Peter Jamin beschäftigt sich seit Jahren mit Vermisstenfällen. Im Interview spricht der 73-Jährige darüber, was ihn bei seiner ehrenamtlichen Arbeit besonders berührt hat, über die hohen Hürden einer polizeilichen Registrierung und darüber, was sich in unserer Gesellschaft ändern müsste.
Herr Jamin, Sie befassen sich seit mehr als 30 Jahren mit der Thematik „Vermisst“, gelten als Vermissten-Experte und gehören dem „Experts Circle“ von „Focus Online“ an. Woher kommt Ihr Interesse?
Ende der 80er-Jahre bin ich auf eine Zeitungsannonce über Vermisste gestoßen, seinerzeit wurden 70.000 Menschen in der alten Bundesrepublik vermisst. Je länger ich darüber nachdachte, desto spannender fand ich die Thematik. Ich machte dem WDR den Vorschlag eine Fernsehdokumentation über vermisste Menschen zu machen. Für die Recherchen zu dieser Dokumentation startete ich zusammen mit dem WDR einen Aufruf. Vermisste sollten sich bei mir melden und mir ihre Geschichte erzählen. Das war zugegebenermaßen gewagt, aber ich dachte, es könnte funktionieren. Es meldete sich allerdings nicht ein einziger Vermisster, jedoch hundert Angehörige von Vermissten bei mir. Also machte ich die Fernsehdokumentation über diese Angehörigen von Vermissten und schrieb darüber einen Artikel für „Die Zeit“. Das Ergebnis war ein enormes Medienecho, es kamen Anfragen von Sat 1 und RTL, die mit mir Fernsehreihen machen wollten. Ich konnte den WDR überzeugen, dass er mit mir Anfang der 90er die Reihe „WDR Vermisst“ startete. Wenn man so will, war das die Geburtsstunde der Vermissten-Sendungen im deutschen Fernsehen.
Sie haben lange Zeit als Redakteur bei der „WAZ“ gearbeitet. Polizeimeldungen von Vermissten gehörten in der Zeit zu Ihrem Tagesgeschäft. Was haben diese Vermisstenmeldungen in Ihnen ausgelöst?
Nachdem ich mein Volontariat in den 70er-Jahren absolviert hatte, fing ich an als Polizei- und Sozialreporter bei der „WAZ“ zu arbeiten. Da gab es zwar immer wieder Vermisstenmeldungen, doch mit denen habe ich mich nicht intensiv auseinandergesetzt. Ich habe das damals nicht so richtig wahrgenommen. Es werden ja noch lange nicht – auch heute nicht – alle Vermisstenmeldungen an die Medien weitergegeben, sondern das sind die außergewöhnlichen Fälle. Die meisten Vermisstenmeldungen stecken unbeachtet in den Computern der Polizei. Als ich auf die Vermisst-Idee kam, war ich schon einige Jahre lang freier Autor und Schriftsteller und machte unter anderem für den WDR Fernsehdokumentationen. Nachdem die Vermisst-Reihe nach einigen Jahren beim WDR eingestellt worden war, stellte sich mir die Frage, ob ich auch das Vermissten-Telefon, das ich extra für die Sendung „WDR Vermisst“ eingerichtet hatte, abschalten und mich anderen Themen widmen sollte. Da ich gesehen hatte, dass es einen großen Bedarf an Fragen von Angehörigen von Vermissten gab, ließ ich die Rufnummer geschaltet. Daraus entwickelte sich meine ehrenamtliche Beratungstätigkeit.
Können Sie uns von einem Fall erzählen, der Sie besonders bewegt und bis heute nicht losgelassen hat?
In einem Fall habe ich mit den Eltern einer jungen Studentin, die noch zu Hause wohnte, gesprochen. Als die Eltern aus dem Urlaub zurückkehrten, war die Tochter verschwunden. Die Eltern fanden eine unaufgeräumte Wohnung vor. Für sie sah es so aus als müsste etwas passiert sein. Im Interview mit der Mutter der jungen Frau, saß ich in deren Zimmer, und sie sagte mir, dass sie langsam darüber nachdenken würde es aufzugeben und umzuräumen. Zu diesem Zeitpunkt waren fast zwei Jahre nach dem Verschwinden der Frau vergangen. Dann sagte sie einen Satz, den ich nie vergessen werde. „Wenn man mir morgen früh mein Kind als Leiche vor die Tür legen würde, wäre ich dankbar dafür.“ Die Eltern waren verzweifelt und suchten nach der langen Zeit der Ungewissheit eine Möglichkeit abzuschließen. Außerdem sagte die Mutter, dass sie nirgendwo in der Umgebung spazieren gehen könnte, ohne hinter Bäume und Gebüsche zu schauen, ob dort nicht möglicherweise die Überreste ihrer Tochter lägen. Für mich waren das sehr eindrucksvolle Schilderungen, die deutlich machen, was Angehörige und vor allem Eltern empfinden, wenn ihr Kind mit einem Mal verschwunden ist.
