Rad-Dominator Tadej Pogacar will seine Super-Saison mit dem WM-Titel krönen. Dafür verzichtete er auf einen Olympia-Start. Das Streckenprofil kommt ihm sehr entgegen.

Auf der Internetseite der Stadt Zürich wird die Straßenrad-Weltmeisterschaft als „ein in Velo-Fest für alle“ gepriesen. Das Event sei ein „über den Anlass hinaus bleibendes Vermächtnis beispielsweise in den Bereichen Sport- und Veloförderung und Inklusion“. Erstmals sind die Rennen der Para-Cycler integraler Bestandteil einer WM. Die gerade zu Ende gegangenen Paralympics in Paris haben gezeigt, dass auch dieser Sport begeisterungsfähig ist. Als ein Zeichen der Wertschätzung werden daher alle über 50 Rennen im Herzen Zürichs auf dem Sechseläutenplatz enden, am Ufer des gleichnamigen Sees. Das wiederum führt dazu, dass die Verkehrsbeschränkungen vom 21. bis 29. September rund um den sogenannten City Circuit, dem mehrfach zu befahrenden Rundkurs, enorm sein werden. Das schmälert die Vorfreude vieler Züricher auf die WM doch enorm, wochenlang waren die zu erwartenden Folgen der Straßensperrungen ein großes Aufreger-Thema in der Stadt.
Aufregung bereits vor WM-Start
„Es gibt natürlich schon Leute, die stinksauer sind, das verstehe ich auch“, sagte FDP-Stadtrat Filippo Leutenegger dem SRF: „Aber ich glaube, die Erwartungen sind schlimmer als das, was in der Realität eintreffen wird.“ Manche Anwohner sind genervt von den Einschränkungen, viele Unternehmer befürchten massive Einnahmeverluste. Manche von ihnen haben deswegen für die Zeit der WM gar Betriebsferien angesetzt. Die Straßensperrungen stellen auch Ärzte vor größere Probleme. Sprechstunden und teilweise sogar Operationen müssen verschoben werden, weil Patienten und auch das Personal Probleme mit der Anreise haben. Auch auf die Postzustellung wird das Event negative Auswirkungen haben.
Gestritten wurde auch über Ausnahmegenehmigungen für das Überqueren der abgesperrten Straßen, die Kommunikation gegenüber den Gemeinden wurde kritisiert. Als ein Zeitungsartikel dann auch noch darüber berichtete, dass die Gemeinden gewisse Kosten mittragen müssten, zog erst recht ein Sturm der Entrüstung auf. Drei Kantonsräte stellten sogleich eine Anfrage beim Zürcher Regierungsrat. Es sei ein „Versagen“ des Stadtrats, auf all diese Probleme keine wirklichen Lösungen gefunden zu haben, kommentierte die „Neue Züricher Zeitung“. Der Kommentator meinte zudem: „Es verfestigt sich aber auch eine Erkenntnis, die nicht ganz neu ist: Die Stadt Zürich hat sich mit der Rad-WM übernommen.“
Derlei Aufregung vor einem sportlichen Großereignis ist nicht neu, auch vor den Olympischen Spielen war die Vorfreude bei den Parisern stark unterkühlt. Am Ende machte sich dann aber auch unter den Franzosen eine Euphorie und so etwas wie Stolz über die Gastgeberrolle breit. Ähnliches erhoffen sich auch die Macher der Rad-WM, die nach 1923, 1929 und 1946 zum vierten Mal in der Region Zürich stattfindet. Die Titelkämpfe sind der letzte große Rad-Wettbewerb einer Super-Saison, die inklusive der Sommerspiele reich an Höhepunkten war. Und die einen eindeutigen Superstar hat: Tadej Pogacar. Der Slowene triumphierte als achter Fahrer insgesamt und als erster seit Marco Pantani 1998 bei den beiden Grand Tours Giro d‘Italia und Tour de France. Doch der 25-Jährige hat längst noch nicht genug, der Titel im WM-Straßenrennen am 29. September bleibt ihm noch als Ziel, um eine schon jetzt herausragende Saison zu krönen.
