Das Gedankengut der Rechtspopulisten ist in großen Teilen der französischen Gesellschaft inzwischen salonfähig geworden. Das zeigt das Beispiel der französischen Küstenstadt Fréjus am Mittelmeer. Sehr zum Leidwesen von Europa. Eine Stimmungslage.

Das Thermometer steigt dieser Tage an der französischen Mittelmeerküste. Nicht etwa, weil der beim Wahlvolk verhasste Präsident Emmanuel Macron im fernen Paris durch die überraschende Auflösung der Nationalversammlung Frankreich in eine politische Krise gestürzt hat. Nein, im Midi, im Süden Frankreichs sind im Juli und August – traditionell die Urlaubsmonate unserer französischen Nachbarn schlechthin – Temperaturen von rund 38°C keine Seltenheit. Vielfach zieht es sie an die um diese Zeit völlig überlaufene Küste.
Die Hauptstadt Paris ist weit weg
Von Polit-Krise in Frankreich merkt man hier auf den ersten Blick keine Spur: Einheimische und Touristen aus dem In- und Ausland wollen die vollen Strände und Lokale und Sonne pur lieber in vollen Zügen genießen, als sich mit unbequemen Fragen des Alltags zu beschäftigen. Das hat Zeit bis zur „Rentrée“, dem jährlich wiederkehrenden Neustart Anfang September nach dem Ende der großen Ferien. Das politische Paris ist durch die südfranzösische Brille betrachtet eben weit weg, und der „heiße“ Herbst kann warten. Das politische Kalkül des Monsieur le Président, eine halbwegs solide Regierungsmehrheit in der Nationalversammlung zu erreichen, ist halt nicht aufgegangen. Verzockt heißt das im Spielerjargon. Macron und sein Regierungslager „Ensemble“ haben schon im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen Ende Juni eine herbe Klatsche einstecken müssen: Allein im Département Var als eines der Zentren der französischen Mittelmeerküste fielen da sechs von acht Wahlbezirke mit absoluter Mehrheit direkt an die Rechtspopulisten des Rassemblement National RN. Ein weiterer Bezirk wurde im zweiten Wahldurchgang eine Woche später abgeräumt. Lediglich in der Hafenstadt Toulon setzte sich in der Stichwahl der Kandidat aus dem Regierungslager durch und das auch nur, weil der Drittplatzierte aus wahltaktischen Gründen zur Verhinderung der Rechtsextremen verzichtete. Nur das Mehrheitswahlrecht und der Zusammenschluss aller Parteien „wir alle gegen den RN“ im zweiten Wahlgang haben Schlimmeres und damit die absolute Mehrheit der Rechtspopulisten in ganz Frankreich verhindert.

Wieder einmal gab es eine kalte Dusche für das politische Establishment der Regierungsparteien im Stammland der französischen Rechtsextremen um Marine Le Pen in Südfrankreich, allen voran auf dem Land, in „la France profonde“ eben, obwohl es auch dieses Mal noch nicht für die Regierungsübernahme des RN gereicht hat.
Willkommen in der Welt der Populisten! Das gilt auch für die rund 58.000 Einwohner zählende Stadt Fréjus direkt an der Côte d‘Azur gelegen. Das quirlige Städtchen, das seit den 80er-Jahren das vom Kulturministerium verliehene Gütesiegel „Stadt der Kunst und Geschichte“ trägt und viele Jahre von der liberal-konservativen Familie Léotard regiert wurde, hat seit 2014 erstmalig einen Rechtspopulisten als Bürgermeister: David Rachline, Vorzeigebürgermeister, Freund und „rechte“ Hand sowie Steigbügelhalter von Marine Le Pen. Der parteipolitische Karrierist, gespickt mit Skandalen und angeblicher Vetternwirtschaft, zog 2020 bei den Kommunalwahlen erneut ins Rathaus ein. Bei den Kommunalwahlen 2008 lief Rachline noch unter „ferner liefen“ über die Ziellinie, holte sechs Jahre später im zweiten Wahlgang mit seiner Liste die Mehrheit im Stadtparlament und eben 2020 die absolute Mehrheit. „Bürgermeisterwahlen sind Persönlichkeitswahlen“, sagt Jean-Luc, der seit vielen Jahren im zentralen Marktplatz-Café bedient. Rachline habe während seiner Amtszeit viel für die Stadt getan und nicht nur geredet, die sanierte Altstadt etwa oder die kostenlosen Pendelbusse zwischen Zentrum und Küste eingeführt. Café-Betreiber und Chef Pierrot sieht jemanden in der Verantwortung, der etwas gegen das Sterben der kleinen Geschäfte unternehme, von deren Kundschaft sie eben auch leben würden, wenn die Touristen im Winter ausbleiben.
Permanente Präsenz vor Ort verfängt

