nicht mehr gerecht werden zu können. Das führt dazu, dass ein Gefühl der Überforderung entstehen kann. Mich freut es, dass viele Einrichtungen, sehr kreativ und mit vielen guten Ideen diesen Herausforderungen begegnen.
Eine der großen Herausforderungen ist bekanntlich das Thema Digitalisierung. Wie weit sind wir damit im Saarland gekommen?
Wir sagen, alles muss unter der Überschrift laufen, dass Digitalisierung nie den menschlichen Kontakt ersetzen darf. Das ist wichtig, weil wir oft sehr stark in Schwarz-Weiß-Mustern denken und uns vorstellen, dass Digitalisierung und digitale Bildung dann ihren Zweck erfüllen, wenn Schülerinnen und Schüler möglichst lange vor einem Bildschirm sitzen und mit diesem arbeiten. Deswegen ist für mich bei allem, was digitale Bildung und digitale Transformation in der Schule betrifft, das Primat des Pädagogischen entscheidend. Also der kreative Umgang damit, wie ich als Lehrerin oder Lehrer digitale Instrumente einsetze, um die Potenziale einer Schülerin oder eines Schülers besser zu heben. Wir wissen, dass digitale Medien in Familien und in der Freizeit omnipräsent sind, und das bereits bei den jüngsten Kindern. Deshalb starten wir mit den Digitalisierungsbemühungen in der Grundschule in der dritten Klasse, weil uns wichtig ist, dass die Kinder vorher lesen, schreiben und rechnen können. Wir wissen aber, dass in Familien der Umgang mit digitalen Medien weitaus früher stattfindet. Deshalb ist in Schulen der Wechsel zwischen digitalen Räumen und Räumen, in denen es auch mal ganz ohne digitale Medien zugehen kann, so wichtig.
In einigen Ländern, die mit der Digitalisierung in Schulen schon früh begonnen haben, wird jetzt darüber diskutiert, das wieder zurückzuschrauben.
Darüber wird natürlich auch gesellschaftlich sehr stark diskutiert. Eine Schule komplett fern von digitalen Medien und digitalen Inhalten halte ich für keine zukunftsfähige Schule. Wenn Schule den Auftrag hat, junge Menschen auf dem Weg zu begleiten, ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können, dann müssen wir sie auf eine Welt vorbereiten, die stark von digitalen Technologien und Künstlicher Intelligenz geprägt ist.
„Es herrscht sehr hohe Dynamik im System“
Künstliche Intelligenz gibt es schon lange, aber sie ist jetzt alltagstauglich geworden und zwar für jeden von uns. Da stellt sich im Veränderungsprozess die Frage: Geben wir Kompetenzen an Künstliche Intelligenz ab und sorgt das dafür, dass wir Menschen in bestimmten Wissens- und Kompetenzbereichen Erfahrungen verlieren, weil diese an eine Technologie abgegeben wurden? Die zweite große Herausforderung, die ich sehe: Eine Welt, die von Künstlicher Intelligenz geprägt ist, kann viele Vorteile haben. Wir können viele Aufgaben abgeben, gleichzeitig konstruiert diese Künstliche Intelligenz aber auch Inhalte, Nachrichten, Bilder und Töne, die fälschungsanfällig sind. Für uns Menschen wird es immer schwieriger zu unterscheiden, was wahr, real und authentisch ist und was künstlich produziert wurde. Das verändert auf mittlere und längere Sicht das gesellschaftliche Miteinander, die gesellschaftliche Solidarität und damit auch, wie wir in der Schule miteinander leben und lernen.
Darüber müssen wir einen gesellschaftlichen Diskurs führen. Und da Schule wegen der Schulpflicht alle erreicht, nicht nur die Kinder, sondern auch deren Eltern, ist es auch wichtig, Angebote zu machen für einen Austausch, eine Diskussion, aber eben auch Angebote, um sich in dieser digitalen Welt gut und selbstbestimmt bewegen zu können.
Und was sagen Sie Schülerinnen und Schülern, die meinen, ChatGPT kann Aufsätze viel besser schreiben, also lasse ich das mal machen?
Wir wissen natürlich, dass das passiert, und das Phänomen als solches ist auch kein neues.
Als das Internet vor Jahren für die Allgemeinheit nutzbar wurde, hat es das ja auch gegeben, dass man Texte kopiert. ChatGPT ist eine technologische Weiterentwicklung, die nicht nur Texte schreiben kann, sondern mit diesen auch weiterarbeiten kann. Das setzt voraus, dass ich verstehe, wie diese Technologie funktioniert. Da sind junge Menschen schon heute sehr fit darin, das nachzuvollziehen. Das ist übrigens eine Chance! Die Erwartung, dass Schülerinnen und Schüler zu Hause nicht mit solchen Möglichkeiten arbeiten, ist meines Erachtens ein Trugschluss. Die Technologie ist da und wird genutzt. Sie lässt sich auch nicht verbieten oder aus Unterrichtsumgebungen verbannen, deshalb muss man sie anwenden und produktiv einsetzen.
