Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten können im Ernstfall vor unnötigem Leid bewahren. Ein Interview mit Anästhesist und Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns über wichtige Punkte, Möglichkeiten für Menschen ohne Angehörige – und Sterbehilfe.

Herr Dr. Thöns, 2016 hat der Bundesgerichtshof Millionen von Patientenverfügungen und auch Vorsorgevollmachten für unwirksam erklärt, da deren Inhalt zu ungenau sei. Dies kann für Betroffene bedeuten, dass sie weiterleben müssen, obwohl sie das in dem entsprechenden Zustand keinesfalls möchten. Was gibt es bei Verfügungen zu beachten?
Der Bundesgerichtshof hat in einem wenig wirklichkeitsnahen Urteil festgestellt, dass Patientenverfügungen einerseits sehr konkret die Situation umschreiben müssen, andererseits auch genau benennen müssen, was in den entsprechenden Situationen zu tun oder vielmehr nicht mehr zu tun ist. So wurde etwa die sehr verbreitete christliche Patientenverfügung seinerzeit für unwirksam erklärt. Die meisten Patientenverfügungsformulare beschreiben mittlerweile grundsätzlich vier Situationen.
Welche sind das genau?
Hirnabbauerkrankungen – zum Beispiel Demenz –, Wachkomazustände – neuerdings „Syndrom der reaktionslosen Wachheit“ –, Endzustände chronischer Erkrankungen und die unmittelbare Sterbephase.
In diesen Situationen, die wohl von den meisten Menschen als Situationen angesehen werden, in denen auf künstliche Lebensverlängerung verzichtet werden sollte, müsste man sich – folgt man nun dem Urteil – dezidiert äußern, was gemacht werden soll, oder besser, was nicht. Die meisten Formulare bieten nun einen ganzen Reigen von medizinischen Maßnahmen, angefangen bei der künstlichen Ernährung, der Flüssigkeitszufuhr, der Blutwäsche, der Beatmung, der Transfusion oder Antibiotikagabe. Das ist insofern wirklichkeitsfern, da einerseits die verfügbaren Formulare gar nicht alle abzulehnenden Maßnahmen (zum Beispiel Kunstherzverfahren, Herz-Kreislauf-Medikamente) auflisten. Andererseits ist es doch völlig absurd, eine schlimme Krankheitssituation nicht mehr erleben zu wollen, dann aber eine lebenserhaltende Dialyse oder Kunstherzbehandlung zu bekommen, weil man vergessen hat, das Kästchen anzukreuzen oder die Neulandmethode zu Zeiten des Formulars noch nicht bekannt war.
Die meisten Menschen verwenden immer noch eine Verfügung, die man nur noch ankreuzen, ausdrucken und unterschreiben muss – sind die aktuellen denn nun rechtlich wirksam?
Sicherlich sind mittlerweile viele Formulare rechtlich astrein formuliert und man tappt nicht in die Falle der Unwirksamkeit. Insofern kann ich nur jedem raten, ein anerkanntes Formular zu verwenden und sich nicht selbst in den Formulierungen zu versuchen.
Welche Verfügungen und Vollmachten empfehlen Sie?
Ich empfehle immer die aus dem Bundesjustizministerium oder dem bayerischen Justizministerium, sicherlich sind auch die von Afilio oder der DGHS gut und auf dem rechtlichen Stand. Allen Formularen mangelt es aber an der Wirksamkeit bei schwarzen Schafen. So gibt es im Internet das Statement eines Facharztes einer Intensivstation, der darstellt, dass in den letzten Jahren keine einzige Verfügung zu einer Änderung der Maximaltherapie in dieser Uniklinik führte. Man habe solange an der Verfügung heruminterpretiert, bis wieder Maximalmedizin laufen konnte. Das kann nicht im Sinne der meisten Menschen sein. Ein Beispiel. Viele Verfügungen formulieren: „Wenn infolge einer Gehirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist …“
Da findet sich immer jemand, der eben auch im tiefsten „Wachkoma“ bestimmte Blicke oder Reaktionen als „Kommunikation“ empfindet und behauptet, das Kriterium sei mithin nicht erfüllt, Maximaltherapie soll weiterlaufen. Ich möchte das für mich sicher ausschließen und habe eine Zeitspanne als fünften Punkt in meine Patientenverfügung hineingeschrieben, wie lange ich bereit bin, Maximaltherapie zu akzeptieren: „Wenn ich trotz umfassender ärztlicher Maßnahmen nach acht Wochen Intensivbehandlung (Beatmung oder Vergleichbares) gleichwohl noch kritisch krank bin und meinen Willen immer noch nicht bilden kann“. Unter „chronisch kritisch krank“ versteht man Patienten unter intensivmedizinischer Dauerbehandlung oft mit Mehrorganversagen. Die Aussicht, vor allem bei länger dauernder Beatmungsbehandlung wieder zurück in sein altes Leben zu finden, ist minimal, nach 14-tägiger Beatmung deutlich unter zehn Prozent. Bei längerer Beatmung, älteren und vorerkrankten Patienten sind die Chancen erheblich niedriger. Daher ist es sinnvoll, hier eine individuelle Zeit einzutragen, etwa zwischen zehn Tagen (für sehr alte Menschen mit vielen Vorerkrankungen und sehr schlechten Aussichten) bis ein halbes Jahr für sehr junge, gesunde Menschen. Ebenso sinnvoll ist es, bei schwierigen Entscheidungen eine Zweitmeinung von einem unabhängigen Arzt einzuholen.
