Das Kindeswohl ist ein hohes Gut hierzulande – das durch Programme, Behörden und Träger geschützt wird. Trotzdem hakt es an vielen Stellen. Martina Huxoll-von Ahn, stellvertretende Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes, im Interview.
Frau Huxoll-von Ahn, der Begriff „Kindeswohl“ ist nicht genau definiert. Er meint das Wohlergehen von jungen Menschen und dass sie sich auf gesunde Weise entwickeln können. Deckt sich das mit Ihrem Verständnis?
Wichtig ist zunächst zu erwähnen, dass der Begriff „Kindeswohl“ oft in den Debatten zum Thema Kinderschutz verwendet wird, aber nicht abschließend einheitlich definiert ist. Auch wenn die Familiengerichte beispielsweise viel mit diesem Thema zu tun haben und den Begriff benutzen, gibt es bisher keine genaue juristische Eingrenzung, was das Kindeswohl ist. Natürlich meint er das Wohlergehen von jungen Menschen und die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen: Im Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention heißt es in der englischen Fassung „best interest of the child“. Diese Formulierung wird sehr oft mit „Wohl des Kindes“ übersetzt.
Von Kindeswohlgefährdung spricht man in verschiedenen Fällen von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung des Kindes oder des Jugendlichen. Wie schützt man das Kindeswohl am besten?
Wenn wir von Kindeswohlgefährdung sprechen, dann sprechen wir in der Tat von Kindesvernachlässigung, wir sprechen über sexualisierte Gewalt und über psychische und physische Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen. Auch gibt es immer wieder Fälle von häuslicher und elterlicher Partnergewalt, wo Kinder sozusagen die Zeugen sind, ohne dabei selbst misshandelt zu werden. Wenn es Anzeichen dafür gibt – das gilt insbesondere für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, Ärztinnen und Ärzte, Lehrerinnen und Lehrer – muss ihnen nachgegangen werden. Danach muss geprüft werden, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Nach einer Beratung durch eine Fachkraft müssen alle Beteiligten schauen, was sie kraft eigener Möglichkeiten leisten können, um diese Kindeswohlgefährdung abzustellen. Erst wenn alle nicht mehr weiterkommen, sollte das Jugendamt einbezogen werden.
Wie kann Prävention weiterentwickelt werden, einen neuen Ansatz erhalten?
Ich glaube, dass alle in ihren Kontexten aufgefordert sind, aufmerksam zu sein. Dafür muss man sensibilisieren, man muss Fachpersonal schulen und qualifizieren – gleich, ob ehrenamtlich oder hauptberuflich Tätige. Darüber hinaus gibt es auch kommunale und bundesweite Präventionsprogramme. Viele dieser Programme fokussieren leider nur auf den Bereich der sexualisierten Gewalt und nicht auf alle Formen der Gewalt.
Welche bundesweiten Programme gibt es im Einzelnen?
Das Bundesfamilienministerium hat vor Kurzem die Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg!“ gestartet. Der Bund will darauf aufmerksam machen, dass gerade sexualisierte Gewalt zumeist im familiären Nahraum passiert. Des Weiteren gibt es die Initiative „Trau dich!“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Über ein Theaterstück versucht die BZgA, in Zusammenarbeit mit den Bundesländern, Schulen zu erreichen.
Wie können im Familienalltag die Kinderrechte gewahrt werden?
Der Kinderschutzbund hat vor mehr als einem Vierteljahrhundert den Elternkurs „Starke Eltern – Starke Kinder“ initiiert. Seitdem wird der Kurs nicht nur beim Kinderschutzbund angeboten, sondern auch bei vielen anderen Trägern. In dem Kurs lernen Eltern, besser in der Familie klarzukommen, die Kinderrechte zu berücksichtigen und zum Beispiel gewaltfrei Konflikte zu lösen. Daneben haben wir, der Kinderschutzbund Bundesverband, die Kampagne „Gewalt ist mehr, als du denkst“ ins Leben gerufen, wo wir unter anderem ein Bewusstsein für die psychische Gewalt unter anderem in der Familie, in Schule und im Sportverein schaffen wollen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Es gibt nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler unangemessen ansprechen und abwertende Bemerkungen machen. In aller Regel haben die Betroffenen in der Schule wenig Möglichkeiten, eine Beschwerde einzulegen. Oftmals ist nicht die Sensibilität für das Thema gegeben. Von erfreulichen Ausnahmen abgesehen werden tendenziell in der Schule junge Menschen und ihre Bedürfnisse nicht besonders ernst genommen.
