„Toleranz“ begegnet uns ständig als Begriff. Aber leben wir sie auch?
Toleranz. Ein Begriff der Würde. Er legt die schützende Hand über das „nackte“ Subjekt und blendet Merkmale wie Glaube, Herkunft oder Sexualität aus. Toleranz. Heinrich IV. von Frankreich füllte den Begriff im Jahre 1589 mit Leben, als er im Edikt von Nantes den Hugenotten im katholischen Frankreich weitgehend religiöse Toleranz sowie volle Bürgerrechte gewährte. Toleranz. Seit Sommer 2017 können gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland offiziell heiraten und genießen die gleichen Rechte und Pflichten wie heterosexuelle Paare.
Große Gesten, große Schritte. Immer mehr scheint jedoch Toleranz weniger Ausdruck wahrhaftiger Überzeugung zu sein, sondern vielmehr Bestandteil einer ausgeklügelten Image-Kalkulation. In Wirtschaft, Sport und Bildung prangt Toleranz auf vielen Flaggen, grüßt von unzähligen Online-Postings. Unternehmen fördern vorgeblich die Vielfalt in ihrer Belegschaft, Fußballverbände sagen „Nein zu Rassismus“, und Universitäten bemühen sich um eine diverse Studierendenschaft.
Könnte es sein, dass Toleranz mittlerweile so selbstverständlich in den Raum geflötet wird, dass ihre Lebendigkeit Silbe für Silbe verblasst? Gerade bei missglückten Aktionen wie dem Theater um die Regenbogenbinde bei der Fußballweltmeisterschaft oder den halbherzigen Diversitätsinitiativen großer Konzerne zeigt sich dies.
Ein Paradebeispiel für solche Oberflächlichkeit findet sich in der Modebranche. Marken schmücken ihre Laufstege mit Models verschiedener Ethnien und Körperformen und preisen ihre Kollektionen als „inklusiv“ an. Doch hinter den Kulissen bleibt die Verantwortung oft auf der Strecke. Die Führungsetagen bleiben homogen, und die Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten in Entwicklungsländern spiegeln keineswegs die propagierten Werte wider. Hier zeigt sich die Gefahr der Hochglanz-Toleranz: Sie bleibt an der Oberfläche und wirkt im besten Fall als Marketingschachzug, im schlimmsten Fall als Zynismus.
Auch im Sport zeigt sich dieses Phänomen. „Say-no-to-Racism“-Kampagnen schmücken Stadien und Spielertrikots, doch im Alltag vieler Athleten spielt Rassismus weiterhin eine schmerzhafte Rolle. Die fehlende Konsequenz in der Durchsetzung schöner Botschaften ignoriert das Problem. Solange Maßnahmen nicht tiefgreifend und im Hinblick auf spezifische, zu verurteilende Szenarien implementiert werden, bleibt der Aufruf zur Toleranz hohl.
Um Toleranz wirklich zu leben, muss sie im Alltag verankert werden. Schulen könnten hier eine Schlüsselrolle spielen, indem sie gegenseitigen Respekt aktiv fördern. Projekte, bei denen Schüler aus verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen gemeinsam arbeiten und lernen, könnten das Fundament für ein tieferes Verständnis und echte Akzeptanz schaffen. Lehrer müssen entsprechend geschult werden, um diese Werte glaubwürdig zu vermitteln. Und vor allem: Schulen sollten sich in ihrem Profil wieder mehr angleichen, statt in Ghettoschulen und Eliteschmieden zu zerfallen. Durchmischung, statt Abschottung und Standesdünkel!
Innovative Konzepte des Zusammenlebens können unterschiedliche Lebenswelten miteinander verknüpfen und dadurch neue Perspektiven und mehr Toleranz erzeugen. Der 2018 gegründete Verein Wohnsinn hat es sich zum Ziel gesetzt, die Wohnsituation von Menschen mit Behinderungen nachhaltig zu verändern. Durch Forschung, Veranstaltungen und konkrete Wohnprojekte fördert er inklusive Wohnformen, in denen Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und in aktiver Gemeinschaft mit anderen leben können – sei es in inklusiven Wohngemeinschaften oder Nachbarschaften.
Authentische Toleranz muss also mehr sein als ein Lippenbekenntnis. Sie erfordert Mut zum unmittelbaren Kontakt und den Willen, sich mit konkreten unbequemen Wahrheiten unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen – auch wenn man dabei aus der Komfortzone der Hochglanzbroschüren und geschmeidigen Sprüche treten muss. Nur so kann die Kraft der Toleranz ihre wahre Wirkung entfalten.