In den SOS-Kinderdörfern leben Kinder, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihren Familien bleiben können. Das kann bei den jungen Menschen psychische Folgen haben. Hier können Tiere wunderbare Helfer sein. Wie zum Beispiel in der Tiergestützten Pädagogik im SOS-Kinderdorf Saar in Merzig.
Ganz vorsichtig balanciert Tim das Holzbrett mit den kleingeschnittenen Karotten ins Meerschweinchengehege. Die kleinen Tiere kommen neugierig angelaufen. Tim stellt das Brett ab, nimmt ein Karottenstück und hält es einem der Meerschweinchen hin. Das zögert noch. Tim bewegt sich kaum, hält seine Hand ganz ruhig und wartet ab. Schließlich bedient sich das Meerschweinchen. Tim lächelt. Der sechsjährige Junge lebt seit etwa zwei Jahren im SOS-Kinderdorf Saar in Merzig und ist regelmäßig bei seinen tierischen Freunden. Das sind die Meerschweinchen und Pony Anton. Die leben auf einem schönen kleinen Hof in Merzig-Brotdorf, wo das SOS-Kinderdorf Saar Tiergestützte Pädagogik für die stationär lebenden Kinder anbietet. Verantwortlich dafür ist Sozialpädagogin Janina Klauck zusammen mit ihren Kolleginnen Vera Philippe und Lisa Böhm. Dabei sind die Meerschweinchen eine echte „Geheimwaffe“, wie Janina Klauck lachend sagt. „Sie werden oft unterschätzt und sind so wertvoll für die Tiergestützte Arbeit“. Als hätten die kleinen Nager es verstanden, stehen nun alle fast wie in einer Reihe vor Tim. „Sie haben als kleine Fluchttiere sehr feine Antennen“, sagt Janina Klauck. „Wir haben Kinder im Kinderdorf, bei denen eine ADHS-Diagnose im Raum steht, die können im Alltag keine fünf Minuten still sitzen, die verharren hier 20 Minuten im Meerschweinchengehege mit einer Möhrenscheibe auf der Fußspitze, und warten bis das Tier kommt.“
Die Meerschweinchen sind die „Geheimwaffe“
Dass Kinder sehr positiv auf Tiere reagieren, ist von Natur aus so angelegt, erklärt Janina Klauck und verweist auf die Biophilie-These, die besagt, dass der Mensch eine angeborene Verbindung zur Natur und den Tieren hat. Auf dem Hof können sich die Kinder erden, sagt die Sozialpädagogin. „Tiere geben Kindern immer sehr viel Rückhalt. Tiere sind immer ehrlich und authentisch. Ihnen ist es egal, welche Kleider man trägt oder welche Schulnoten man hat, sie bewerten nicht, man muss auch nicht unbedingt etwas machen, um sich ihre Zuneigung zu verdienen. Sie sind wunderbare Bindungspartner für die Kinder.“ Und gerade das ist für die meisten Kinder, die im SOS-Kinderdorf wohnen, sehr wichtig.
Denn alle diese Kinder mussten ihr Zuhause verlassen, oft wegen Überforderung der Eltern, sagt Eva Heibel, Bereichsleiterin vom Stationären Bereich und der Tiergestützten Pädagogik. „Die Kinder wohnen dann fest im Kinderdorf, haben dort ihren neuen Lebensmittelpunkt.“ Auch wenn es für die Kinder das Beste ist, hinterlässt es doch häufig Spuren bei den jungen Menschen. Traumata, Ängste und Bindungsunsicherheit können die Folgen sein. So wie bei Tim, der nicht mehr bei seiner Mutter bleiben konnte.
„Tim ist ein sehr quirliges Kind und testet alles, was man ihm sagt, erst mal aus, ob das wirklich so ist“, sagt Janina Klauck, die seit viereinhalb Jahren beim SOS-Kinderdorf Saar angestellt ist. „Er braucht eine engmaschige Betreuung, ist im Alltag eher sprunghaft.“
Tim ist einer der jüngsten von den momentan 35 Kindern im Kinderdorf. In der Tiergestützten Pädagogik lernt er Struktur und Abläufe. Und das hat ihm vor allem Anton beigebracht. Das fünf Jahre alte Pony kommt neugierig angelaufen, als Tim am Gatter steht. „Du reitest den Anton am liebsten, stimmt’s?“, fragt Janina Klauck. Tim strahlt. „Ja!“ Janina Klauck lacht. „Mittlerweile macht Tim Anton fast schon alleine fertig.“
Die 33-jährige Sozialpädagogin hat nach ihrem Studium noch die Ausbildung zum Therapie-Begleithunde-Team sowie zur Fachkraft für Tiergestützte Interventionen absolviert, um sich ihren Wunsch zu erfüllen: mit Kindern und Tieren arbeiten. Immer an ihrer Seite ist Mali, eine ausgebildete Therapie-Hündin, die auch bei den Kindern immer wieder zum Einsatz kommt. Und das ganz individuell, je nachdem, was gerade gebraucht wird.
