Er braucht nur 1,64 Meter, um eine echte Größe zu sein. Die Rede ist von Jamie Cullum. Der Brite ist einer der erfolgreichsten Jazzmusiker aller Zeiten. Mit dem 45-jährigen Sänger sprachen wir über Spontanität auf der Bühne, seine ungewöhnliche Leidenschaft für Free Jazz und seine kultige Zusammenarbeit mit Clint Eastwood.
Mr. Cullum, ist eine Tournee für Sie immer eine Glückserfahrung oder hat das Herumreisen auch seine Schattenseiten?
Wie bei jeder Reise gibt es Unwägbarkeiten, die ein wenig frustrierend sein können. Manchmal hat man nicht besonders gut geschlafen. Aber da ich das jetzt seit 24 Jahren mache, empfinde ich es als ein großes Privileg, zu reisen und Leute zu treffen, die meine Musik hören wollen. Ich kenne viele, die schon länger in der Musikbranche sind als ich, großen Erfolg hatten und nicht mehr reisen wollen. Ich versuche, dankbar zu sein und das Ganze wirklich positiv zu sehen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es für einen verheirateten Mann in den Vierzigern mit zwei Kindern nicht manchmal schwierig ist. Aber meistens liebe ich die Erfahrung des Tourens und deshalb mache ich es immer noch.
Machen Sie einen Unterschied zwischen der Bühne und dem wirklichen Leben?
Ich habe auch ein ganz normales häusliches Leben, in dem ich den Kids helfen muss, zur Schule zu gehen, ich muss mich um mein Haus, die Regenrinne, das Dach und auch um meinen Job kümmern. Und dann findest du dich plötzlich am Flughafen wieder in einem Tourbus mit sechs deiner besten Freunde, die in eine coole Stadt fahren, um auf einem Festival Musik zu machen. Das ist etwas völlig anderes. Das eine Leben ist auf jeden Fall viel härter als das andere. Aber ich werde Ihnen nicht sagen, welches. (lacht)
Was tun Sie in den letzten Minuten vor einem Auftritt?
Ich wärme meine Stimme auf. Die ist nämlich am schwersten beweglich zu halten, zumal ich mich jetzt wirklich um sie kümmern muss, um sicherzustellen, dass ich mit der richtigen Technik singe. Das ist ein Ritual. Eine halbe Stunde vor der Show sind wir alle im selben Raum und lassen Musik über einen Lautsprecher laufen. Es fühlt sich an, als würden wir auf eine Party gehen. Wir tauschen Songs aus, die wir mögen und singen gemeinsam. Und normalerweise trinken wir dann alle zusammen einen kleinen Schluck eines guten kalten Tequilas.
Welche Rolle spielen Improvisation und Kreativität bei Ihren Shows generell?
Eine zentrale. Ich stecke nicht nur tief in den Songs, die wir spielen, sondern auch in den vielen Open-Space-Improvisationen, weil sie in der Welt des Jazz angesiedelt sind. Außerdem mag ich es, Dinge in der Setlist zu verändern. Es gibt nicht viele Musiker, die eine Setlist haben, die sich von Abend zu Abend ändern kann. Manchmal ändere ich auch etwas spontan auf der Bühne. Ich mag es, die Dinge im Fluss zu halten.
Wie viele Ihrer rund 150 veröffentlichten Songs kennen Sie eigentlich auswendig?
Ich würde sagen, ich könnte mich durch Hundert von ihnen wurschteln, denn ich habe meine Wurzeln als Cocktailbar-Pianist in Hochzeitsbands. Manchmal kam ein Gast um 2 Uhr nachts zu mir und fragte, ob ich irgendeinen obskuren Frank-Sinatra-Song spielen könne. Ja, das konnte ich. Das gehört zu den Fähigkeiten eines Jazzmusikers. Wenn man sich einmal aufgenommene Dinge grob im Kopf merkt, kann man sie irgendwie spontan ausarbeiten. Aber ob ich das dann gut machen würde, weiß ich nicht.