Wie sind die Eltern auf Sie aufmerksam geworden?
Sie hatten den Aufruf von mir und dem WDR gelesen und sich daraufhin gemeldet.
Das heißt, Sie beraten schon seit Jahrzehnten ehrenamtlich Angehörige von vermissten Menschen?
Ja, natürlich. Zunächst wollten die Angehörigen von mir wissen, was sie machen können und was andere Betroffene mir erzählt haben. Das war nicht sehr professionell, sondern das waren zusammengetragene Ratschläge, die sich aus Gesprächen mit Betroffenen ergeben haben. Meine Beratung habe ich aber mit den Jahren perfektioniert. 2015 ist mein „Vermisst-Ratgeber“ erschienen, in dem ich alle wichtigen Informationen und Hilfestellungen für die Angehörigen von Vermissten zusammengetragen habe.
Wie arbeiten Sie mit Menschen, die einen Angehörigen haben, der vermisst wird beziehungsweise wurde?
Ich mache grundsätzlich nur – bis auf wenige Ausnahmen – telefonische Beratung. Das heißt ich spreche mit den Angehörigen den Fall durch, wie die Umstände waren und gebe Tipps, was sie eventuell tun können. In manchen Fällen, wenn die Polizei keine Registrierung vornimmt, biete ich den Angehörigen an, dass ich mich mit der Polizei in Verbindung setze. Aber das passiert nicht sehr oft.
Was heißt das, wenn der Vermisstenfall nicht registriert wird?
Die Polizei kann eigentlich nur in den Fällen eine Vermissten-Registrierung aufnehmen, wenn der Verdacht auf eine Gewalttat oder auf Lebensgefahr besteht oder wenn es sich um eine minderjährige Person handelt. Ansonsten darf – und das ist auch gut so – jeder Bundesbürger tun und lassen, was er will. Vorausgesetzt, es gibt keine Hinweise auf Suizidgedanken, auf ein Gewaltverbrechen und der Betroffene ist nicht auf die Einnahme von Medikamenten angewiesen. Ich erzähle Ihnen jetzt einen Fall, der dazu gut passt.
Ja, gern.
Mich rief einmal eine Mutter im Alter zwischen 80 und 90 Jahren an, die mir erzählte, dass ihr Sohn seit über 30 Jahren schon verschwunden sei. Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie und ihr Mann damals bei der Polizei gewesen seien, doch die habe sie mit dem Verweis auf das Alter des erwachsenen Sohnes abgewiesen. Der vermisste Mann war damals nicht registriert worden. Ich ermutigte die Eltern, noch einmal zur Polizei zu gehen und zu erzählen, dass ihr Sohn seit Jahrzehnten verschwunden sei. Vor allen Dingen sollten sie darauf bestehen, dass eine Registrierung vorgenommen wird. Ein paar Monate später rief mich die Mutter erneut an. Sie bedankte sich bei mir für den Rat und erzählte, dass sie und ihr Mann bei der Polizei waren und dass man dort die Vermisstenanzeige aufgenommen und ihren Sohn registriert habe. Nach mehreren Monaten meldete sich die Polizei bei den Eltern und übermittelte ihnen die Nachricht vom Tod ihres Sohnes. Der Mann befinde sich in Portugal, wo er als nicht-identifizierbare Leiche in einem Kühlhaus aufbewahrt worden sei.
Was wollen die Angehörigen von Vermissten in aller Regel von Ihnen wissen?