„Es gibt niederschwellige Angebote, wo Mali einfach nur mitläuft“, erklärt Janina Klauck. „Und dann schaut man, was sich ergibt. Es entstehen zum Beispiel Gespräche, die Kinder fangen dann an, Fragen über Mali zu stellen. Zum Beispiel, warum sie nicht bei ihrer Mama lebt.“ Der Hund wird zur Projektionsfläche für die eigenen Gefühle. Und über den Hund wird auch die Beziehung zur pädagogischen Fachkraft gestärkt. „Dann machen wir auch aktive Sachen, wie zum Beispiel Parcours- oder Trickarbeit, das mag auch Mali sehr gern. Das hilft Kindern, die Probleme mit dem Strukturieren von Handlungen haben, und sie bauen Selbstbewusstsein auf, wenn sie mit dem Hund Erfolgserlebnisse haben.“
Dass das alles Hand und Fuß hat, ist wissenschaftlich längst erwiesen. Die vielen positiven Aspekte der Tiergestützten Arbeit wurden in einigen Studien nachgewiesen.
Jetzt möchte Tim gern Anton putzen. Janina Klauck geht mit dem Jungen zu dem Bereich, wo die Pferde stehen. Insgesamt leben hier sieben Pferde. Außer Anton, der dem Kinderdorf gehört, sind es die Pferde von verschiedenen Besitzern. Neben Anton werden noch zwei andere in der Tiergestützten Pädagogik eingesetzt. Janina Klauck legt Anton das Halfter an und führt dann gemeinsam mit Tim das Pony am Strick zu einem Trainingsplatz.
„Tiere geben unmittelbares Feedback“
„Nimm doch mal die Massagebürste“, schlägt Janina Klauck vor. Tim kramt im Putzbeutel, zieht eine große Gummibürste raus und los geht’s. Anton scheint es zu gefallen. Tim bürstet ganz vorsichtig. Der kleine Junge, der beim Ankommen heute auf dem Hof kaum zu bremsen war, steht nun ganz still und ruhig. Er weiß mittlerweile, dass Pferde sehr sensibel auf Stress und Unruhe bei Menschen reagieren. Und Tim will, dass Anton gern bei ihm ist.
„Tiere geben ein unmittelbares Feedback“, erklärt Janina Klauck. „Die Kinder lernen, wie sie sich verhalten müssen, damit das Tier kommt und sich bei ihnen wohlfühlt und bleibt.“ Die Kinder entwickeln eine sogenannte intrinsische Motivation, das heißt, dass sie sich selbst aus sich heraus für etwas motivieren, weil es ihnen wichtig ist. Die Kinder lernen auch ganz nebenbei Respekt vor den Tieren und ihren Bedürfnissen zu haben. Beim Meerschweinchengehege zum Beispiel dürfen sich die Kinder nur in der sogenannten Besucherzone aufhalten. Ziehen sich die Meerschweinchen in ihren Bereich zurück, dürfen die Kinder nicht in das Gehege hineinlaufen. Sie lernen, den Rückzug der Tiere zu akzeptieren, so wie auch ihre eigenen individuellen Grenzen stets akzeptiert werden. Gerade für Kinder mit Problemen und schlechten Erfahrungen in der Nähe-Distanz-Regulation oder bei übergriffigen Handlungen ist dies ein wertvolles Lernfeld.
Auf Spenden angewiesen
Auch bei der Versorgung der kleinen und großen Fellnasen mit anzupacken, ist eine wichtige Förderung für die Kinder. „Da wird zum Beispiel die Feinmotorik geschult“, sagt Janina Klauck. „Oder Balancieren, wie beim Schubkarre fahren. Und natürlich, Verantwortung zu übernehmen.“ Auch die kleinen „Bauprojekte“ kommen bei den Kindern sehr gut an, wie zum Beispiel die selbst gebauten Meerschweinchen-Häuser, die bunt angemalt als Rückzugsorte überall im Gehege stehen. Unter anderem gibt es da für die kleinen Nager eine Kirche, ein „Edeka“-Geschäft und ein Restaurant, alles eigene Ideen der Kinder. „Für die Kinder ist der Hof auch eine Oase, in der sie einfach auch mal eine Auszeit nehmen können, zur Ruhe kommen“, sagt Bereichsleiterin Eva Heibel. Das spürt man auch als Erwachsener sofort. Nicht nur die Tiere haben eine positive Wirkung. Das ganze Ambiente ist liebevoll gestaltet, es gibt gemütliche Plätze, wo die Kinder entspannen können. Und wenn sie etwas arbeiten möchten, finden sie Besen, Rechen und Schubkarren in kindgerechten Größen. Oder sie setzen sich einfach nur zu den Meerschweinchen oder Pferden und schauen ihnen aufmerksam zu. Doch so schön das alles ist, es kostet auch Geld. Neben dem Pflegen und Instandhalten der Gebäude und des Geländes kommen auch etliche Kosten für die Unterhaltung der Tiere hinzu, die auch mal höher ausfallen können, wenn zum Beispiel ein Pferd krank wird. Deshalb ist das SOS-Kinderdorf Saar für die Tiergestützte Pädagogik auf Spenden angewiesen und freut sich über jede Form finanzieller Hilfe. Vor Kurzem wurde zum Beispiel von der ProWin-Stiftung im Rahmen einer Spenden-Gala eine Unterstützung von 10.000 Euro an das SOS-Kinderdorf Saar überreicht.
Tim ist mittlerweile mit Hündin Mali beschäftigt. Er gibt Mali das Handzeichen für Platz. In seiner kleinen Hand hält er ein Leckerli für Mali, das ihm Janina Klauck gegeben hat. Mali legt sich hin. Dann noch das Handzeichen, dass Mali sich über den Boden rollt. Es klappt. Tim gibt Mali das Leckerli und strahlt wieder.