Das Deutsche Kinderhilfswerk richtet seit 1989 den Weltkindertag in Deutschland gemeinsam mit der Unicef aus. Geschäftsführer Holger Hofmann spricht über die Bedeutung dieses 20. Septembers, warum Kinder in den Mittelpunkt des politischen Handelns gehören und welche Rolle Demokratiebildung spielt.

Herr Hofmann, der Weltkindertag feiert bereits sein 70. Jubiläum. Hat sich denn in diesen 70 Jahren aus Ihrer Sicht genug für Kinder getan?
Wir haben deutliche Fortschritte bei den Kinderrechten erzielt, beispielsweise beim Thema Schutz vor Gewalt, gerade auch im Elternhaus. Hier gibt es mittlerweile die Eingriffsrechte des Staates und die Verpflichtung der Eltern, ihre Fürsorge so zu gestalten, dass die Kinder keinen Schaden nehmen. Wir haben inzwischen in vielen Bundesländern aber auch gesetzliche Verpflichtungen zu Beteiligungsrechten etabliert. Das ist wichtig, denn wir brauchen für die Initiativen von Kindern und Jugendlichen, wie zum Beispiel den Kinder- und Jugendparlamenten, klare Rahmenbedingungen. Aber das ist bundesweit immer noch ein Flickenteppich. In einigen Bundesländern haben wir konkrete Rechte dazu, in anderen Bundesländern fehlt das.
Dann das Thema Förderung, neben Teilhabe und Schutz eine Säule der Kinderrechte. Hier muss man sehen, dass wir in den letzten Jahren Krisen erlebt haben. Die Corona-Pandemie, aber auch die Bildungskrise, die Kriege in der Welt, die die Kinder in besonderer Weise belasten. Da muss man sagen, dass wir nicht nur keine Fortschritte gemacht, sondern die Kinder systematisch vernachlässigt haben.
Das Deutsche Kinderhilfswerk ist seit 1989 gemeinsam mit Unicef Initiator des Weltkindertags. Wie kam es dazu?
Gemeinsam mit Unicef haben wir uns dazu verpflichtet gesehen, den Weltkindertag in Deutschland bekannter zu machen. Die Kinderrechte gibt es zwar weltweit schon seit 1969, aber sie waren in Deutschland lange relativ unbekannt. Man muss leider sagen, das sind sie selbst heute noch. Der Weltkindertag soll dazu dienen, die UN-Kinderrechtskonvention und die Bedeutung von Kindheit als eigenständige Lebensphase zu unterstreichen und in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Dazu organisieren wir gemeinsam mit Unicef am Weltkindertag in vielen Kommunen Veranstaltungen. Aber auch Schulen können sich beispielsweise durch Spendenläufe eigenständig engagieren. Wir freuen uns, dass es überall Menschen gibt, die sich für Kinderrechte interessieren und sich darüber informieren.
Das aktuelle Motto lautet „Mit Kinderrechten in die Zukunft“ …
Kinder sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Sie dürfen aber zum Beispiel nicht an Wahlen teilnehmen. Dadurch fehlt ihnen ein wichtiges Instrument politischer Mitbestimmung. Gleichzeitig sind sie aber von dem, was in der Politik entschieden wird – Umweltschutz oder Entwicklung des Staates in der Zukunft – besonders betroffen. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit ihnen gemeinsam diese Zukunft gestalten, sie anhören und ihnen ein Mitspracherecht geben. Darüber hinaus muss man natürlich sagen: Je mehr eine Gruppe in der Gesellschaft ein Mitspracherecht hat, desto stärker fühlt sie sich auch gesellschaftlich verantwortlich. Wir brauchen die Kinder für die Gestaltung der Zukunft, denn die Krisen werden nicht geringer und die Aufgabe, diese Krisen in Zukunft zu bewältigen, wird größer.
Trotzdem sind die Kinderrechte ja nicht im Grundgesetz verankert …
Ja, leider. Wir kämpfen schon seit vielen Jahren darum, dass die Kinderrechte endlich im Grundgesetz verankert werden. Wir treffen in Deutschland auf ein Verständnis, dass es vor allem die Eltern sind, die für die Rechte ihrer Kinder streiten sollen. Wir vergessen dabei aber, dass Kinder eben auch als eigenständige Gruppe in der Gesellschaft wahrgenommen werden müssen, und der Staat ihnen eigenständige Rechte, unabhängig davon, wie ihre Eltern für sie eintreten, zugestehen sollte. Gerade beim Grundgesetz handelt es sich um ein Instrument, das die Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger bestimmt. Kinder sind auch Bürgerinnen und Bürger und sie müssen spezielle Abwehrrechte haben, die ihrem Alter entsprechen.
Wie sieht es da in anderen EU-Ländern aus?
