Joseph Conrad hatte 2024 seinen 100. Todestag. Sein Roman „Nostromo“ (1904) wurde deshalb neu aufgelegt. Nostromo ist ein junger Italiener, den es an die Küste des imaginären Staates Costaguana verschlagen hat. Im Hafen des Städtchens Sulaco hat er sich bald das Vertrauen der Bevölkerung erworben und es bis zum Vormann der Dockarbeiter geschafft. Nostromo ist eine schlampige Wortbildung aus Nostro Houmo, unser Mann. Das ist er: fleißig, verlässlich, eine wahre Hilfe für alle, die hier Geschäfte zu erledigen haben.
Die Aura eines Western-Cowboys umweht ihn. Doch es dauert, bis er sich im Roman nach vorne spielen kann. Erst einmal geht es dem Autor darum, die Westprovinz zwischen Meer und Kordilleren mit der Hauptstadt Sulaco vorzustellen. Beschaulichkeit und Prosperität dank einer erfolgreichen Silbermine halten aber nicht lange, hinter den Bergen bahnt sich der nächste Staatsstreich an. Conrad schildert die Putschisten mit höhnischer Verachtung als aufgeblasene Tölpel.
Aus einem überreichen Wortschatz schafft der Formulierungskünstler Bilder, die alle Sinne ansprechen. Der über 500 Seiten dicke Roman ist nichts für Ungeduldige.
Der bedrohlichen Faszination des Silbers erliegt letztlich auch Nostromo. In den Wirren um den Einmarsch der Putschisten soll er Silber außer Landes bringen, doch die Expedition geht nicht glatt ab. Dabei schälen sich die Schattenseiten der Figur heraus: Er ist völlig selbstbezogen. Eitelkeit ist der Treibstoff seiner nach Anerkennung gierenden Redlichkeit.
„Nostromo“ ist ein Kammerspiel mit fein ziselierten Charakteren, das sich in seiner opulenten Erzählform wie ein Drehbuch liest. Es hat etwas von Wild-West- und Kolonialliteratur, und doch ist die Beschreibung von eitlem Machismo, Korruption und brutaler Militärdiktatur so aktuell, dass sie auch auf manchen südamerikanischen Staat 100 Jahre später zutreffen könnte. Das ist auch der frischen Neuübersetzung von Julian und Gisbert Haefs zu verdanken.