Bei Ihren Konzerten machen Sie immer einen relativ entspannten Eindruck. Täuscht das?
Ich bemühe mich zumindest, relaxt zu sein. Und ich bin auch sehr neugierig. Mit dem Online-Leben habe ich jedoch nicht viel zu tun. Viele der ängstlichsten Menschen, die ich kenne, sind die ganze Zeit online und lesen ständig die Nachrichten in den sozialen Medien. Mein Gehirn funktioniert nicht so. Ich bin ein Monotasking-Typ und kann ärgerlicherweise keine zwei Sachen gleichzeitig erledigen. Ich mache ganz altmodische Dinge wie ein Buch lesen oder ganze Platten hören. Ich will nicht sagen, dass das in irgendeiner Weise besser ist, aber ich bin selten abgelenkt.
Cineasten lieben Ihren Song „Gran Torino“, den Sie für Clint Eastwoods gleichnamigen Film geschrieben haben. War er auch Teil Ihrer Tour?
Ich habe eine lange Liste mit allen Songs geschrieben, die ich auf dieser Tournee ausprobieren möchte. Und „Gran Torino“ ist einer von ihnen. In den letzten zwölf Jahren habe ich viele Shows mit dieser Nummer beendet. Vielleicht werde ich damit experimentieren und sie mehr in die Mitte legen, mal sehen. Es ist ein sehr langsames und ruhiges Stück.
Wie war es, mit Clint Eastwood Musik zu schreiben?
Die Vorstellung war zuerst einmal surreal, mit ihm und für ihn Musik zu machen. Aber in der Praxis war Clint Eastwood so relaxt und so ein Fan von Musik, dass sich die ganze Sache wirklich zwanglos anfühlte. Sich neben ihn auf die Klavierbank zu setzen, während wir den Song in seinem Haus in Los Angeles aufnahmen, fühlte sich sehr normal an. Wir haben zusammen gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen. Ich habe noch nicht viele Hollywoodstars getroffen, aber Sie würden nicht glauben, wie unaufdringlich Clint Eastwood ist. Er ist für mich der Inbegriff von Coolness.
Hat Eastwood sich denn auch Ihre Show angesehen?
Ja, er sah sich sogar vier oder fünf meiner Auftritte an. Es ist so lustig, denn nach der Show kam er in unsere Garderobe und trank ein Bier mit uns. Er hat nicht nur mit mir geredet, sondern mit jedem in der Band und meiner Crew.
Seit April 2010 moderieren Sie wöchentlich am Dienstagabend eine Jazzsendung auf BBC Radio 2. Ist das so, weil Sie auch heute noch ein Musikfan sind?
Ja. Es gibt viele Gründe für mich, eine Radiosendung zu machen. Das ist nichts, was man wegen des Geldes tut. Ich habe hier die Möglichkeit, ein großes Publikum mit Musik zu erreichen, die nicht unbedingt immer eine Plattform hat. Das finde ich auch für meine eigene Musik sehr befruchtend. Ich liebe die Tatsache, dass die Radiosendung jede Woche stattfindet und sich so anfühlt, als wäre es das, was einem richtigen Job am nächsten kommt, den ich nie hatte.
Sie sind ein großer Freund von Vinyl. Legen Sie in Ihrer BBC-Sendung Platten aus Ihrer eigenen Sammlung auf?
Ja, ziemlich oft. Ich gehöre auch zu den Verrückten, die darauf achten, dass immer die Datei mit der höchsten Qualität auf dem System ist. In meiner Sendung gibt es deshalb keine MP3s. Ich habe eine große Vinyl-Sammlung und weiß, dass es eine Freude ist, Platten abzuspielen. Heutzutage ist das Sammeln von Vinyl sehr trendy, man braucht eine Kollektion im Hintergrund in seinen Instagram-Posts. Ich habe aber schon zu einer Zeit Vinyl gesammelt, als die Leute ihre Scheiben loswerden wollten. Der Vater eines Freundes zum Beispiel schenkte mir seine gesamte Jazz-Sammlung, weil er alles auf CD umstellte. Dazu gehörte der komplette Miles-Davis-Katalog auf Columbia Records. Ich versuche heutzutage nicht mehr, um des Sammelns willen zu sammeln, denn das würde mein ganzes Leben in Anspruch nehmen. (lacht)
Sammeln Sie ausschließlich Platten von Ihren Lieblingskünstlern oder auch von Ihren Lieblings-Labels?