Gerechterweise muss man sagen, dass ein Vergleich schwierig ist, denn die Grundgesetze sind nicht in allen EU-Ländern gleich. Dennoch: In anderen Verfassungen sind die Kinderrechte tatsächlich stärker verankert. Gerade in den skandinavischen Ländern besteht eine einklagbare verfassungsrechtliche Grundlage auch für Kinder. Damit einher gehen Institutionen, die eine Verantwortung für die Einhaltung der Kinderrechte übernehmen. Dazu gehören Kinderrechtsbeauftragte, die sich darum kümmern, dass die Interessen von Kindern nicht unter den Tisch fallen. In Deutschland haben viele Gruppen bestimmte Beauftragte, die für ihre Interessen streiten. Bei den Kindern überlässt man das der Zivilgesellschaft, den Familienministerien und Jugendämtern. Aber Kinderrechtsbeauftragte und gleichzeitig eine deutlichere Verankerung von Mitspracherechten von Kindern auf der kommunalen oder auf der Landesebene wären wünschenswert.
Bleiben wir in der Bundespolitik: Die Debatte um die Kindergrundsicherung will nicht enden. Wie sehen Sie das?
Es ist sehr bestürzend, dass wir seit Jahrzehnten eine sehr hohe Kinderarmut in Deutschland haben. Jedes sechste oder sogar fünfte Kind, je nach aktueller Berechnung, ist von Armut betroffen. Wir nehmen das auf die leichte Schulter, sehen eben nicht, dass damit natürlich konkrete Einschränkungen verbunden sind. Etwa beim Thema Bildung oder beim Thema Entwicklungschancen. Darunter leiden letztendlich zukünftige Entwicklungen, egal ob im Wirtschafts- oder im Bildungsbereich. Wir gestatten, dass ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft sich nicht so entwickeln kann, wie er es könnte, wenn wir uns entschiedener dafür einsetzen würden. Dazu muss man sagen, dass Kinderarmut weit mehr ist als nur die materielle Absicherung in den Familien. Es geht dabei auch um Bildung, Gesundheit und soziale Teilhabe. Wir müssen mehr dafür tun. Und das heißt, ein ganzheitliches Konzept entwickeln, damit Kinder sich gut entwickeln und aufwachsen können. Wir tun hierfür erstaunlicherweise bisher sehr, sehr wenig.
Sie haben es eben schon am Rande angesprochen: Die UN-Kinderrechtskonvention ist auf drei Säulen aufgebaut: das Recht auf Schutz, auf Beteiligung und auf Förderung. Was bedeutet das genau und wie hängen diese drei Punkte zusammen?
Die drei Säulen der UN-Kinderrechtskonvention bezeichnen erst einmal die grundsätzlichen entwicklungsbegünstigenden Faktoren für Kinder. Kinder müssen gefördert werden, beispielsweise beim Thema Bildung. Sie müssen geschützt werden, beispielsweise vor Gewalt. Und sie brauchen konkrete Beteiligungsrechte. Dieses Konstrukt, ich nenne es mal das „Gebäude der Kinderrechte“, hat zusätzlich noch ein Dach, der Vorrang des Kindeswohls nach Artikel 3 UN-Kinderrechtskonvention. Dieser besagt, dass wir bei allem, was wir tun – staatlicherseits, aber auch in den Organisationen oder in der Zivilgesellschaft – prüfen müssen, ob es dem Kindeswohl dienlich ist. Dies muss ein Grundprinzip bei allem staatlichen Handeln sein.
Eine Forderung des Deutschen Kinderhilfswerkes ist „eine kinderfreundliche Gesellschaft, in der die Kinder ihre Interessen selbst vertreten“. Was heißt das konkret?
Wir nehmen die Kinder und Jugendlichen viel zu wenig als Expertinnen und Experten für ihre eigene Lebenswelt wahr. Das heißt, gerade bei den Dingen, die sie selbst betreffen, müssen wir sie konsequent beteiligen und anhören, egal ob zum Thema Spielplatz, Unterricht in der Schule, öffentlichem Nahverkehr oder auch zum Thema Umwelt. Wir wissen, dass Kinder eine sehr hohe Sensibilität haben. Sie haben eine eigene Perspektive auf diese Themen, die nicht immer mit der Perspektive der Erwachsenen gleichzusetzen ist. Es ist wichtig, dass wir Erwachsenen diese Perspektive in unseren Entscheidungen nicht übersehen und berücksichtigen, was Kinder für ein gutes Aufwachsen brauchen.
Demokratiebildung ist ja auch ein großes Thema beim Deutschen Kinderhilfswerk. Warum ist das bereits in jungen Jahren so bedeutend?
