Mit drei Premieren, die sich mit Recht und Gesetz beschäftigen, startet das Gorki Theater in die neue Spielzeit. Der 100. Todestag von Franz Kafka und der 75. Geburtstag des Grundgesetzes passen dabei gut zusammen, finden die Theatermacher.
Der Rechtsstaat lässt die Korken knallen – und ein Theater spielt den Partyschreck. Der Grund für die Feierlaune: In diesem Jahr wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. „Und damit die Maxime, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar sei“, wirft das Berliner Gorki Theater ein.
Eine Maxime, die nicht mehr selbstverständlich scheint, obwohl sie in der Verfassung verankert ist. Denn in diesem Grundgesetz-Feierjahr „kommt es, kurz nach der Offenlegung des Potsdamer Geheimtreffens zu Massendeportationsplänen, mit der neuen Asylreform zum massivsten Angriff auf das individuelle Recht auf Asyl, den es in der EU je gegeben hat – gefolgt von einer Europawahl, in welcher der befürchtete dramatische Rechtsruck noch übertroffen wird“, heißt es in einer Mitteilung des Gorki zur neuen Spielzeit.
Als Cemal Kemal Altun aus dem Fenster sprang
Und an noch etwas erinnert das Theater. 2024 ist es auch 40 Jahre her, dass sich der 23-jährige Cemal Kemal Altun aus dem sechsten Stock des Oberverwaltungsgerichts Berlin stürzte. Der politisch engagierte Student war 1980 nach West-Berlin geflohen, weil er nach dem Militärputsch in der Türkei dort nicht mehr sicher war. „In der Bundesrepublik war ihm zwar politisches Asyl gewährt worden, aber das deutsche Innenministerium selbst hatte gegen diese Entscheidung geklagt – und die Militärdiktatur über Altun informiert. Diese sah daraufhin von der Todesstrafe ab, um für die BRD die Möglichkeit einer Abschiebung zu schaffen“, erklärt das Gorki.
So kam Cemal Kemal Altun trotz des laufenden Verfahrens in Auslieferungshaft und stürzte sich im Prozess vor laufenden Kameras aus dem Fenster. „Sein Schicksal erzählt viel über den unmenschlichen Umgang der Bundesrepublik mit Asylbewerberinnen und Asylbewerbern: Gute Beziehungen zu den türkischen Militärs wurden über den Schutz eines verfolgten Menschen gestellt“, sagen die Theaterleute – und bringen diese Geschichte auf die Bühne.
Der Filmemacher Cem Kaya setzt sich in der ersten Gorki-Premiere der Spielzeit 2024/25 am 6. September anhand von Cemal Kemal Altuns Schicksal „mit Deutschland und dessen traditionsreicher Kollaboration mit Unrechtsstaaten auseinander“, wie er ankündigt. „Pop, Pein, Paragraphen“ nennt er seine Video-Lecture-Performance, in der er Archivmaterial mit privaten Zeitdokumenten mischt. Cem Kaya „erzählt performativ, schonungslos und mit bissigem Humor nicht nur die Rechtsgeschichte Deutschlands neu. Dabei zeichnet er nicht weniger als einen gesellschaftlichen Zustand, der weit über die damalige Zeit hinausweisend, erschreckend deutlich die Kontinuität eines Nährbodens für den nie weg gewesenen Faschismus aufzeigt. Eine ganz neue Deutschstunde also“, kündigt das Gorki an.
Cem Kayas Performance ist eine von drei Premieren, die sich mit Recht und Gesetz beschäftigen. Die zweite gestaltet die Autorin, Musikerin, Schauspielerin und Regisseurin Lola Arias. Am 14. September präsentiert das Gorki ihr neuestes Stück „Los días afuera/The Days Out There“ erstmals in Berlin. Die Gorki-Koproduktion ist auch auf dem Theaterfestival in Avignon zu sehen. „Die fünf Protagonistinnen des Stücks saßen alle in Gefängnissen in Argentinien ein. Jetzt sind sie draußen und erzählen ihre Geschichten. Armut, erfahrene Gewalt, Geschlechterfragen – es gibt viele Mittel, Menschen ihre Rechte zu nehmen. Und es gibt Unrechtsgeschichten in Rechtsstaaten“, erklärt die Dramaturgie das Stück.
In der dritten Premiere am 21. September, dem Tag vor der Landtagswahl in Brandenburg, interpretiert Oliver Frljić einen Kafka-Text: „Der Prozess“. Mit der Kombination Frljić und Kafka hat das Theater gute Erfahrungen. Frljićs Bearbeitung von Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ spielt seit Februar 2019 vor ausverkauftem Haus. „Seine nächste Kafka-Adaption kann daher mit Spannung erwartet werden“, verspricht die Dramaturgie. Der erste Satz in Kafkas „Prozess“ spiegelt aus Sicht der Theatermacher mitunter auch die Wirklichkeit wider: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ „Es gibt Gesetze, es gibt auch Organe des Rechtsstaates in Kafkas Albtraum. Aber zur Klärung der Lage von Josef K. tragen sie nicht bei“, erklärt die Dramaturgie dazu.
„Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen?“, fragt Kafka. Am Morgen seines 30. Geburtstags wird in seiner Geschichte Josef K. von den Agenten eines ihm unbekannten Gerichts als verhaftet erklärt. Ohne zu wissen, was er getan haben soll, sieht er sich einer undurchschaubaren und unheimlichen Bürokratie gegenüber, bis er von zwei Henkern in Anzügen abgeholt und an einem Flussufer hingerichtet wird.
Sind vor dem Gesetz alle Menschen gleich?
„Kafka, der als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft selbst ein Teil der Bürokratie war, thematisiert in seinem Roman ,Der Prozess‘ weniger das reibungslose Funktionieren der bürokratischen Maschine als vielmehr die unendlichen Verstrickungen, Verflechtungen und Verwirrungen, die sich aus den endlosen, labyrinthischen Bürogängen ergeben. Die Intransparenz der Verfahren und Behördenwege steigern sich bis ins Albtraumhafte. Vor dem Gesetz waren niemals alle Menschen gleich. Aber sind wir heute nicht dabei, mit der Illusion, es gebe diese Gleichheit, auch die Hoffnung aufzugeben, sie einmal herstellen zu können?“, fragen die Theatermacher.
Anlässlich der Premiere von Oliver Frljićs Kafka-Adaption lädt das Gorki am 22. September Expertinnen und Experten zur Auseinandersetzung mit der K-Frage ein: Wofür steht die Figur Josef K.? Wer oder was könnte K. in unserer Gegenwart sein? Das Ganze natürlich vor Publikum.
Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes komme das Kafka-Jahr anlässlich des 100. Todestages des Schriftsellers jedenfalls „wie gerufen“, finden sie.