Der Unterschied zu den klassischen digitalen Medien ist, dass Künstliche Intelligenz – und hier ChatGPT – nicht mehr nachvollziehen lässt, aus welcher Quelle die Ergebnisse stammen. Ob die Inhalte, die eine Künstliche Intelligenz erzeugt, auch der Wahrheit entsprechen, dies erkennen zu können, ist eine Kompetenz, die wir Menschen in Zukunft stärker brauchen werden.
Aus diesem Grund haben wir die Vorschriften, wie Leistungen beurteilt und Prüfungen durchgeführt werden können, auch für digitale Instrumente und damit auch Angebote der Künstlichen Intelligenz geöffnet. Dieses Feld ist noch sehr unerforscht, weil diese Instrumente im Bildungsraum noch sehr neu sind. Aber es gibt inzwischen viele Institutionen und Hochschulen, die sich genau mit diesen Fragen auseinandersetzen: Wie prüfe ich in Zukunft Leistungen, Kompetenzen und Wissen bei Schülerinnen und Schülern, und wie muss ich das verändern, wenn ich mit Künstlicher Intelligenz arbeite?
Die Unterscheidung, ob Inhalte richtig und wahr sind, wird weiterhin die Aufgabe des Menschen sein. Wir müssen aber auch damit rechnen, dass Künstliche Intelligenz immer besser wird. Wir erleben aktuell, in welch kurzen Abständen Neuerungen auf den Markt kommen. Diese Dynamik der sehr schnellen Entwicklungen führt dazu, dass immer neue Herausforderungen im schulischen Umfeld entstehen.
Man hatte lange den Eindruck, das Problem dabei ist nicht die Schülerschaft, sondern die Lehrerschaft. Die Diskussion hat sich etwas gelegt, ein Indiz dafür, dass es sich „einpendelt“?
Es gibt, glaube ich, zwei Entwicklungen: Wir haben in der Gesellschaft Menschen, die weniger gern digital arbeiten. Und das haben wir auch in der Schule, weil Schule und Pädagoginnen und Pädagogen auch ein Abbild der Gesellschaft sind. Dass es in Teilen der Lehrerschaft auch Zurückhaltung und den Wunsch gibt, an traditionellen Methoden festzuhalten, das finde ich erst einmal ganz normal.
Es gibt aber auch Lehrerinnen und Lehrer, die sehr affin sind in der Nutzung digitaler Instrumente und neuer Lerntechnologie, die vor allem auch offen sind, ihre Erfahrungen und Best-Practice-Beispiele mit den Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Sie nehmen damit auch Ängste und laden dazu ein, einfach mal mitzumachen. Da kommt dann Bewegung in eine Schule.
„Junge Menschen in Lernumfeld einbinden“
Das Ganze steht und fällt natürlich mit der Infrastruktur, die man dazu braucht: verlässliche und schnelle Internetverbindungen, digitale Endgeräte, und natürlich brauche ich die Inhalte auf den Geräten. Wir legen im Saarland großen Wert darauf, dass wir nicht nur Tablets an Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer verteilen, sondern dass diese Geräte eingebunden sind in ein gesamtes System, damit die Inhalte und Angebote von allen gleichermaßen genutzt werden. Deswegen müssen Inhalte, Fortbildungen, Motivation und Infrastruktur immer gemeinsam gedacht werden.
Sie haben den Peer-to-Peer-Prozess bei Lehrern angesprochen. So etwas soll auch bei Schülerinnen und Schülern ausgebaut werden. Wie soll das aussehen?
Ich bin sehr froh, dass Schülerinnen und Schüler sehr klar (WH) artikulieren, welche Erwartungen sie an Schule und ihr Lernumfeld haben. In diesen Gesprächen wird oft sehr deutlich, dass sie sich ein modernes Lernumfeld wünschen, das ihrer Lebensrealität sehr nahekommt. Diese Lebenswelt ist digital, und zwar komplett digital. Da wird nicht mehr zwischen analog und digital unterschieden, wie wir das noch tun, die wir in zwei Welten aufgewachsen sind. Deshalb können junge Menschen mit Berechtigung sagen, dass sie sich dabei sehr gut in digitalen Möglichkeitsräumen auskennen. Das ist ein Wissen und eine Kompetenz, die man im schulischen Alltag auch sehr gut einbinden und nutzen sollte, zumal die Bereitschaft dazu sehr groß ist. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir junge Leute einbinden, sie nicht nur als Empfänger von Bildungsinhalten sehen, sondern auch als Sender, dann haben wir ein Lernumfeld geschaffen, in dem alle ihre Beiträge leisten und man gemeinsam etwas Neues schaffen kann.