Nach Daten des Statistischen Bundesamtes meldeten die Jugendämter im Jahr 2022 rund 62.300 Kindeswohlgefährdungen – das waren vier Prozent beziehungsweise 2.300 Fälle mehr als 2021. Wie bewerten Sie diesen hohen Anstieg?
Wir müssen zwei Dinge unterscheiden. Zur Frage, welche Formen der Gewalt wie viele Kinder erleben, gibt es – außer zum Thema sexualisierter Gewalt – zurzeit keine verlässliche Forschung. Deshalb liegen uns – abgesehen von Dunkelfeldstudien – keine Zahlen vor. Die Statistik der von den Jugendämtern gemeldeten Kindeswohlgefährdungen sagt wenig über die Zahl der insgesamt betroffenen Kinder und Jugendlichen aus. Die Statistik sagt auch, dass sich in circa einem Drittel der Fälle keine Kindeswohlgefährdung bestätigte. In einem weiteren Drittel der Fälle lag zwar keine Kindeswohlgefährdung vor, aber die betreffende Familie hatte einen erkennbaren Hilfebedarf. In einem Drittel der Fälle bestätigte sich eine Kindeswohlgefährdung. Die mehr gemeldeten Fälle sind noch kein Beleg dafür, dass mehr Kinder und Jugendliche betroffen sind und kann genauso gut anderen Tatsachen geschuldet sein. Vielmehr glaube ich, dass die Aufmerksamkeit in Einrichtungen, die Kinder besuchen, im Gesundheitswesen und in der Nachbarschaft gestiegen ist.
Die kommunalen Jugendämter nehmen quasi eine staatliche Wächterfunktion wahr und sind für den Schutz des Kindeswohls zuständig. Sie müssen reagieren, wenn eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung vorliegt …
Auf der einen Seite ist das richtig. Doch es gibt den Paragrafen 8a im SGB VIII. Danach sind auch die freien Träger wie zum Beispiel der Kinderschutzbund genauso gefordert wie die Jugendämter, Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung nachzugehen. Das Jugendamt mit seiner Wächterfunktion kommt erst dann ins Spiel, wenn bei einem freien Träger die Möglichkeiten erschöpft sind.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen dem Kinderschutzbund und den Jugendämtern?
Es gibt ganz unterschiedliche Bezüge vor Ort, denn der Kinderschutzbund und andere freie Träger erbringen viele Jugendhilfeleistungen. Der Betreiber einer Heimeinrichtung ist in aller Regel nicht das Jugendamt, sondern ein freier Träger im Auftrag des Jugendamtes. Das gilt für ganz verschiedene Leistungspakete, sodass es sowieso an vielen Stellen eine Kooperation zwischen den Jugendämtern und freien Trägern gibt. Man darf nur nicht vergessen: Wir haben knapp 600 Jugendämter in Deutschland, die alle auf der gleichen gesetzlichen Grundlage arbeiten, jedoch ist die Ausgestaltung und Umsetzung höchst unterschiedlich.
Höre ich Kritik in Ihrer letzten Aussage?
Gerade im Kinderschutz weiß heute jeder, dass kaum eine Person allein gute Arbeit leisten kann. Daher ist es immer das Gebot, mit anderen zusammenzuwirken und natürlich auch in Fällen, wo zum Beispiel andere ins Spiel kommen, wie Kinderärztinnen oder Kinderärzte. Das klappt mancherorts besser, mancherorts schlechter und manchmal hängt es auch an Personen.
Die Digitalisierung beschleunigt die Entwicklung elektronischer Dokumentations- und Risikoeinschätzungssysteme. Das soll Chancen bieten und zugleich die Akteure vor Herausforderungen stellen. Wie schätzen Sie das ein?
Ich finde diese Risikoeinschätzungssysteme hilfreich, um auf bestimmte Aspekte für Fachkräfte hinzuweisen, wo man genauer hinschauen sollte. Allerdings habe ich ein großes Problem mit dem Wunsch einiger Fachkräfte in Jugendämtern, wenn der digitale Risikoeinschätzungsbogen allein dafür verwendet wird, um einen Hilfeplan zu erstellen. Ich glaube, dass wir in der Kinder- und Jugendhilfe nicht ohne sozialpädagogisches Fallverständnis klarkommen. Wir brauchen auch ein Stück weit persönliche Eindrücke, der Computer kann uns das nicht abnehmen.