Wie sieht es aus, wenn Patientenverfügungen zum Beispiel älter als zehn Jahre sind – muss man diese „erneuern“?
Nach dem Gesetzestext ist eine Patientenverfügung, die ein volljähriger Mensch erstellt, gültig bis zum Widerruf, also „für immer“. Es macht gleichwohl Sinn, alle fünf bis zehn Jahre einmal drüberzuschauen und sie mit aktuellem Datum neu zu unterschreiben, um einerseits zu sehen, ob sie noch mit der aktuellen Lebenssituation übereinstimmt, andererseits entgeht man dem rechtlich zwar falschen, in der Praxis aber oft genutzten Vorwurf: „Die Verfügung ist so alt, da würde sich der Patient heute anders entscheiden“.
Es gibt die Möglichkeit, die Patientenverfügung in das Zentrale Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer einzutragen – hat dies Vorteile?
Im zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer kann man neben Werbung für Notarleistungen eintragen, dass man ein Vorsorgedokument, also etwa eine Betreuungsverfügung, eine Vorsorgevollmacht oder eine Patientenverfügung erstellt hat. Gerichte, die ein Betreuungsverfahren eröffnen, fragen automatisiert ab, ob entsprechende Dokumente eingetragen sind. Und auch dann braucht es einen Vertrauten, der die Originaldokumente vorlegt. Die werden nicht gespeichert. Mithin sind die 23 Euro, die man dafür investiert, in meinen Augen herausgeworfenes Geld. Es braucht in jedem Fall einen Menschen, der die Verfügung umsetzt.
Das Verfahren hilft also nur in Extremsituationen, wenn etwa wirklich kein Angehöriger oder der Vorsorgebevollmächtigte bei einem Unfall ermittelt werden kann in der langen Zeit, bis ein Betreuungsgericht tätig wird. Denn wenn man, wie es normal sein sollte, einen Vorsorgebevollmächtigten hat, wird das Betreuungsgericht ja gar nicht tätig, mithin ist der Eintrag im Regelfall überflüssig.
Welche Rolle spielt eine Vorsorgevollmacht – dürfen Familienangehörige nur mit Vorsorgevollmacht die Patientenverfügung durchsetzen oder darf dies jeder, der auf der Verfügung namentlich vermerkt ist?
Bis 2023 brauchte jeder einen Vorsorgebevollmächtigten, um in Zeiten fehlender Willensfähigkeit rechtswirksame Entscheidungen – etwa über eine Operationseinwilligung, eine Heimunterbringung oder Intensivmedizin – zu treffen. Nun gibt es ein Notvertretungsrecht für Ehepartner. Hier existiert also eine „Notlösung“, in allen anderen Konstellationen (zum Beispiel Kinder, Eltern erwachsener Kinder) braucht es die Vorsorgevollmacht.
Was passiert im Ernstfall, wenn es zwar eine Verfügung, aber keine Vorsorgevollmacht gibt?
Fehlt eine Vorsorgevollmacht, so wird der gewissenhafte Arzt bei fehlender Willensfähigkeit grundsätzlich immer das Betreuungsgericht informieren müssen. Dieses wird einen Betreuer einsetzen, oft wird das Gericht einen nahen Familienangehörigen auswählen. Gibt es einen solchen nicht oder besteht Streit in der Familie, wird ein Berufsbetreuer bestimmt. Das alles ist teuer und lässt sich von vorneherein mit einer Vorsorgevollmacht verhindern: „Vorsorge verhindert Betreuung.“
Wie sieht es bei Menschen mit Patientenverfügung aus, die gar keine Angehörigen haben – woher wissen Ärzte, dass eine Patientenverfügung existiert, und wie können sie sicherstellen, dass im Sinne ihrer Verfügung gehandelt wird?
