Ein beträchtlicher Teil eingeschleppter Pflanzenarten (35 Prozent) kann sich jahrzehntelang völlig unauffällig in seinem neuen Umfeld verhalten. Nach Ende einer sogenannten Verzögerungsphase beginnen dann schlagartig oft verheerende Schadensverursachungen.
Auch wenn es in der Natur eigentlich kein Gut und kein Böse gibt, so hat doch der sogenannte Weltbiodiversitätsrat (offiziell: Intergovernmental Plattform on Biodiversity and Ecosystem Services/IPBES) 2023 in seinem ersten Bericht zum Ausmaß der durch das Vordringen invasiver Arten hervorgerufenen Probleme sämtliche Regierungen des Globus dringend zum Handeln aufgefordert. Denn invasive Tiere und Pflanzen breiten sich auf Kosten heimischer Arten immer schneller aus und verursachen dabei nicht nur hohe Schäden im Ökosystem, sondern auch bezüglich wirtschaftlicher Interessen. Wobei vorsichtige Schätzungen für das Jahr 2019 laut IPBES von 423 Milliarden Dollar ausgegangen waren.
Neue Studie über Verzögerungsphase
Pflanzen wie das Drüsige Springkraut oder der Götterbaum mögen schön anzusehen sein. Doch sind sie als Neophyten mit dafür verantwortlich, dass der Vormarsch invasiver Arten laut dem IPBES zu den Top-Fünf-Ursachen für den dramatischen globalen Rückgang der Biodiversität gezählt werden muss. Bei 16 Prozent aller weltweit ausgestorbenen Arten waren laut dem IPBES allein invasive Arten ausschlaggebend, bei 60 Prozent gehörten sie zu den Hauptursachen. Da die meisten Länder über keinerlei Gesetze oder Regularien zum Eindämmen der Gefahr für Natur und Umwelt verfügen (nur in 17 Prozent der Staaten ist das anders), können jährlich im Schnitt rund 200 Arten in neue, für sie eigentlich fremde Lebensräume vordringen. Wobei der internationale Handel oder Reisende die wichtigsten Wegbereiter sind. Manche Arten reisen als blinde Passagiere in Containern mit, andere sind selbst zu einem Handelsgut geworden. Die effektivste Maßnahme gegen invasive Arten besteht laut IPBES darin, die Einschleppung zu verhindern, weshalb wirksame Grenzkontrollen im internationalen Handel nötig seien. Falls mit großem Aufwand die Beseitigung invasiver Arten in Angriff genommen werden müsse, wobei es sich nicht immer um eine Ausrottung zu handeln brauche, müsse die Arbeit unbedingt mit einem möglichst perfekten Renaturierungsplan ergänzt werden, weil sonst die unerwünschte Art bald wieder da sein werde.
Auf ein neues großes Risiko im Umgang mit invasiven Pflanzen hat ein internationales Forscherteam unter Federführung der University of California in Davis mit einer jüngst im Fachjournal „Nature Ecology & Evolution“ veröffentlichten Studie aufmerksam gemacht: „Eindringende Pflanzen bleiben in einer Verzögerungsphase unentdeckt, während sie geeignete Klimazonen erkunden“ – so die Headline der Publikation, für die unter Leitung von Prof. Mohsen B. Mesgaran von der UC Davis der Biologe Philipp Robeck von der University of Melbourne als Hauptautor und der an der Universität Wien lehrende Biodiversitätsforscher Franz Essl als einer der Mitautoren verantwortlich gezeichnet hatten. Essl war 2022 zu Österreichs Wissenschaftler des Jahres gekürt worden, weil er sich am Department für Botanik und Biodiversitätsforschung große Verdienste mit Untersuchungen zum Verlust der Artenvielfalt erworben hatte und zusätzlich seine Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit verständlich vermitteln konnte.
Im Durchschnitt 40 Jahre
Für ihre Studie untersuchten die Forscher exakt 3.505 invasive Pflanzenarten in neun teils weit voneinander entfernt liegenden Regionen der Welt in gemäßigten und tropischen Klimazonen, nämlich Australien, Großbritannien, Irland, Japan, Neuseeland-Nordinsel, Neuseeland-Südinsel, Madagaskar, Südafrika und den USA. Die Zielvorgabe lautete, eventuelle zeitliche Verzögerungen in der Ausbreitung der gebietsfremden Arten zu ermitteln „und zu testen, ob es während des Übergangs von der Verzögerungsphase zur Expansionsphase zu Verschiebungen im Klimaraum der Arten gekommen ist“. Laut Prof. Mesgaran handelte es sich bei der Studie um die bislang umfassendste Analyse von Pflanzen-Invasionen. Das erste mithilfe einer Zeitreihenanalyse gewonnene Ergebnis der Forschungsarbeit war die Länge der Verzögerungsphase. Bei gut einem Drittel der untersuchten Pflanzen, genauer gesagt bei 35 Prozent, konnten Verzögerungszeiten zwischen der Ansiedlung und der Ausbreitung der Pflanzen festgestellt werden. Im Schnitt belief sich die Verzögerungsphase auf 40 Jahre.
