Moderne Fahrzeuge sind mit unzähligen Kameras und Sensoren ausgestattet, um Hindernisse aufzuspüren. Nur Geräusche erkennen sie bislang nicht. Eine Gruppe von Wissenschaftlern will das ändern.
Wenn Autos Menschen wären, bräuchten sie keine Brille. Dank zahlreicher Sensoren, Radaranlagen und Videokameras „sehen“ moderne Fahrzeuge so gut, dass sie automatisch Abstand halten, die Spur wechseln und im Notfall sogar bremsen können. Nach einem Unfall lassen sich die Aufzeichnungen als Beweismittel heranziehen, und selbst Insassen werden immer öfter „im Auge“ behalten. So wachen Innenraumkameras darüber, dass Fahrerinnen und Fahrer auch wirklich auf die Straße schauen – und nicht etwa aufs Handy.
Doch so ausgeprägt ihr Sehsinn auch ist, so schwer tun sich Autos mit dem Hören. Mit Ausnahme von bestimmten Sprachbefehlen – „Navigiere mich nach Hause“ – können die Bordsysteme keine Geräusche verarbeiten. Im Außenbereich sind sie sogar komplett taub, weil dort bislang keinerlei Mikrofone verbaut werden.
Autos sollen Sirenen erkennen
„Dabei gäbe es viele Anwendungsmöglichkeiten“, sagt Moritz Brandes, der am Fraunhofer-Institut IDMT in Oldenburg das Projekt „The Hearing Car“ leitet. Die Arbeit seines Teams begann im Jahr 2014 mit einem banalen Auftrag: „Ein Hersteller kam auf uns zu und wollte wissen, wie man eine Heckklappe von außen per Sprache öffnen kann“, erinnert sich Brandes. Er baute drei Demonstrationsobjekte, die es am Ende aber nicht in die Serienproduktion schafften: „Heute gibt es so etwas nur in China, und es ist leider nicht unser Produkt.“
Heute arbeitet seine Gruppe an einem anderen, für die Verkehrssicherheit weitaus relevanteren Projekt: Autos sollen Sirenen erkennen. Nähert sich die Polizei, Feuerwehr oder ein Krankenwagen, erscheint auf dem Bildschirm oder im Head-up-Display eine Warnmeldung. Im Idealfall fährt das Auto sogar selbstständig zur Seite, Stichwort: autonomes Fahren. „So weit sind wir noch nicht“, räumt Brandes ein. „Aber die Erkennung der Sirene klappt schon sehr gut.“ Laut Brandes liegt die Erkennungsquote derzeit zwischen 95 und 98 Prozent, abhängig von der Geschwindigkeit des Fahrzeugs.
An einem alten VW-Bus, Baujahr 2014, verfeinern die Wissenschaftler ihre Entwicklung. Insgesamt 23 Mikrofone haben sie, unzählige Kabel verlegt und Laptops angeschlossen. Auch einen Feldversuch hat es schon gegeben: Im August 2022 fuhr das Fraunhofer-Team mit dem VW-Bus über eine zwölf Kilometer lange Teststrecke in Papenburg, begleitet von einem Fahrzeug, das mit Blaulicht und Sirene präpariert war. „Natürlich löst sich da auch mal der Kleber und das Mikro baumelt runter“, erzählt Brandes und lacht. „Solche Rückschläge gehören dazu.“
An konkreten Fragestellungen mangelt es nicht: Wie können die Sensoren die Verwirbelungen ausgleichen, die Wind und Reifengeräusche verursachen? Was kann man tun, damit sie auch bei Frost, Regen und in der Waschanlage durchhalten? Und wo müssen die Mikros überhaupt sitzen? „Solche Dinge sind immer von der Fahrzeug-Geometrie abhängig“, sagt Brandes. „Generell ist eine hochgesetzte Position attraktiver, weil man vom Fahrgeräusch wegkommt und auch die Sirenen eher oben sitzen.“
Ein weiterer Punkt: unterschiedliche Sirenenklänge. Selbst in der EU unterscheidet sich das Jaulen der Martinshörner; das deutsche „Tatütata“ ist längst nicht überall Standard. Und dann ist da noch die Software-Frage: Wo werden die Informationen, die die Sensoren sammeln, überhaupt eingespielt? Welches Steuergerät verarbeitet sie? Fragen über Fragen, die geklärt werden müssen, bevor die ersten Serienautos tatsächlich hören können. Brandes hofft, dass es innerhalb von fünf Jahren so weit ist.
Das Fraunhofer-Institut in Oldenburg ist nicht die einzige Forschungseinrichtung, die daran arbeitet. Der Autozulieferer Bosch hat im Jahr 2021 sogar einen englischsprachigen Podcast aufgenommen („Siren Detection – Warum Autos Ohren benötigen“). Darin verrät Elektroingenieur Thomas Buck einige Details zu dem von Bosch entwickelten Mikrofon: Dieses sei ein Sensor, wie er auch in Smartphones zum Einsatz kommt – geschützt durch eine Membran, die Schallwellen weiterleitet, aber Schmutz und Wasser fernhält. „Ähnlich wie das Trommelfell in unserem Ohr.“
In diversen Testreihen wurden die Prototypen mit Öl, Benzin, Wasserstrahlen und kleinen Steinen traktiert. Das Ergebnis: „Dank der Schutzmembran widersteht unser Sensor nun all diesen Beanspruchungen und funktioniert dabei äußerst präzise“, sagt Buck im Podcast. Heute, drei Jahre später, scheint der damalige Enthusiasmus verflogen. Nach dem aktuellen Forschungsstand gefragt, sagt eine Bosch-Sprecherin, man konzentriere sich derzeit verstärkt auf Radar-Technologie. Das Interesse der Autohersteller nach den Geräuschsensoren sei nicht so groß gewesen wie erhofft.
Autohersteller sind ambivalent
Eine Anfrage unseres Magazins bei mehreren Autoherstellern, die in Deutschland produzieren, zeigt ein differenziertes Bild. Während VW, Porsche und BMW bestätigen, an akustischen Sensoren zu arbeiten, antwortet Ford mit einem klaren Nein. Mercedes-Benz gibt an, die Innenraum-Mikrofone der Freisprecheinrichtung sowie die Heckkamera zu nutzen, um Einsatzsignale zu erkennen. Opel will sich „zu zukünftigen Technologien grundsätzlich nicht äußern“.
Und wie steht es um den Datenschutz? Immerhin ist vielen Passanten schon heute unwohl, wenn etwa Tesla-Autos mit ihrem „Wächtermodus“ die Außenwelt filmen. Wird künftig auch noch der Ton aufgenommen, könnte das Überwachungsängste verstärken. Fraunhofer-Forscher Brandes kennt die Sorgen. „Wir wollen keine Daten, die wir nicht brauchen“, versichert er. Um das zu erreichen, könne man Stimmen automatisch aus den Umgebungsgeräuschen herausfiltern. Außerdem werde das hörende Auto erst einmal nur für den Autobahngebrauch konzipiert – dort trifft man selten auf Fußgänger, die sich unterhalten.