Es braucht ja keine „Familie“, sondern nur einen zuverlässigen Menschen, dem man zutraut, ehrlich seinen Willen durchzusetzen. Das kann ein Freund oder Nachbar sein. Gibt es gar keinen Vertrauten, kann man sich einen Berufsbetreuer von vornherein aussuchen. Manch ein kostenpflichtiger Verein bietet verschiedene Dienstleistungen, um etwa eine Patientenverfügung bekannt zu machen. In meinen Augen ist ein Ausdruck mangelnder Vorsorge der exorbitante Anstieg der Intensivmedizin im hohen Alter. Denn es gibt immer weniger funktionierende Familienstrukturen, immer mehr Menschen sterben einsam in Institutionen. Dann läuft oft Maximalmedizin bis zum letzten Atemzug. Mittlerweile ist die größte Gruppe der Beatmeten auf Intensivstationen in Deutschland die hochaltrige Gruppe 80+ mit 1,1 Prozent Beatmeten, fast sechsmal mehr als in anderen europäischen Ländern. Auf Platz zwei sind die über 70-Jährigen, Intensivbeatmung ist mithin Altersmedizin. Die Sterblichkeit liegt laut dieser Studie teils über 60 Prozent, man könnte fast sagen „kurz vor dem Tod noch mal das Beatmungsgerät angestellt“. Das Ganze spült sechs Milliarden Euro pro Jahr in die Klinikkassen und macht viel Leid für die Betroffenen. Die Autoren mahnen eine dringende ethische Diskussion an und sprechen von Übertherapie.
Darf man fragen, in welchem Alter Sie Ihre eigene Patientenverfügung gemacht haben?
Ich habe die Dokumente schon als junger Arzt erstellt und immer wieder aktualisiert. Besonders wichtig ist mir, dass ich nicht ein Restleben in schwerer geistiger Behinderung durch die Möglichkeiten der Intensivmedizin erleiden muss. Ich habe mehr Angst vor bleibender geistiger Behinderung als vor dem Tod. Umfragen zufolge haben 90 Prozent der Bevölkerung diese Meinung. Das Absurde ist aber: Medizin wird vor allem dort sehr gut bezahlt, wo man umfangreich die fehlende geistige Steuerung ersetzt: Also etwa Beatmung, bei der schnell mal ein Umsatz in Höhe eines schönen Einfamilienhauses erreicht wird. Das ist für einige „Ärzte“, die an diesen Gewinnen teilnehmen, ein Anreiz, nicht so sehr auf Wunsch und Willen zu achten.
Es gibt bei sehr schweren Hirnverletzungen oder Hirnblutungen einen Eingriff, der die Überlebenschancen deutlich erhöht. Das hat eine große Studie gezeigt. Die Studie zeigte aber auch, dass es in der Gruppe der Nichtoperierten signifikant häufiger zu einer „guten Erholung“ kam. In der Gruppe der Operierten gab es erschreckend häufig Wachkomazustände. Wer bitte würde einem Eingriff zustimmen, bei dem er zwar wahrscheinlicher gerettet würde, aber ein gesundes Überleben unwahrscheinlicher ist?
Deutschland gilt – gerade, wenn man auf Länder wie die Niederlande oder Belgien schaut – als sehr rückschrittlich beim Thema Sterbehilfe. Inwiefern ist Sterbehilfe bei uns möglich?

Seit 2020 ist durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts klargestellt, dass jeder volljährige freiverantwortliche Mensch ein Recht auf freiwillig angebotene Hilfe bei der Selbsttötung hat. Bei seriösen Sterbehilfeorganisationen oder Ärzten wird zunächst diese „Freiverantwortlichkeit“ geprüft, nach Ablauf einer verpflichtenden Wartezeit startet man dann eine Infusion mit einer Narkosesubstanz und verstirbt äußerst friedlich im Narkoseschlaf. Wie ich nun aus über 50 Suizidbegleitungen und über 70.000 Narkosen weiß, ist das maximal leidfrei. Während ich anfangs grundsätzlich mit einem Ermittlungsverfahren, rechtsmedizinischen Untersuchungen und Vorladungen rechnen musste, kennen mittlerweile die meisten Ermittlungsbehörden das Vorgehen und wissen um die Legalität. Es macht Sinn, seine Meinung zum assistierten Suizid in die Patientenverfügung hereinzuschreiben. Man kann das zwar nicht „vorausverfügen“, man kann damit aber ein Kriterium der Freiverantwortlichkeit – die Nachhaltigkeit – klarstellen.
Deutschland ist also eigentlich sehr fortschrittlich, nur bei der Umsetzung der Rechtslage sind wir etwas trödelig. Was müsste sich hier Ihrer Meinung nach verändern?
Die gruseligen geldlichen Fehlanreize für Maximaltherapie müssen nicht nur verboten werden (so ist es schon), sondern das Verbot muss auch kontrolliert und durchgesetzt werden (so ist es nicht). Handlungen gegen den Patientenwillen müssen – wie es bereits lange Gesetz ist– bestraft werden: Es handelt sich um Körperverletzungsdelikte. Palliativmedizin– die oft einen Gegenpol für diese Maximalmedizin darstellt und den Patientenwillen im Fokus hat – muss frühzeitig hinzukommen, dann lebt man übrigens oft sogar länger und besser. Und die Ärzteschaft muss ihre traditionelle Verteufelung des assistierten Suizids aufgeben – es ist eben in Deutschland ein Grundrecht. Und seriös braucht es dazu eben Ärzte.