Die längste Ruhephase konnte am Beispiel des Bergahorns auf der britischen Insel registriert werden. Denn der Baum war schon um das Jahr 1613 ins Vereinigte Königreich gekommen, seine sprunghafte Ausbreitung begann jedoch erst satte 320 Jahre später nach dem Jahr 1933 und führte bald schon zu einer massiven Störung des Ökosystems. Auch das schon 1822 in die USA eingeschleppte und inzwischen zur ernsthaften Bedrohung für Vieh und einheimische Pflanzen aufgestiegene Rasenunkraut Plantago lanceolata, besser bekannt als Spitzwegerich, konnte jahrzehntelang in den Vereinigten Staaten quasi unentdeckt bleiben. Die schon im 18. Jahrhundert in Teilen Deutschlands, Nordamerikas und Australien als Faserpflanze eingeführte Samtpappel, auch als Lindenblättrige Schönmalve bekannt, vermag bis zu 50 Jahre zu ruhen, bevor sie zur Plage werden kann. Was ihr in hiesigen Breitengraden lange nicht so richtig gelungen war: Erst seit den 1990er- und 2000er-Jahren ist sie in Mitteleuropa ganz massiv auf dem Vormarsch. Sie bedroht Mais, Soja und andere Nutzpflanzen ganz erheblich, weil sie diesen Wasser und Nährstoffe gewissermaßen vor der Nase wegschnappen kann.
Lange unentdeckt durch Latenzphase
Auf ein weiteres Beispiel, von dem hierzulande immer mehr Heuschnupfenallergiker betroffen sind, nämlich das Beifußblättrige Traubenkraut, machte der österreichische Ökologe Franz Essl im ZDF aufmerksam: „Ursprünglich war diese einjährige Pflanzenart heimisch in Nordamerika. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie nach Deutschland eingeschleppt, hat sich aber in den ersten Jahrzehnten völlig unauffällig verhalten. Erst in den letzten 20 bis 25 Jahren hat sich diese wärmeliebende Art in ganz Mitteleuropa massiv ausgeweitet.“ Allgemein konnten die Wissenschaftler ermitteln, dass lange Verzögerungszeiten von mehr als 100 Jahren eher bei mehrjährigen Pflanzen und seltener bei selbstbestäubenden Arten aufgetreten waren. „Je länger die Pflanzen inaktiv sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir sie ignorieren“, so Prof. Mesgaran, „diese Latenz ist dafür verantwortlich, dass wir sie übersehen, was dazu beiträgt, dass sie schließlich zu einer ernsthaften invasiven Bedrohung werden können. Sie sind wie invasive Zeitbomben.“
Die Forscher konnten auch einen ganz zentralen Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und den Verzögerungsphasen invasiver Pflanzen aufzeigen. Bei 98 Prozent der Arten mit Schlummermodus hatten sich die Klimaräume beziehungsweise die klimatischen Bedingungen zwischen dem Beginn der Verzögerungsperiode und der Phase der starken Ausbreitung mehr oder weniger stark verändert. Die Pflanzen hatten gewissermaßen in aller Ruhe abgewartet, bis sich die Bedingungen so zu ihren Gunsten verändert hatten, dass sie munter drauflos wachsen konnten. „Das Problem ist, dass die meisten Modelle, die wir für die Risikobewertung haben, um voraussagen zu können, ob eine Art invasiv sein wird und künftig ein Schädlingspotenzial haben kann, die Verzögerungs- oder Ruhephasen nicht berücksichtigen. Dabei ist die Zeit davor gewissermaßen nur die Ruhe vor dem Sturm“, so Prof. Mesgaran. Da das Fortschreiten des Klimawandels zu einer Verschiebung der Klimazonen führen kann, könnte diese Entwicklung künftig die Verbreitung von invasiven Pflanzenarten erheblich beeinflussen.
Nichtheimische Arten werden laut den Wissenschaftlern vor allem auf zwei Arten eingeschleppt, entweder ganz zufällig oder durch absichtliche Einfuhr zu medizinischen, dekorativen oder landwirtschaftlichen Zwecken. In Kalifornien beispielsweise seien etwa 65 Prozent der invasiven Pflanzen ganz wissentlich eingeführt worden. „Mit einer weiteren Zunahme des Handels, des Transports und des Tourismus wird das Problem invasiver Pflanzen künftig noch größer werden“, so Prof. Mesgaran. Das Forschungsteam konnte keine verbindliche Aussage darüber treffen, warum manche Pflanzen eine Verzögerungsphase eingelegt hatten und andere nicht. „Eine Verzögerungsphase könnte beispielsweise auf eine lange Generationszeit zurückzuführen sein“, so das Forscherteam, „oder die Zeit widerspiegeln, die für die Anpassung benötigt wird, damit die Art neue Umgebungen kolonisieren kann.“ Dennoch sei es von elementarer Bedeutung, genau die Gründe für die Ausbildung und das abrupte Ende dieser Verzögerungszeiten zu erforschen. Weil nur durch Kenntnis des Auslösers für die sprunghafte Ausbreitung diese wirksam bekämpft werden könne. „Die Verzögerungsphasen maskieren, was sich in der Zukunft abspielen kann“, so Franz Essl gegenüber dem ZDF. „Wobei aber nur am Anfang, wenn man Gegenmaßnahmen setzen möchte, echte Chancen auf einen Erfolg bestehen, solange die Vorkommen noch klein sind.“