„Das Regenbogentrikot steht Mathieu van der Poel wirklich sehr gut“, sagte Pogacar über den Titelverteidiger aus den Niederlanden, „aber ich will es ihm wegnehmen“. Es sei schon länger sein Traum, bei einem WM-Rennen ganz oben auf dem Treppchen zu stehen und die slowenische Nationalhymne zu hören. „Ich will dieses Trikot einmal tragen, aber dafür bleibt noch Zeit.“ Im Vorjahr bei der WM in Glasgow reichte es für den dreimaligen Tour-de-France-Gewinner zu Bronze hinter van der Poel und Silbermedaillengewinner Wout van Aert. Diesmal ist die Streckenführung aber deutlich anspruchsvoller, sie kommt Bergfahrern wie Pogacar entgegen. Beim anspruchsvollen 273,9 Kilometer langen Straßenrennen müssen 4.470 Höhenmeter bewältigt werden.
Für sein WM-Ziel verzichtete der slowenische Tour-Dominator, der bei der Frankreich-Rundfahrt seine Extraklasse bewies und die Rivalen Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel deutlich distanzierte, auch auf einen Olympiastart. Er begründete diese Entscheidung mit einer Müdigkeit, die nicht nur seine Beine erfasst hatte: „Die letzten vier Monate waren verrückt für mich. Vorbereitung auf den Giro, dann den Giro fahren. Vorbereitung auf die Tour, dann die Tour fahren. Zwischendurch ist mein Großvater gestorben.“ Er habe sich zu Hause ausruhen und neue Kraft tanken wollen. „Denn ich will mich noch auf die Weltmeisterschaft vorbereiten“.
WM-Generalprobe in Kanada
Nach ein paar Tagen Auszeit mit seiner Verlobten Urska Zigart, die vom slowenischen Radsportverband sehr zur Verärgerung von Pogacar nicht für Olympia nominiert worden war, stieg der Profi schon wieder aufs Rad. Beharrlich erklomm er im Training in seiner Wahlheimat die Pässe im Hinterland von Monte Carlo und Nizza, Mitte September standen für ihn als WM-Generalprobe die Kanada-Rennen in Quebec und Montreal an. Pogacars direkt nach dem Tour-Sieg verkündeter Plan scheint aufzugehen: „Es wäre die Kirsche auf dem Kuchen, wenn ich einen sehr angenehmen August hätte, mich ein bisschen entspannen könnte und mich dann ideal auf die WM vorbereiten könnte und dort alles geben kann.“
An Motivation dürfte es ihm trotz seiner überragenden Saisonbilanz von über 20 Siegen auf der World Tour nicht mangeln. Schließlich würde der WM-Triumph ihm zur wohl besten Saison verhelfen, die je ein Radrennfahrer absolviert hat. Allgemein wird dies bislang Eddy Merckx zugeschrieben, das belgische Rad-Idol gewann 1972 ebenfalls das Giro-Tour-Double, dazu triumphierte er bei drei Monumenten des Radsports (Mailand-San Remo, Lüttich-Bastogne-Lüttich und die Lombardei-Rundfahrt) und stellte einen Stundenweltrekord auf. Merckx bekam wegen seiner Unersättlichkeit auf Rekorde und Titel einst den Spitznamen „Kannibale“ verpasst, und auch Pogacar wurde so schon in Medien genannt. Doch dem gefällt das ganz und gar nicht. „Ein Kannibale? Der isst Menschenfleisch! Ich esse Süßigkeiten im Ziel und Gels und Riegel auf dem Rad“, sagte er darauf angesprochen: „Lassen Sie uns nicht über Kannibalismus sprechen. Das ist nicht so schön.“
Bleibt die Frage: Wer kann diesen Tadej Pogacar in der aktuellen Ausnahmeform überhaupt stoppen? Auf einem Streckenprofil, das wie für ihn geschaffen scheint? Als härtester Widersacher gilt Evenepoel, der sich in Abwesenheit von Pogacar in Paris zum Doppel-Olympiasieger krönte. „Die vergangenen Monate waren ein toller Teil meiner Karriere. Und als erster Mann sowohl im Zeitfahren als auch im Straßenrennen Gold gewonnen zu haben, ist ein Traum“, sagte der 24-Jährige vom Team Soudal-Quick-Step, der seit Wochen mit dem Red-Bull-Rennstall in Verbindung gebracht wird. Evenepoels Chancen auf Gold sind allerdings beim Zeitfahren am 22. September besser, hier geht der Belgier auch als Titelverteidiger an den Start.