Kampf gegen den Kaufkraftverlust, Versprechungen wie Absenken der Mehrwertsteuer auf Benzin, Gas und Strom sowie Lebensmittel, die Rücknahme der so umstrittenen Rentenreform mit längerer Lebensarbeitszeit, der RN hat längst die sozialen Themen besetzt, die den meisten französischen Landsleuten im Alltag zu schaffen machen. Auch wenn der RN Antworten auf die Finanzierung dieser Wohltaten schuldig bleibt. „Wir kommen jetzt schon kaum über die Runden, und die in Paris ziehen uns nur noch mehr Geld aus der Tasche“, beklagt Pierrot. „Die sind nicht da, wenn man sie braucht. Dieser elitäre Präsident regiert gegen sein Volk. Er muss einfach weg.“
In der Tat: Permanente Präsenz vor Ort verfängt. Das Sichkümmern eben. Das Büro des RN in unmittelbarer Nähe des Rathauses mit den großformatigen Konterfeis Le Pen, Bardella und im Schlepptau Rachline im Schaufenster vermitteln Omnipräsenz in den Nationalfarben „bleu, blanc, rouge“, sollen das Gefühl von Sicherheit ausstrahlen, einem Thema, mit dem sie bei den Französinnen und Franzosen punkten. Für Florence ist es das Thema schlechthin. Die pensionierte Lehrerin, die heute in einer Künstlerwerkstatt in der Altstadt ehrenamtlich arbeitet, ist zwar überzeugte Linke und macht keinen Hehl daraus, die linksextreme La France Insoumise zu wählen, weiß aber zu gut, dass viele Einwohner wohl Angst haben vor Überfremdung und mutmaßlicher einhergehender Kriminalität. „Wie mein Nachbar, ein netter Mensch und bekennender RN-Wähler.“ Die Sündenböcke und Ursache allen Übels seien eben Ali, Ahmed und Co. aus dem nahen Nordafrika.
Sicherheit als Kernthema

Sicherheit als Kernthema und Markenzeichen. Das weiß der RN zu nutzen und spielt geschickt auf der Klaviatur von Fremdenhass und Antisemitismus. Im Brennpunktviertel Gabelle in Fréjus streicht Bürgermeister Rachline einfach mal die Mittel für Sprachkurse für Ausländer oder schiebt den Bau eines dringend benötigten Kindergartens auf den St. Nimmerleinstag oder schließt Sozialeinrichtungen angeblich wegen fehlender Gelder. Selbst Ausgangssperren für Asylbewerber seien letztes Jahr im Gespräch gewesen, betont die portugiesische Lehrerin Marie-José De Azevedo, die Rachline in der Grundschule sogar selbst unterrichtete. Unliebsame Bürgerinitiativen, die gegen die Pläne des RN-Bürgermeisters der kontinuierlichen Zubetonierung der Küste protestieren, würden bedroht und mundtot gemacht. Zustände und Korruptionsvorwürfe wie in einer Bananenrepublik perlen an Rachline teflonmäßig einfach nur ab, beschreibt die Journalistin vom französischen Nachrichtenmagazin Nouvel Observateur, Camille Vigogne Le Coat, in ihrem Buch „Les Rapaces“ (auf Deutsch: die Habgierigen). Große Proteste in Fréjus gegen Rachline und seine Machenschaften: Fehlanzeige.

Die Altstadt und die rund vier Kilometer entfernten, aus dem Boden gestampften Siedlungen und Hotelburgen an der Küste bilden keine gewachsene homogene Einheit in Fréjus. Inzwischen hat sich die „Betonmafia“ daran gemacht, die teils aus den 70er Jahren stammenden Gebäude zu sanieren und neue schicke Wohnungen zu bauen, allerdings zu unerschwinglichen Preisen für die meisten Einheimischen. Dazwischen liegen ellenlange Gewerbegebiete mit Bau- und Supermärkten, Freizeiteinrichtungen, Logistikunternehmen, alles einhergehend mit unsäglicher Verkehrsbelastung, mit nicht enden wollenden Kreisverkehren, durchschnitten von der Autobahn der Provence und der Bahnlinie nach Nizza. Romantisch sei das vielleicht nicht und auch nichts für stressgeplagte Urlauber, aber eben gut fürs Geschäft, betont Laurent aus dem gut gehenden Restaurant „Les Sablettes“ direkt am Strand.
Unbeliebtheit des Präsidenten

Von Politik wollen die meisten hier arbeitenden Menschen im Moment eh nichts wissen. Es ist Hochsaison, und da geht es um die wichtigsten Einnahmen des ganzen Jahres. Was soll’s, wenn sich jemand offen zum RN bekennt, der längst keine Protestpartei mehr ist. Schließlich wählt im Var mehr als jeder Zweite die Rechtsextremen und das schon viele Jahre. „Was ist so schlimm daran?“, fragt Laura aus der Touristeninformation. „Der RN hat doch mit der Partei des alten Haudegen Jean-Marie Le Pen gar nichts mehr zu tun und die Etablierten richten doch nur Chaos an.“ Eine landläufige Meinung. Die Entdämonisierungskampagne des RN von Marine Le Pen trägt Früchte und wen stört es schon, wenn eine Klientelpolitik mit populistischen Zügen à la Rachline den RN mehr und mehr salonfähig macht, solange das Gefühl vermittelt wird, dass Frankreich damit sogar besser fährt als mit den etablierten demokratischen Parteien.
Angesprochen auf Europa, auf die Bedeutung der deutsch-französischen Achse, auf ständige Grenzkontrollen, Schengen, auf die Krisen dieser Welt inklusive der Bedrohungslage durch Russland, bleiben die Antworten aus und erhitzen nur selten die Gemüter. Achselzucken allenthalben, alles zu weit weg, zu abstrakt und kompliziert. Einfache Lösungen wie die Populisten, ob links oder rechts, sie versprechen, scheinen anzukommen in großen Teilen der Gesellschaft. Leider. Aber vor allem bei einem Thema ist sich die Mehrheit der Französinnen und Franzosen einig: die Unbeliebtheit des Präsidenten Macron und bekennenden Europäers scheint in Frankreich wohl grenzenlos zu sein. Kein gutes Omen für die Präsidentschaftswahlen in knapp drei Jahren und schon gar nicht für die deutsch-französische Zusammenarbeit.