Es geht um Rat und Hilfestellung. Das Problem ist: Wir überlassen in Deutschland die gesamte Beratung und alles, was damit zusammenhängt, allein der Polizei. Es gibt bisher in ganz Deutschland nur eine kommunale Beratungsstelle – und zwar im niedersächsischen Emden. Vor einigen Jahren ist diese entstanden, nachdem ich auf Einladung der Vermisst-Initiative „VerNie“ – Vermisst in Niedersachsen aus meinem Buch „Ohne jede Spur“ gelesen habe. Bei dieser Lesung war auch der Oberbürgermeister von Emden anwesend. Nach der Lesung kam er auf mich zu und sagte, dass er plane, in seiner Stadt eine Beratungsstelle für Angehörige von Vermissten einzurichten. Vor zwei Jahren hat die Kontaktstelle für Angehörige von vermissten Personen ihre Arbeit aufgenommen. Ich fordere seit mehr als 25 Jahren, dass es in jeder Kommune eine solche Beratungsstelle geben muss. Das heißt: Die Familienmitglieder von heute – bei mehr als 120.000 jährlich bei der Polizei registrierten Vermissten sind dies schätzungsweise 500.000 Menschen – werden in Deutschland vollkommen allein gelassen. Problematisch ist, dass sich kein Politiker dafür interessiert, keine Bundesinnenministerin, keine Innen- oder Familienminister der Länder und auch keine Kommunalpolitiker.
Welche Menschen kontaktieren Sie?
In meiner ehrenamtlichen Arbeit habe ich mehr als 2.000 Beratungen und Gespräche mit Angehörigen von Vermissten geführt. Diese Gespräche liefern letztlich den Stoff für meine Bücher, Podcasts und Artikel. Um ihre Frage zu beantworten: Das sind Menschen aus allen Berufs- und Altersgruppen. Das ist beispielsweise die Mutter eines vermissten Kindes, die Rentnerin, deren dementer Lebenspartner verschwunden ist oder ein Student, der mich um Rat bat wegen der verschwundenen Mutter seiner Freundin. Das Problem lässt sich nicht auf ein Milieu eingrenzen, und hinter dem Verschwinden stehen alle Probleme in extremer Form, die wir in unserer Gesellschaft kennen. Die Menschen leiden zum Beispiel unter Mobbing am Arbeitsplatz, Prüfungsangst im Studium, finanziellen Schwierigkeiten, Drogenabhängigkeit oder Gewalt in der Familie. Aus Abenteuerlust verlassen selten Menschen die Wohnung, „um mal eben Zigaretten zu kaufen“.
Was sollte sich in unserer Gesellschaft im Umgang mit und der Wahrnehmung von Angehörigen von Vermissten ändern?
Erstens brauchen wir eine nationale Vermisst-Website, auf der es unter anderem Foren zum Erfahrungsaustausch von Angehörigen gibt. Auch müsste die Suche nach Vermissten gebündelt werden, und Experten müssten Tipps geben können. Mein Vermisst-Ratgeber sollte auf dieser Onlineplattform allen Betroffenen zugänglich sein. Die Betreiberin einer solchen Website sollte eine Bundesbehörde sein, damit nicht Tür und Tor geöffnet werden für unseriöse Akteure, wie etwa Vereine, die nur Spendengelder sammeln wollen, und Privatdetektive, die Jobs suchen. In allen deutschen Kommunen brauchen wir einen Vermisst-Berater oder einen Experten in der Sozialbehörde. Erschwerend kommt hinzu, dass die Forschung auf diesem Gebiet gegen null geht. Das heißt die Psychotherapie legt sich notgedrungen etwas zurecht, um den Menschen zu helfen. Darüber hinaus sollten in allen Polizeidienststellen Flyer ausliegen, in denen auf lokale Beratungsstellen und Hilfsmöglichkeiten für Spezialthemen für die Angehörigen von Vermissten hingewiesen wird. Viele Polizeibeamte sind sehr engagiert und helfen den Angehörigen soweit es ihnen möglich ist. Aber professionell organisiert ist das nicht: Die Polizeiführungen hierzulande ignorieren das Problem. Eigentlich müssten sie die Familienminister der Länder und Kommunalpolitiker darauf hinweisen, dass es aufseiten der Angehörigen einen großen Beratungsbedarf gibt. Die Gesellschaft und vor allem Politik und Behörden schauen aber komplett weg, und die Medien richten ihre Aufmerksamkeit meist nur auf die spektakulären Fälle und nicht auf die Hintergründe der Vermisst-Problematik. Der investigative Journalismus in Deutschland hat das Vermisst-Thema leider noch nicht entdeckt und befasst sich leider lieber mit politischer Korruption als mit extremen sozialen Defiziten im Land.