Beides. Ich sammle natürlich Platten von meinen Lieblingskünstlern, aber ich interessiere mich wirklich für die schwarzen Jazz-Labels aus Detroit in den 70er-Jahren. Und von meinen Lieblingsproduzenten. Wenn ich eine Platte entdecke, die ich nicht habe und die von Charles Stepney produziert wurde, bin ich sehr interessiert. Manchmal ist es auch nur ein Musiker oder ein Instrument, das mir an einem Album gefällt. Wenn zum Beispiel auf einer 70er-Jahre-Platte ein Fender-Rhodes-Piano zu hören ist und sie auch noch ein tolles Cover hat, werde ich sie mir besorgen.
Charles Stepneys Versuche, Blues und Soul mit Psychedelic Music zu verbinden, gehen auf seine innovative Arbeit als Produzent zurück. Mögen Sie Free Jazz von Avantgardisten wie Albert Ayler oder Sun Ra?
Sicher. „Mögen“ ist aber ein schwieriges Wort, denn ich muss genau in der richtigen Stimmung sein, um diese Art von Musik zu hören. Ich habe eine wunderbare Box von Albert Ayler hier in meinem Studio, die ich mir als eine Art Experiment gekauft habe, um zu versuchen, mich ein bisschen mehr auf diese Musik einzulassen, weil man Free Jazz nicht wirklich hören kann, wenn jemand anderes im Raum ist. Schon gar nicht in meiner Familie. Ich kann das nachvollziehen. Ich bin ein neugieriger Typ, der gern die Grenzen dessen überschreitet, was sich in seinem Kopf angenehm anfühlt. Es ist lustig, dass die Leute sagen, dass meine Musik nicht so klingt. Ich denke wirklich, dass sie nicht so klingen muss. Vieles von Sun Ra kann man sich aber gut anhören.
Was passiert mit der Kreativität des Künstlers, wenn das Format Album mit seinen grenzenlosen Möglichkeiten nicht überlebt?
Alben haben heute ein kleineres Publikum, die Mehrheit ist im Allgemeinen mehr an kürzeren Inhalten interessiert. Andererseits gibt es auch Podcasts, die drei, vier Stunden dauern und gehört werden. Viele Künstler machen immer noch lange und wirklich großartige Alben, und es gibt ein Publikum dafür. Das Format wird überleben, denn die Künstler müssen überleben. Um einen großartigen Track zu machen, muss man ein ganzes Werk erschaffen. Und dieser eine großartige Track fühlt sich besser an, weil er von anderen tollen Tracks umgeben ist. Kreativität ist ein zentraler Teil dessen, was uns zu Menschen macht. Solange es sie gibt, wird es auch längere Formen von allem geben.
Ihre Großmutter väterlicherseits, Irma, lebte in Deutschland und musste vor den Nazis fliehen, weil sie Jüdin war. Angeblich war sie auch Musikerin.
Irma war jüdisch mit polnisch-preußisch-deutschen Wurzeln. Während des Zweiten Weltkriegs floh sie von Deutschland nach Jerusalem, wo mein Vater geboren wurde. Sie studierte Medizin und Naturwissenschaften, spielte Gitarre und sang. Mit mir hat sie immer Deutsch gesprochen, deshalb spreche ich diese Sprache auch ein bisschen. Irma sang mich als Kind auch mit deutschen Liedern in den Schlaf und las mir Rilke vor. Ich habe das Gefühl, dass er auf Deutsch besser klingt. Meine Tochter, die ihre Urgroßmutter nie kennengelernt hat, hat sich entschieden, in der Schule Deutsch zu lernen, was mich sehr berührt.