Es ist außerdem wesentlich überzeugender, wenn ein junger Mensch, der sich in den digitalen Räumen und sozialen Netzwerken bewegt, über Entwicklungen spricht, die in die falsche Richtung gehen, wie zum Beispiel, wenn es um Meinungen in diesen Netzwerken geht, die unser solidarisches Miteinander angreifen, als wenn eine lehrende Person mit dem Zeigefinger kommt. Allein aus diesem Grund sind diese Peer-to-Peer-Ansätze in Zukunft so wichtig.
Werden gesellschaftliche Entwicklungen wie Migration, Gewalt und politische Einstellungen junger Menschen als Herausforderungen für Schulen noch mehr zunehmen?
Die Fragen, wie wir uns gesellschaftlich organisieren und wie wir uns demokratisch aufstellen, waren als Themen in Schulen immer schon wichtig. Ihre Bedeutung wird aber in Zukunft noch größer werden.
Meinungen von Schülerinnen und Schülern, die antidemokratisch sind und sich auch in rechtsextreme Haltungen entwickeln können, fallen nicht vom Himmel und entstehen nicht von heute auf morgen. Sie entwickeln sich beispielsweise im familiären Umfeld. Wahlergebnisse werden von Menschen verursacht, die nicht mehr in der Schule sind, die erwachsen sind, Eltern sind.
Wenn zu Hause über politische Themen gesprochen wird, nehmen das junge Menschen wahr. Das sind Werte und Haltungen, mit denen sie sozialisiert werden. Das sind Haltungen, die bis hin zu einer Staatsfeindlichkeit gehen können und die dann auch in Schulen sichtbar werden, auch gegenüber Lehrerinnen und Lehrern. Diese sind Vertreterinnen und Vertreter des staatlichen Systems und werden auch aus diesem Grund angegriffen. Die Häufigkeit solcher Angriffe nimmt zu, zumindest in den subjektiven Wahrnehmungen und Schilderungen unserer Lehrkräfte. Das fängt an bei der Frage, ob man in der Grundschule Logo-Nachrichten zu Demonstrationen gegen Rechts schauen darf, wo sich Eltern an die Klassenlehrkraft wenden und das infrage stellen. Das geht bis hin zu Angriffen gegen Lehrerinnen und Lehrern im schulischen Raum durch Eltern, die mit Entscheidungen in Bezug auf ihr eigenes Kind nicht einverstanden sind.
„Schule allein kann nicht alles schaffen“
Familien sind der eine Bereich, in dem Meinungen und Haltungen entstehen. Der zweite Bereich ist der digitale Raum. Jugendliche verbringen sehr viel Zeit auf Plattformen wie TikTok, die sehr scharfe Algorithmen haben, die man selbst nicht beeinflussen kann und die dazu beitragen, dass beispielsweise rechtsextreme Haltungen gefördert werden. Das sehen wir daran, wie sich die extremen Parteien in diesen Räumen bewegt und an den Formaten, die entsprechende Inhalte für Jugendliche attraktiv transportieren. Kinder sitzen oft auch vor Youtube-Angeboten, bei denen Eltern gar nicht mehr hinschauen. Da werden Werbeinhalte von rechtsextremen Organisationen ganz subtil gezeigt.
Deswegen kann es nicht verwundern, wenn rechtsextreme Haltungen bei Jugendlichen zunehmen. Das Thema ist im schulischen Raum ein ganz wichtiges. Aber es ist eben nicht die Schule allein. Und ich sehe als dritte Entwicklung, dass im außerschulischen Kontext Räume verschwinden, in denen junge Menschen zusammenkommen könnten, Vereine beispielsweise. Oder wenn es keine Vereine oder Kneipen mehr im Ort gibt, in denen man auch über die Generationen hinweg zusammenkommt. Dann fehlen Diskursräume, in denen man sich als Mensch gegenübersitzt und vom Gegenüber eine Rückmeldung zu dem erhält, was man so sagt, ohne dass das gleich belehrend wirkt. Diese Entwicklungen sind da und sie sind gesellschaftspolitisch besorgniserregend.
Also kann die Schule allein nicht das Bollwerk sein?
Nein – leider nicht.