Demokratie ist etwas, was wir jeden Tag gestalten müssen und wofür wir uns jeden Tag einsetzen müssen. Sie ist nichts, was sich von selbst entwickelt. Es gibt diesen schönen Ausspruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Das gilt eben auch für die Demokratiefähigkeit. Wir dürfen nicht erst anfangen, über Demokratiefähigkeit zu sprechen, wenn die Menschen 18 Jahre alt sind und sozusagen Gebrauch von politischer Mitbestimmung, beispielsweise bei Wahlen, machen. Das heißt eben auch, Kinder früh genug in ihrer Rolle in der Gesellschaft ernst zu nehmen und ihre Meinung anzuerkennen. Demokratie hat viel damit zu tun, Respekt im Miteinander zu entwickeln. Respekt entsteht, indem ich selbst respektiert und gehört werde. Wir brauchen weiterhin in der Schule einen Politikunterricht, der eine gute Qualität besitzt. Wir haben lange Jahre erlebt, dass die MINT-Fächer im Vordergrund standen und der Politikunterricht teilweise sehr stark fachfremd unterrichtet wird. Das kann nicht sein. Wenn die Jugendlichen erst einmal die Schule beendet haben, haben wir gar keinen Einfluss mehr, ihnen politische Bildung zukommen zu lassen. Deshalb müssen wir diese Bildungsorte – von der Kita an über die Schulen bis zur Berufsausbildung – stärker nutzen.
Welche Aufgaben hat das Deutsche Kinderhilfswerk darüber hinaus noch?
Wir sehen uns als Wegbereiter dafür, dass Kinder und Jugendliche ihre Stimme äußern können. Wir unterstützen zum Beispiel Kinder- und Jugendparlamente, damit diese erhalten bleiben und sich gut entwickeln. Wir streiten aber auch dort für ihre Interessen, wo Kinder es nicht selbst können, wie auf Bundesebene. Das besondere Merkmal des Deutschen Kinderhilfswerkes ist es, dass wir nicht nur für bessere Rahmenbedingungen sorgen, sondern Kindern auch ganz konkret helfen. Wir sind eine Spendenorganisation und mit den Geldern, die wir bekommen, fördern wir Projekte für Kinder und Jugendliche direkt vor Ort.
2015 hat das Deutsche Kinderhilfswerk zudem eine eigene Stiftung ins Leben gerufen.
Ja, da geht es ein Stück weit um finanzielle Aspekte. Als Verein sind wir dazu verpflichtet, unsere Mittel sehr zeitnah einzusetzen. Das ist auch für viele Spenderinnen und Spender ein wichtiges Anliegen. Es gibt aber auch Menschen, die gerne nachhaltiger unterwegs sein möchten und dem Deutschen Kinderhilfswerk ermöglichen wollen, langfristige Projekte für Kinder und Jugendliche aufzulegen. Wir haben beispielsweise sogenannte Kinderhäuser in ganz Deutschland. Durch unsere Stiftung und die damit verbundene Möglichkeit, Geld anzulegen, können wir diesen Einrichtungen die Zusage auf eine langfristige Förderung geben. Was sich Kinder und Jugendliche sehr stark wünschen, sind Beziehungspersonen außerhalb des Elternhauses, an die sie sich wenden können. Diese Beziehungspersonen lassen sich nur schlecht über laufende Projekte finanzieren, sondern brauchen eine vertragliche, nachhaltige Absicherung.
Blicken wir zum Abschluss doch mal in die Glaskugel: Stellen Sie sich vor, wir treffen uns zum 100. Jubiläum des Weltkindertags wieder. Was muss sich in den kommenden 30 Jahren getan haben?
Wir müssen dahin zurück, wo wir mit den Kinderrechten gestartet sind. Wir müssen wieder sehen, dass es eine der wichtigsten Aufgaben für uns als Erwachsene ist, dafür zu sorgen, dass Kinder gute Bedingungen für ihr Aufwachsen haben. Ich denke, dass das vielen aus dem Bewusstsein geraten ist. Wenn dieses Bewusstsein zum 100. Geburtstag des Weltkindertags in unserer Gesellschaft weit verbreitet wäre, dann glaube ich, wäre das wichtigste Ziel erreicht.

Und wie kommt man dahin?
Wir kommen dahin, indem wir zunächst die Kinderrechte im Grundgesetz absichern. Aber das wird allein nicht helfen. Wir brauchen eine klare Vorstellung und klare Bestimmungen dafür, wie viel Geld wir in Bildung investieren und wie viel in gutes Aufwachsen. Die Lobby für Kinder und Jugendliche ist einfach nicht so stark wie beispielsweise die bei Wirtschaftsverbänden. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass über Instrumente wie Kinderrechtsbeauftragte, eine starke Kinderkommission oder ausgeprägte Beschwerdewege für Kinder und Jugendliche diese im Mittelpunkt des politischen Handelns stehen und nicht nur punktuell Berücksichtigung finden. Es gibt immer wieder das Lippenbekenntnis „Kinder sind das Wichtigste, was wir haben“. Politisch wird danach aber nicht gehandelt – und das muss sich ändern!