„Wenn ich Kind wäre, wäre er mein Idol“
Im Straßenrennen, bei dem der 27 Kilometer lange Rundkurs um die Stadt mit drei teils extremen Anstiegen siebenmal befahren wird, darf van der Poel das Regenbogen-Trikot als Vorjahressieger tragen. Ein letztes Mal – wenn es nach Pogacar geht. Dabei habe er persönlich nichts gegen den amtierenden Champion, er hält ihn gar für einen „super netten Kerl“. Und nicht nur das: Auch sportlich hat Pogacar eine sehr hohe Meinung von Mathieu van der Poel. „Er ist einer der besten Fahrer der Welt“, sagte der Slowene: „Wenn ich heute ein Kind wäre, wäre er mein Idol.“ Van der Poel selbst weiß, dass es angesichts der vielen Anstiege im WM-Rennen schwer wird mit der Titelverteidigung. Doch er will in Zürich seine Außenseiterchancen wahrnehmen. „Sonst würde ich nicht hinfahren. Mir ist klar, dass es schwer wird. Aber den anderen Fahrern wird viel Aufmerksamkeit geschenkt, mir weniger“, sagte der 29-Jährige: „Sie werden mich zwar auch so nicht einfach wegfahren lassen, aber trotzdem ist das mal schön. Ich gehöre nicht zu den großen Favoriten und vielleicht verschafft mir das Raum.“

Diese Außenseiterrolle hätte auch Wout van Aert sehr gut gelegen. Doch der belgische Allrounder musste seine Saison vorzeitig beenden, nachdem er bei der Vuelta auf der 16. Etappe schwer gestürzt war und sich eine Knieverletzung zugezogen hatte. „Er braucht Zeit, um sich von seinem Sturz bei der Vuelta richtig zu erholen“, teilte sein niederländisches Visma-Team mit. Somit kann der 29-Jährige in Zürich eine vermaledeite Saison nicht mehr retten. Schon im März beim Halbklassiker Quer durch Flandern war van Aert gestürzt, was sein Aus für den Giro bedeutete. Bei der Tour de France, die er ohne den erhofften Etappensieg beendete, trat er nicht in Topform an.
Ob Primoz Roglic seinem Landsmann Pogacar im Kampf um WM-Gold gefährlich werden kann, ist fraglich. Der 34-Jährige krönte sich zwar kürzlich durch seinen vierten Vuelta-Triumph zum Rekordsieger der Spanien-Rundfahrt. Doch angesichts der fehlenden Top-Konkurrenz im Kampf um das Rote Trikot bleibt abzuwarten, was dieser Erfolg für die WM bedeutet. Die Gastgeber setzten auf Stefan Küng, Marc Hirschi und Mauro Schmid, die sich zuletzt stark präsentierten. Küng zum Beispiel knöpfte Gesamtsieger Roglic beim Zeitfahren zum Abschluss der Vuelta eine halbe Minute ab. „Ich wollte diesen Sieg unbedingt“, sagte er hinterher, „ich bin ihm lange genug hinterhergefahren“. Noch mehr will Küng den Sieg bei der WM – doch den wollen Pogacar und andere Topstars auch.